Franz Fühmann: Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen
Meinen Beitrag zu Franz Fühmanns 30. Todestag am 8. Juli 2014 beendete ich so: „Denn, leicht paradox formuliert, lässt sich sagen: Wer Franz Fühmann mögen will, muss Franz Fühmann auch in Kauf nehmen können. Ich werde das gelegentlich an „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ demonstrieren und verweise zwischenzeitlich auf meine drei Fühmann-Beiträge in der Rubrik BÜCHER, BÜCHER.“ Es ist erstaunlich, wieviel Zeit manchmal verstreichen muss, ehe aus einer Ankündigung Realität wird, der Band 10 aus der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“, Erstauflage im Kinderbuchverlag Berlin 1960, liegt seither unter meiner Schreibtischlampe im Sichtfeld jedes Arbeitstages. Ich muss ihn vorsichtig aufschlagen, denn der Buchblock ist locker vom häufigen Aufblättern, der untere Buchrücken ist bestoßen, wie ihn ein verkaufswilliger Antiquar beschreiben würde. An Verkäufe denke ich bei meinen Büchern selten bis nie.
Ich habe den Überblick nicht, wie oft Kinderbücher der eben zehn Jahre alten DDR in Kinderheimen handelten. Allein das Wort löst heute fast unvermeidlich gruselige Vorstellungen aus und der anfangs so triumphierende Westen musste längst lernen, dass es in seinen dortigen Heimen kaum besser, eher schlimmer war für Kinder und das gar nicht ausschließlich wegen sexueller Übergriffe oder wegen drakonischer Strafen als Erziehungsmittel. In einem spannenden Kinderbuch für Leser von acht Jahren wird man kaum zum Problematischen des Heimaufenthaltes geführt werden, bei Fühmann gibt es nicht einmal Aussagen, warum die Kinder dort sind. Ihr Heim ist ein gutes und ein schönes und ein echtes DDR-Heim. Die Handlung spielt, bei einem 1960 zuerst erschienenen Text erwartbar und deshalb natürlich nicht überraschend, zur Zeit offener Grenzen und diese offenen Grenzen spielen sogar eine wichtige Rolle, hinter ihnen hat das Böse ein Obdach.
Wirft man, nie ganz überflüssig, einen Blick in den Abriss zur Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur der DDR in den Jahren 1945 bis 1975, 1977 von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Friedel Wallesch als Band 25 der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“ des Verlags Volk und Wissen vorgelegt, dann stößt man leicht erstaunt auf eine rein summarische Erwähnung der frühen Kinderbücher Fühmanns, mehr als Beispiele dafür, dass es nach Pionierleistungen von Lilo Hardel (1914 bis 199) eine Weile dauerte, ehe weitere Bücher erschienen, die dem „Kinderleben der neuen Zeit“ gewidmet waren, sind sie nicht, Fühmann steht neben Edith Bergner, Karl Neumann, Benno Pludra, Fred Rodrian und erneut Lilo Hardel mit seinem „Vom Moritz, der kein Schmutzfink sein wollte“ und eben mit „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“. Die „Kleinen Trompeterbücher“ sollten zielgerichtet zu „Anteil- und Parteinahme“ führen, erfährt man.
Franz Fühmann hat sich nicht geziert, dieser Aufgabenstellung gerecht zu werden. Wer das Büchlein als hart das Penetrante streifende Vorführung einer beispielhaft guten Deutschen Volkspolizei liest, liegt nicht völlig falsch. Der fröhliche Schluss, in dem von der Patenschaft zwischen Polizei und Heim die Rede ist und dem Wunsch der Volkspolizei, die Besten der Pioniere aus dem Heim mögen zur Volkspolizei gehen, auch Mädchen, ist unverhüllte Werbung für den Beruf in Uniform. Alles, was an Weisheiten vorgetragen wird über das Tun der „Freunde und Helfer“, wie sie im Buch freilich nicht genannt werden, ist sehr vordergründig. So sagt der Hauptwachtmeister Löffelholz: „Dazu sind wir ja da, um den guten Menschen zu helfen und den bösen das Handwerk zu legen. Deshalb dürfen wir auch den stolzen Namen Volkspolizei führen.“ Und weiter: „Und wir von der Volkspolizei sind immer Pionier vom Dienst, jeden Tag, jede Stunde.“ Kinder sollen das schließlich leicht verstehen.
Zunächst aber zeigt Franz Fühmann, der immer auch ein Sprachakrobat, ein Sätze- und Wörter-Jongleur war, dass man ein Kinderbuch mit einem einzigen Satz beginnen kann, der mehr als eine ganze Druckseite umfasst. Ich könnte mir vorstellen, dass der Verlag da ein wenig schluckte. Trompeterbücher waren fürs Erstlesealter gedacht. Auch gibt es Wörter im Buch, die man nicht ohne weiteres gleich versteht, jedenfalls kann ich mich sogar erinnern, über bestimmte Wendungen gestolpert zu sein: Eierpampe zum Beispiel kannte ich nicht als Kind, ich wusste auch nicht, was ein Schwinger ist, den der kleine Lutz immer austeilen will, und was „Schwamm drüber!“ bedeutet, musste ich mir erklären lassen. So lernt man halt auch beim Lesen. Was ein Schwinger ist, habe ich später bis zur Brechgrenze erfahren, freilich in einem völlig anderen Sinne. Gelegentlich sehe ich in Folie eingeschweißte Bücher von ihm aus dem Jahr 2003: Schwinger sind keine Bestseller-Autoren.
Neben Franz Fühmann leistete sich auch die Illustratorin Inge Friebel kleine Unstimmigkeiten, die der Verlag großzügig übersah: auf Seite 13 sieht man die beiden Polizisten bei der Spurensicherung unter dem Baum, von dem das wunderbunte Vögelchen verschwand und vermutlich gestohlen wurde. Einer trägt Stiefel und Stiefelhose, der andere hat die Hose über den Schuhen, falls es nicht auch Stiefel sein sollen, das aber hätte die Anzugsordnung auch der sozialistischsten Polizei der Welt nie erlaubt. Einer gießt auf den Rasen das, was ich Eierpampe genannt fand und von dem ausgerechnet Küchenfrau Tante Erna ganz genau alles weiß. Der böse Vögelchen-Dieb hat glücklicherweise phantastisch deutliche Spuren hinterlassen, die den Kreis der Verdächtigen in praktischer Eindeutigkeit einengen. Dennoch erlebt der kindliche Leser, dass die Berücksichtigung nur einer, der weißen Faserspur, peinlich in die Irre führen kann, man sieht Bäcker als Diebe.
Zu den kleinen Unwahrscheinlichkeiten, die der Autor sich leistet, gehört die Größe des Rummels im Verhältnis zur kleinen Stadt, auf deren Marktplatz er sich finden soll. Was beschrieben wird, erinnert eher an Plänterwald oder Prater, Kleinstadtrummel mit gleich mehreren Zauberern sollten als wenig gute Erfindung angesehen werden, Riesenräder, von denen aus man augenscheinliche Tätersuche aus der Luft betreiben kann, passen ebenfalls eher nicht. Zur spannenden Geschichte aber dennoch. Denn der böse Dieb, der passend auch mit einer bösen Frau liiert ist, deren Bosheit sich darin äußert, dass sie Pionieren das Singen von Pionierliedern am liebsten verbieten möchte, schnappt sich den vorwitzigen Lutz, der fünf Jahre alt ist und, nächste Ungereimtheit, dennoch als Aufbauhelfer am Zelt ausgebeutet werden soll. Jenseits der schon genannten Grenzen. „Heute noch fahren wir in ein anderes Land, wo die Polizei nicht nach so einem dummen Vogel fragt, mein vorwitziges Bürschlein!“ Weshalb die Polizei dort auch nicht den Namen Volkspolizei trägt.
Der böse Zauberer wird natürlich geschnappt, seine böse Partnerin kann den zum Paket verschnürten Lutz, der immer Schwinger austeilen wollte, nicht einfach abtransportieren wie geplant. Lutz verpflichtet sich nach seiner Befreiung, nie wieder etwas aus Eigennutz zu tun und fragt sofort den Polizisten: „Kannst du denn auch zaubern, Onkel Volkspolizei?“ Und er bekommt eine sonnenklare Antwort, die wir fast identisch aus einem Film kennen, in dem Gert Fröbe nach Dienstanweisung fliegt, obwohl er vorher noch nie in einem Flugzeug saß: „Ein Volkspolizist muß alles können“, antwortete Hauptwachtmeister Wiesel.“ Auch ein DDR-Volkspolizist war ein deutscher Polizist. Geschlagen werden durfte in seinem Land aber nicht: „Gefangene dürfen nicht geschlagen werden.“ Was Lutz sich sofort zu Herzen nimmt. Hauptwachtmeister Wiesel glaubt sogar an die Erziehbarkeit des bösen Zauberers Sassafraß:„Wir sind ein gutes Land, da ist das nicht unmöglich.“ Das überzeugt dann auch die kleine Sonja, die es zunächst nicht glauben wollte.
Wer Franz Fühmann mögen will, muss Franz Fühmann auch in Kauf nehmen können. Man könnte in seiner Biographie die Gründe aufsuchen, die ihn eine solche und keine andere Geschichte schreiben ließen. Er war gerade mit einer Arbeit über die Polizei befasst, Hans Richter erwähnt es in seiner Fühmann-Biographie knapp, ohne das Kinderbuch einer weiteren Betrachtung zu würdigen. Es folgte als Fühmanns drittes Kinderbuch „Das lustige Tier-ABC“ und schon früh ging es an den Gegenstand Shakespeare, zu dem ein Film gedreht werden sollte, später wurden die „Shakespeare-Märchen“ daraus. Im DEFA-Film von 1964 spielte übrigens Eberhard Kube den Zauberer, Ernst-Georg Schwill und Willi Schrade waren die beiden Hauptwachtmeister. Der Nachbarort von Käsebrot heißt auch im Film Butterberg und Hans-Peter-Minetti war Polizei-Major. Denn bei Delikten wie Vogelraub aus Gewinnsucht durften nicht nur einfache Wachtmeister Gutes tun.