Ludwig Anzengruber: Hand und Herz
Wer ausgerechnet auf das Trauerspiel in vier Akten „Hand und Herz“ als Gegenstand eines kleinen Beitrags zum 125. Todestag von Ludwig Anzengruber verfällt, ist selbst schuld, wenn er nicht aus dem vollen einer insgesamt wenig üppigen Sekundärliteratur schöpfen kann. „Das vierte Gebot“ wäre verglichen damit beinahe ein unerschöpflicher Steinbruch, selbst Schülerarbeiten dazu stehen im halben Dutzend im Netz in all ihrer Schülerhaftigkeit. „Der Meineidbauer“, „Der Pfarrer von Kirchfeld“, sogar noch die Bauernkomödie mit Gesang in drei Akten „Der Gwissenswurm“, zu allem findet sich mehr, obwohl ihnen der von Anzengruber relativ frei erfundene Dialekt eignet. „Hand und Herz“ aber, weil ursprünglich für das Wiener Burgtheater geschrieben, welches sich Dialektstücken prinzipiell verschloss, präsentiert sich dialektfrei, was nicht zwingend mit hochdeutsch gleichzusetzen ist, immerhin aber keines Anmerkungsapparates bedarf. Sigmund Freud hat 1908 in einer kleinen Arbeit mit dem Titel „Der Dichter und das Phantasieren“ Anzengruber schlicht einen „unserer besten Dichter“ genannt und ihn mit einem Satz zitiert, den eine Fußnote zu einem seiner Lieblingszitate erklärt, weil mehrfach verwendet. Auch dieses Zitat stammt aber nicht aus „Hand und Herz“, sondern aus dem dritten Akt von „Die Kreuzelschreiber“.
Wenn ich ein Lieblingszitat aus dem Trauerspiel zu wählen hätte, ginge ich bis ans Ende des vierten Aktes. Dort sagt Paul Weller, eben zum Mörder an Görg Friedner geworden, dem Verderber seiner Frau und Provokateur bis aufs Blut, ehe sein eigenes floss: „Laßt man, manchmal tröstet, daß es keinen Trost gibt.“ Weller wird sein Geschick annehmen, Barmherzigkeit will er nicht, wie er sagt, aber Gerechtigkeit: „Gott allein will ich Rede stehn, vor seinem Richterstuhl will ich ihn fragen: Was er damit gewollt hat, als er die Welt erschuf.“ Der Priester Augustin, zugegen in der vierten und letzten Szene des vierten Aktes, mahnt: „Oh, verhärtet Euch nicht!“ Aber die Mahnung verhallt. Weller setzt sich zu seinem Mordopfer auf einen Stuhl und spricht die letzten Wortes des Spiels: „Laßt die Toten allein!“ Er zählt sich selbst da schon zu den Toten, sein Leben ist beendet, selbst wenn es weiter gehen würde. Was ist geschehen in diesem Trauerspiel? Das etliche der Autoren, die über Anzengruber schreiben, nicht einmal einer Erwähnung für wert halten, während es in der Ausgabe „Anzengrubers Werke in zwei Bänden“ der DDR - „Bibliothek Deutscher Klassiker“ immerhin eines von nur vier ausgewählten Dramen wurde.
Für Walter Dietze war „Hand und Herz“ das Stück, „in dem der Protest gegen die Unlöslichkeit der katholischen Ehe auf dramatische Ebene gehoben wird“. Er verkoppelte es so mit der Biographie Anzengrubers, der selbst eine sehr unglückliche Ehe erlebte. Dietze zitiert Anton Bettelheim (1851 – 1930) mit dessen Aussage, Anzengruber habe „an dieses Werk vielleicht die sauerste Arbeit seines Lebens gewendet“ und fügt seine eigene Sicht auf das Trauerspiel hinzu: „... ohne sich aber auf die Höhe seiner ersten drei Bauerndramen auch nur im entferntesten emporschwingen zu können.“ Das muss man nicht so sehen, schon gar nicht den behaupteten Abstand zu den ersten Dramen. Das wird schon deutlich, wenn man bei Dietze weiter liest: „Dabei geht es um durchaus ernste Probleme; im Kern um die klassengebundene, in starren Normen erstickte bürgerliche Gesetzgebung, die oft aus Böse Gut und aus Recht Unrecht macht. Aber das Künstliche der an diesem roten Faden abgewickelten Ehetragödie, ihr schicksalhaft-harter Ausgang und der schonungslos vorgetragene, alle Philister entsetzende Kampf gegen Sitte und Herkommen lassen trotz vieler technischer Vorzüge der dramatischen Gestaltung keine ergreifende – erschütternde oder belustigende – Wirkung aufkommen...“. Das ist schlicht eine unbewiesene Behauptung.
Es sei kurz darauf verwiesen, dass der juristische Ausschluss zweier gleichzeitiger Ehen, die eine Person eingegangen ist, das Bigamie-Verbot, mit Normenstarrheit und erstickender Bürgerlichkeit wenig zu tun hat. Selbst im Vielvölkerstaat Sowjetunion mit Bevölkerungen, die in sehr unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen wurzelten, war „Vielweiberei“ nicht erlaubt und ist heute höchst selten in der Welt ein von Gesetz und Sitte sanktionierter Zustand. Mochte der Hinweis auf die bürgerliche Gesetzgebung brav gemeinte Werbung eines DDR-Professors für bessere Zeiten nach dem Kapitalismus sein, vor allem drückte er sich einfach vor der Konkretheit der Situation im Trauerspiel. Und griff wohl auch mit der behaupteten Künstlichkeit der Tragödie daneben. Denn künstlich ist ja nicht, was selten, sehr selten vorkommt, es widerspricht allenfalls der Forderung einer marxistischen Literaturtheorie nach dem „Typischen“. Was aber ging einen Österreicher des neunzehnten Jahrhunderts eine Theorie an, die zu seinen Lebzeiten noch nicht einmal nennenswert ausformuliert war, geschweige denn irgendwelche Ansprüche auf Verbindlichkeit machen konnte?
Ludwig Anzengruber hat die Handlung seines Trauerspiels in die Schweiz verlegt, in der der Katholizismus anders als in Österreich oder im Süden Deutschlands keineswegs die absolut herrschende Religion war. Das ist einigermaßen seltsam aus genau diesem Grund, die Anklage hat dort weniger Ursache als in alternativlosen Örtlichkeiten. Die Orte, die namentlich eine Rolle spielen, sind nicht frei erfunden, man kann sie auf Schweizkarten leicht auffinden, Lungern zunächst am wunderherrlichen türkisfarbenen Lungerer See (der im Spiel freilich nicht erwähnt wird), dann Handeck. Dazu würden die heutigen Stichworte Standseilbahn, Haslital, Grimsel passen, sind fürs Spiel aber unerheblich. Das Ehepaar Weller war in Erbangelegenheiten unterwegs und will zurück ins Wallis, die unfreiwillige Pause mit für die gesamte Handlung verhängnisvollen Folgen wird erzwungen, weil Pferde und Wagen eines Schmiedes bedürfen, ehe es weiter gehen kann. Am Ort trifft bald auch Görg Friedner ein, eine vielschichtige Figur, die nur scheinbar und dem oberflächlichsten Blick das charakterlich Böse, das moralisch Verdorbene allein verkörpert. Liest/hört man genau, was er im Dialog mit Weller sagt, dann ist da vieles, dem man die Zustimmung kaum versagen kann.
Genau das aber ist einem bestimmten Rezeptionsverhalten unübersteigbare Hürde: „Böse“ dürfen nichts „Gutes“, sprich „Wahres“ sagen, noch Hannah Arendt, die eben wieder wegen der Verfilmung mit Barbara Sukowa in vieler Munde ist, ist dieser seltsamen Logik aufgesessen, wenn sie an Eichmann die „Banalität des Bösen“ mit Erstaunen registriert. Görg Friedner jedenfalls hat einst die Katharina verführt und da zum Verführen immer zwei gehören, falls Verführung keine Tarnbezeichnung für Vergewaltigung sein soll, sind auch hier die Gewichte durchaus verteilt. Görg umschreibt seine Motive so: „Habe ich mich doch auch um manche Gans nur bemüht, weil sie auf ihre weißen Federn so stolz war.“ Und Katharine: „Oh, hätte ich dich nie gekannt! Nie als einfältiges Ding meinen Stolz darein gesetzt, dich zu haben, den alle Weiber als den Tanzbodenkönig lobten und den keine fesseln konnte.“ Ist das gestrig? Oder passt es nicht genau so zusammen, dass man meinen darf, Anzengruber habe hübsche Fußangeln ausgelegt, um allzu schnellen Moralaposteln heilsame Stürze zu organisieren?
Natürlich verhält sich Görg in hohem Maße fies, wenn er Katharines Vermögen verprasst und sich dann aus dem Staube macht. Natürlich verhält sich Katharine ziemlich normal, wenn sie der Schande wegen die Gegend verlässt und möglichst fern einen möglichst sicheren Unterschlupf sucht. Der hausierende Händler Moses sagt es zeitig im Stück und gibt damit eine der auffallend häufigen Vorausdeutungen, die sich als solche erst von hinten her erschließen: „Im bergigen Schweizerland verkriecht sich leicht eines wohin in ein stilles Tal, wo niemand um seine Not weiß als der liebe Gott.“ Was zunächst wie eine lokalpatriotisch-alberne Animosität von Kanton zu Kanton aussieht, wenn es um das Berner Oberland und das Wallis geht, erwiest sich mit dieser dramaturgischen Technik eben als vorgreifende Erhellung von Motiven. Die Abneigung, die Katharine empfindet, ist eben die Abneigung gegen den Ort ihrer Schande und den Ort der Gefahr, ihr Geheimnis könnte entdeckt werden. Görg ist nach seiner Flucht ganz auf die schiefe Bahn geraten, hat in Deutschland im Zuchthaus gesessen und will nun zurück, weil er vermutlich aus Deutschland ausgewiesen wurde, auf alle Fälle fühlt er sich von dort vertrieben.
Da seine Ehe nie geschieden wurde, ist er vor Gott und dem Gesetz der rechtmäßige Ehemann von Katharine mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Katharine aber ist in Dienst gegangen, hat die Werbung ihres Dienstherrn erhört und diesen geheiratet. Rein juristisch und ohne alle Moral dabei hat sie damit mindestens zwei Straftatbestände erfüllt und dann ist da auch noch Gott, vertreten durch den Priester Augustin, dem sie sich offenbart, als ihre Situation immer auswegloser zu werden droht. Und der rät ihr, was einzig aus seiner Sicht ratsam erscheint: den zweiten Gatten zu verlassen, so oder so den Anspruch des ersten anzuerkennen. Katharine fragt in ihrer Verzweiflung: „Ist denn nicht mit dem Manne, der mich bis zu Haß und Abscheu treibt, das Sakrament entheiligt – gilt Euch die Ehe mit dem Mann des Herzens nichts?“ Darauf kann der Priester nicht in ihrem Sinne antworten, hier wäre nur das Gebot selbst in Frage zu stellen (wie es ja mit einem anderen „Das vierte Gebot“ von Anzengruber auch tut). Augustin muss die Trennung fordern und will auf sein Gewissen nur nehmen, dass er Katharine nicht erneut dem Görg ausliefert. Sie soll lediglich das Land verlassen.
Görg Friedner ist sicher die schwierigste und deshalb dankbarste Rolle des Trauerspiels, das nach einer unglücklichen Premiere am Silvesterabend 1874 nur noch zwei weitere Aufführungen erlebte. Er ist ein Zyniker, ein Frauenfeind, dem die Frauenherzen dennoch zugeflogen sind, er täuscht sich über sich selbst, überschätzt sich und ist andererseits wieder äußerst prägnant, wenn er seine Zeit sieht: „.... einen Pfifferling für unsere ganze Moral, solang an andern ein guter Spaß ist, was Schimpf und Schande wird, sobald es uns unters Dach rückt!“ Für Katharine gibt es nur maßlose Enttäuschung: „Ich wußte nicht, daß es Männer gäbe, die die Weiber erst verderben, um sie hinterher schlecht zu finden.“ Diesen Typus hat die spätere österreichische Literatur, auch mit allen tragischen Konsequenzen, immer wieder einmal auf die Bühne gebracht. Anzengruber wäre ein Vorläufer, mindestens ein Vorläufer. Auch bei ihm geht es tragisch aus: blutig tragisch. Paul Weller erschlägt den Konkurrenten, was rein juristisch zu einer Legitimation seiner Ehe führen würde, ahnt aber nicht, dass Katharine in den Bergen mit Hans, einem übereifrigen Knecht, der ihr helfen will, in die Tiefe stürzt. Es gibt noch einen klugen Ammann im Stück, sein Name: Senner. Und die Art, wie Görg seine Geschichte erzählt, die ließe heute wohl reihenweise Sozialarbeiterherzen höher schlagen: er weiß, wie man sich rechtfertigen muss, um als Täter wie ein Opfer zu wirken.