Leo Trotzki: Proletarische Kultur und proletarische Kunst
Dass Politiker unterschiedliche bis gegensätzliche Vorstellungen haben und diese ihre Vorstellungen, soweit sie noch selbst denken und keine Vordenker gegen Geld beschäftigen, mit eigenen Theorien untermauern, ist, gleich welcher politischen Richtung die Politiker jeweils anhängen, nie ein justiziabler Straftatbestand gewesen. Nur die organisierte kommunistische Weltbewegung hat das de facto dazu erhoben. Die Liste der Opfer, denn auf das Andersdenken stand über gar nicht wenige Jahre die Todesstrafe, notfalls per Attentat vollzogen, wenn man des Verurteilten nicht für einen Schauprozess habhaft werden konnte, ist lang. Der vielleicht prominenteste, auf alle Fälle mit schwer messbaren Langzeitwirkungen behaftete Name darauf lautet Leo Trotzki, der eigentlich Lew Dawidowitsch Bronstein hieß und so deshalb zusätzlich noch ins antisemitische Beuteschema seines bösartigsten Widersachers Josef Wissarionowitsch Dshugashwili, genannt Stalin, passte. Heute vor siebzig Jahren starb Trotzki in Mexiko an den Folgen der Eispickel-Attacke des Mörders Jacson-Mercader am Vortag.
Bis heute ist es, bei halbwegs unbefangener Betrachtung und nicht unterdrückter Humanitätsduselei (Lieblingsvokabel aller Überzeugungs-Mörder) nur schwer vorstellbar, wie ein derart fest und tief sitzendes Feindbild gegen einen einzelnen Menschen erzeugt werden konnte, dass sich sogar sonst durchaus ehrenwerte und schätzenswerte Menschen zu Mordgesinnungen und Mordgelüsten hinreißen ließen. Erschrocken und erschüttert las ich am Ende der hier in Rede stehenden Broschur unter den Lebensdaten Trotzkis für 1937: „Gorki, Scholochow, Ehrenburg, Dreiser, Feuchtwanger, Barbusse und Aragon verlangen seinen Tod.“ Herausgeber des Heftes VII der „Schriften zur Kunsttheorie“ wie auch der anderen in der Reihe des Berliner Alexander Verlages war Hein Stünke (1913 – 1994). Er setzte offenbar sowohl auf das Vertrauen seiner Leser als auch auf deren Großzügigkeit. Gorki lebte 1937 bereits nicht mehr, konnte also kaum etwas gefordert haben. Und wenn das Todesdatum Trotzkis, wie oben auf der Seite 49 zu lesen, der 20. August war, wieso steht am unteren Ende der Seite das zutreffende Datum des Attentats (20. August) mit der Erklärung, dass Trotzki „am Tage darauf“ starb? Wissenschaftliche Seriosität sieht anders aus. So fehlen auch jegliche Quellenangaben zur Herkunft der gedruckten Texte Trotzkis, nur die Übersetzerin wird genannt, es ist Frida Rubiner und das ist wiederum höchst interessant.
Denn Frida Rubiner (28. April 1879 bis 22. Januar 1952) war nicht nur bis zu dessen frühem Tod 1920 die Ehefrau Ludwig Rubiners, sie war unbeschadet Überlebende des Exils in der Sowjetunion und wurde nach ihrer Rückkehr Dozentin an der SED-Parteihochschule „Karl Marx“ in Kleinmachnow. Als der parteieigene Dietz Verlag 1987, also schon in Gorbatschow-Zeiten, einen schmalen Sammelband mit Schriften Frida Rubiners edierte, Herausgeberin Helga W. Schwarz, da durfte der geneigte Leser im Vorwort der Herausgeberin (Seite 7) einen merkwürdigen Satz lesen: „Die wenigen in der Textauswahl vorgenommenen Streichungen tilgten nur heute weitgehend unverständliche oder historisch überholte Formulierungen.“ Für eine Publikation mit auch nur ansatzweise wissenschaftlichem Anspruch – und für den spricht ja wohl die Nennung der beteiligten Institute und Bibliotheken – ist ein solcher Satz ein Offenbarungseid. Da auf der letzten Seite des Vorwortes (Seite 27) ein sicher in voller Absicht gewähltes Zitat dem gelernten DDR-Leser eine ganz bestimmte Lesart nahelegt, könnte man diesem Offenbarungseid mit gutem Willen den Charakter einer Selbstanzeige unterstellen. Das Zitat lautet: „Wir müssen lernen, die Sowjetunion zu verstehen und müssen alles tun, um für alle Zeiten in der Sowjetunion einen Bundesgenossen zu gewinnen.“
Wer die rituellen Dauerbeschwörungen der deutsch-sowjetischen Freundschaft, die rituellen Dauerkniefälle vor jeder Äußerung der jeweiligen sowjetischen Führung, die verordneten Kritikverbote an sowjetischer wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Literatur auf dem Felde des Marxismus-Leninismus aus eigenem Erleben kennt, der konnte in der Tat 1987 hellhörig werden angesichts eines solchen Zitates. Begann sich die Honecker-Administration doch plötzlich auf wundersame Weise aus dem mit kräftigem eigenen Zutun scheinbar dauerhaft errichteten „Gehäuse der Hörigkeit“ zu lösen. Dass Frida Rubiner, um zur Sache selbst zurückzukehren, all ihre Sowjet-Erlebnisse, all ihre Sowjetartikel aus einfach rein zeitlichen Gründen nur aus der Stalin-Zeit hatte und haben konnte, ist in dem Sammelband aktiv aus dem Blickfeld geschoben. Es fehlt sicherheitshalber ein Personenregister, das alle Peinlichkeiten auf einen Blick offenbart hätte und die außerordentlich lange Liste mit Rubiner-Publikationen klammert, falls ich nichts überlesen habe, den Namen Stalins vollständig aus und ebenso, das überrascht nun gar nicht mehr, den Namen Trotzkis. Weitgehend unverständliche Passagen sind, wie der Terminus zwanglos offenbart, eben keine unverständlichen Passagen, ein Buch, das Fußnoten enthält, hätte leicht Abhilfe schaffen können. Warum aber „historisch überholte Formulierungen“ getilgt werden müssen, ist schlichtweg unbegründbar, ganze Klassiker-Ausgaben würden nur aus leeren Buchdeckeln oder Blindbänden bestehen, auch die von Marx, Engels, Lenin und selbst Trotzki.
Der gedungene Mörder Jaime Ramon Mercader del Rio (7. Februar 1913 bis 18. Oktober 1978) verbüßte die gegen ihn verhängte Strafe von 20 Jahren vollständig. Im Wikipedia-Eintrag kann nachgelesen werden, dass ihm Stalin bereits 1940 den Leninorden verlieh, am 31. Mai 1960, nach Ende der Haft, gab es zusätzlich noch den Titel „Held der Sowjetunion“, den im Lauf der Jahre 21 Personen erhielten, die nicht Bürger der Sowjetunion waren. Der hoch dekorierte Mörder starb in Havanna und soll laut SPIEGEL 27/1984 auch eine Zeit in der DDR gelebt haben. Als das Ministerium für Staatssicherheit der DDR 1977 ein Auge auf mich zu werfen begann, war der erste Beweggrund meine Freundschaft mit Sergio B., der im Ruf stand, einer trotzkistischen Strömung der nicaraguanischen Kommunistischen Partei anzugehören, wovon ich damals nicht die geringste Ahnung hatte. Die stalinistische Brachial-Verteufelung Trotzkis – und das ist wirklich ein Phänomen erster Klasse – lebte fast vollkommen unverändert weiter, auch als die unsäglichen Verbrechen Stalins nach dem 20. und dem 22. Parteitag der KPdSU nun wirklich nur ganz harten Ignoranten noch ein Geheimnis waren. Die Überlebenden der Emigration in der Sowjetunion, die unter Stalin nicht eine offenbar makellose Karriere hinlegen konnten wie Frida Rubiner, schwiegen lange Jahre und teilweise bis zum eigenen Tod, als hätten sie einem Krematoriumskommando angehört, was Stimmen versagen lässt.
Sieht man sich diejenigen gedruckten Geschichten der KPdSU an, die nach Stalins Tod erschienen, dann enthält noch die von 1971, die für meinen Kurs „Geschichte der KPdSU“ während meines Studiums in Berlin sogar zum Lehrbuch erklärt worden war, eine lückenlos gebaute Trotzki-Legende, die mit der tatsächlichen Geschichte nur höchst punktuell in Übereinstimmung zu bringen ist, sonst aber verschweigt, beschönigt, unerklärt lässt in einem Maße, die einem Lehrbuch gleich welchen Gegenstandes auch das bescheidenste wissenschaftliche Niveau aus sich selbst abspricht. Wir wurden gezwungen, an den Vorlesungen teilzunehmen, was sonst bei keinem anderen Fach der Fall war. Die Vorlesungen begannen morgens 7 Uhr und wurden über einen längeren Zeitraum von einer russischen Dozentin in russischer Sprache mit unsagbar hoher Stimme vorgetragen, wie man sie aus russischen Volkschören kannte. Hätte es zu den Vorlesungen nicht Seminare gegeben, die tatsächlich Kenntnisse vermittelten und nicht Parteiphrasen sangen, wäre dieser Kurs als Totalverlust zu buchen gewesen, was er aber schließlich keineswegs war. Ein Beispiel für die haarsträubenden Aussagen des „Lehrbuches“, die Zeit Herbst 1924 betreffend: „Das ZK der Partei und die Parteifunktionäre waren deshalb gezwungen, ihre schöpferische Aufbauarbeit zu unterbrechen …“. Man stelle sich das bildlich vor: Eine Partei mit Hunderttausenden von Mitgliedern, mit einem gigantischen Apparat, soll sich wegen eines einzelnen Mannes, der zudem zu diesem Zeitpunkt noch für fast drei Jahre Mitglied des Zentralkomitees und Volkskommissar für Krieg und Marine war, selbst lahm gelegt haben! Für wie dämlich müssen die unfassbar arroganten Verfasser solchen Blödsinns ihre potentiellen Leser, vor allem also die eigenen Partei-Mitglieder gehalten haben? Nichts mit Weisheit der Parteimasse, nur Glaube an deren Unmündigkeit.
Eine solche unsägliche Überhöhung Trotzkis als das Böse schlechthin, als eine Art von kommunistischem Anti-Christ in Personalunion mit sämtlichen Teufeln der Religionsgeschichte, ist natürlich nur denkbar auf der Basis einer tief verinnerlichten Praxis von Personenkult. Dem positiven Personenkult um Stalin entspricht komplementär, wenn man so sagen darf, ein negativer Personenkult um Trotzki mit der Besonderheit, dass der Fall des einen eben nicht zugleich den Fall des anderen bedeutete. Die genannten KPdSU-Geschichten versammeln eine mehr oder minder geschlossene Behauptungskette zu den angeblichen theoretischen Fehlleistungen Trotzkis und deuten nicht einmal an, dass der vermeintliche Theorien-Kampf nur den Deckmantel abzugeben hatte für einen ganz profanen Machtkampf um die Lenin-Nachfolge. Dass das Trotzki-Bild des historischen Groß-Verbrechers Stalin diesen buchstäblich um Jahrzehnte überlebte, verrät ganz nebenher, wie wenig tief die angebliche Entstalinisierung tatsächlich ging. Strukturell änderte sich an der Partei und in der Partei ohnehin so wenig, dass sich die vergleichbaren Phänomene einfach nur wiederholten; nackter Machtkampf unter Stalins Nachfolger, nackter Machtkampf unter dem Nachfolger von Stalins Nachfolger, mit Zeitverschiebung die entsprechenden Übungen auch in der DDR. Und immer dienten angebliche theoretische Fehler der Besiegten als Rechtfertigung für das Tun der Sieger, noch Honecker machte sich mopsig über Kybernetik bei seinem Vorgänger.
Noch die KPdSU-Geschichte von 1971 (S. 434) verrät nur indirekt, dass der inkriminierte Trotzki zu diesem Zeitpunkt noch Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates war. Dass er die Rote Armee aufbaute und eben nicht nur der ewige Widersacher Lenins, sondern auch in sehr wichtigen Phasen dessen engster und wichtigster Mitarbeiter war, wird durchgängig mit der gleichen Dreistigkeit verschwiegen wie unter Stalin sogar bekannte historische Photos so bearbeitet wurden, dass Trotzki auf ihnen nicht mehr zu sehen war. 1971 gab es immerhin schon eine, wenn auch an entscheidender Stelle immer noch verfälschende Wiedergabe des berühmten „Testaments“ von Lenin, seine potentiellen Nachfolger betreffend. Die Aussagen über die Fähigkeiten Trotzkis werden verschwiegen, nur seine Begrenztheiten werden im Originalwortlaut genannt. Eine 1960 erschienene Geschichte, auch da war der XX. Parteitag mit seinen Enthüllungen bereits gelaufen, argumentiert erstaunlich durchgehend gegen Trotzkis Einschätzungen und Argumente, ohne das auch so zu kennzeichnen, ein verblüffendes Verfahren, weil man bisweilen ohne Kenntnis bestimmter Thesen der Totgeschwiegenen gar nicht versteht, warum an dieser oder jener Stelle genau das und nichts anderes geschrieben steht.
Feigheit und Verlogenheit immer wieder und immer wieder. Die bekämpft man freilich auch nicht, indem man den „negativen“ Personenkult um Trotzki in einen positiven wandelt, wie es westliche Trotzkisten in ihren vielen kleinen und winzigen K-Gruppen teilweise bis heute tun. Man ist gar nicht schlecht beraten, wenn man den Thesen von Pedrag Vranicki in seiner zweibändigen „Geschichte des Marxismus“ (suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 406) folgt, der ein klares Genialitätsgefälle von Lenin zu Trotzki konstatierte und letzterem eine exponierte theoriegeschichtliche Bedeutung klar absprach. Was allerdings nicht zu bedeuten hat, dass Lektüre von Trotzki-Schriften überflüssig wäre. Wenn Klassiker die Lektüre von Nicht-Klassikern, gar aller Nicht-Klassiker überflüssig machen würden, wären ganze Berufsgruppen überflüssig, nicht einmal nur die Nicht-Klassiker selbst. Für diejenigen gar, die, wenn nicht in vollkommener Unkenntnis, sondern wenigstens in Kenntnis der üblichen Totschlag-Argumente gegen Trotzki aufgewachsen sind, lohnt sich das Lesen immer. Denn überraschend bald und selbst nur angesichts von Zitaten wie bei Vranicki wird deutlich, in wie vielen einzelnen und komplexeren Fragen der Geschichte des Sozialismus als Staats-und Gesellschaftsform Trotzki fast Silbe für Silbe richtig lag, während seine Hasser froh sein dürfen, den Zusammenbruch ihres Lebensirrtums meist nicht mehr erlebt zu haben.
Hätte man tatsächliche theoretische Debatten zugelassen, wäre man mit den Texten des vermeintlichen Abweichlers umgegangen wie mit normalen Texten, hätte man nicht das übliche Wunschdenken allein gelten lassen und stattdessen wirkliche Analyse betrieben, wäre vielleicht, vielleicht manches etwas anders verlaufen, zumal dieser eine ja nicht der einzige war, der versuchte, mit eigenen Denkergebnissen eben nicht die Revolution an ihre Feinde auszuliefern, wie in mörderischer Verlogenheit behauptet wurde, sondern ihr mehr Sicherheit, mehr Festigkeit, längeren Verlauf zu ermöglichen. Lenin, auch das verschweigen alle offiziellen Darstellungen bis zum Zusammenbruch des Sozialismus, hat bei allen Differenzen mit Trotzki diesen eben nicht fallen gelassen. Die Partei glaubte freilich eher dem dreist lügenden Stalin, als der nach Verlesung des „Testaments“ in den Parteitagsdelegationen (interessanterweise nicht im Plenum vor allen gleichzeitig) gelobte, seine Fehler abzustellen. Die Folgen für alle, selbst für sehr viele, die ihn da unterstützten, waren verheerend. Von den alten Weggenossen Lenins, auf die sich Stalin demagogisch stützte gegen Trotzki, überlebte fast niemand die Zeit der großen Prozesse wie auch von den Delegierten des XVII. Parteitages 1934 nicht.
Und dieser Teufel Trotzki hat sich auch mit Kultur und Kunst befasst, das Buch „Literatur und Revolution“ von 1923 (deutsch 1924) umfasst mehr als 500 Druckseiten und ist bis in die jüngste Zeit immer wieder aufgelegt worden, in alter und erneuerter Übersetzung gar. Die zur Rede stehende Broschüre, die nur zwei kurze Arbeiten enthält, „Parteipolitik in der Kunst“ und „Proletarische Kultur und proletarische Kunst“ schlägt mit ihren Kernthesen noch dem spätsozialistischen Verständnis dieser Gegenstände ins Gesicht. Hätte Trotzki wenigstens den Status eines Klein-Klassikers, heute würde man sagen, eines B- oder C-Klassikers gehabt, wären fruchtbare Diskussionen möglich gewesen. Ich greife fast wahllos heraus: „Es ist nicht wahr, dass die Revolutionskunst allein von den Arbeitern geschaffen werden kann.“ Denkende Menschen erschüttert diese These nicht, aber sie war angesichts eines bestimmten Denkens in frühen Sowjetzeiten durchaus wichtig. „Ihre Wege muss die Kunst auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Methoden des Marxismus sind nicht Methoden der Kunst. Die Partei ist Führerin des Proletariats, aber nicht des historischen Prozesses.“ Und: „Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist.“ Es ist sehr gut nachvollziehbar, dass berufene Kunstkommandeure sich dergleichen von niemandem sagen lassen wollten. Noch der letzte Kreissekretär war auch in der DDR mit Wonne Kommandeur. Manchmal unterstützt durch seine Kaderkommission.
Damit das nicht missverstanden wird: Trotzki schreibt auch: „... unter einer wachsamen revolutionären Zensur kann eine weitgehende und elastische Kunstpolitik getrieben werden, der die Giftspritzerei der Literatenzirkel fremd ist.“ Die war es, die ihn störte. Es ging ihm darum, auf der Basis von Kriterien zu zensieren, nicht den Interessen von Kleinstgruppen nachzugeben, die die Partei vor ihren jeweiligen Wagen spannen wollten, um Konkurrenz auszuschalten, wie das seltsamerweise von Beginn an eben auch in der vermeintlich ganz anderen Welt der Oktoberrevolution ablief, ob unter dem Label des „Proletkult“, des „LEF“ oder wie auch immer. Trotzki sah die Realität eines ästhetisch noch nicht erzogenen Proletariats und wollte höchst bescheiden beginnen, wir, die wir die Welt des Wandzeitungswesens noch kennen, lachen nur leise: „In diesem Sinne trifft es zu, dass die Wandzeitungen der Betriebe eine höchst notwendige, wenn auch noch recht entfernte Voraussetzung der kommenden neuen Literatur darstellen.“ Manch blöde Qualitätsdebatte der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, als es darum ging, das Hochjubeln von Pfeife rauchenden Wandzeitungsredakteuren und Arbeiterkorrespondenten zu Großliteraten möglichst nicht zum Alltag werden zu lassen, hätte vermieden werden können, wäre der Denkanstoß nicht von einer Unperson gekommen, sondern wenigstens von einem B-Klassiker.
Gegen der Klassencharakter von Kultur und Kunst argumentiert Trotzki keinesfalls spitzfindig mit dem Hinweis, dass die Diktatur der Proletariats berufen sei, den Klassencharakter der Klassen aufzuheben, insbesondere den des Proletariats selbst. Wer die einschlägigen Theoreme studieren durfte, weiß, dass das eben nicht aus der Luft gegriffen wurde, gegen Lenin oder Marx gedacht ist es noch weniger. Trotzki sieht zunächst einmal ungeheure Wirkungen dort voraus, „wo der befreite Egoismus des Menschen … ganz auf die Erkenntnis, Änderung und Besserung des Weltalls gerichtet ist“. Das ist vielleicht ein wenig pathetisch gesagt, auf Auslieferung an den Kulaken oder den Klassenfeind oder beide zielt es jedenfalls nicht. „Unser Zeitalter ist kein Zeitalter einer neuen Kultur, sondern höchstens die Vorstufe zu ihr.“ Auch das zielt eher gegen Wunschdenken als auf Konservierung bürgerlicher Kultur. „Es lässt sich keine Klassenkultur hinter dem Rücken einer Klasse errichten.“ Die Partei hätte das aber im liebsten, nur schwach getarnt, versucht. „Man darf nicht den Begriff der proletarischen Kultur in das Kleingeld des individuellen Tagesgebrauchs einwechseln ...“. Musste ein Kopf mit solchen Gedanken tatsächlich einem Eispickel ausgeliefert werden? „Allein schon das Studium der Literaturtechnik ist eine notwendige und keineswegs kurze Stufe. Am krassesten merkt man die Technik jenen an, die sie nicht beherrschen.“
Dann aber wird wieder deutlich, wo Trotzki seine Feinde fand: „Mit den Demagogen wiederholen die Formel der scheinbar proletarischen Simplifizierung auch die aufrichtigen Einfaltspinsel. Das ist aber kein Marxismus mehr, sondern reaktionäre völkische Ideologie ...“. Ich mag keine heutigen Menschengruppen mit dem Begriff der aufrichtigen Einfaltspinsel belegen, obwohl mir sofort welche einfielen. Was ich mir aber lebhaft vorstellen kann, wäre ihre aggressive Reaktion. Stalin wusste also, auf wen er sich verlassen konnte, die Hauptstütze seiner Diktatur hat seit Trotzki (in der freundlichen Übersetzung von Frida Rubiner selbstverständlich) diesen wirklich schönen Namen. „... es gibt keine proletarische Kunst. Es geht nicht an, mit großen Worten zu spielen. Es ist nicht wahr, dass es einen proletarischen Stil und zwar einen großen Monumentalstil gibt.“ Wir wissen längst, dass der vermeintlich proletarische Monumentalstil eher der Generalstil totalitärer Diktatoren ist, die sich bisweilen sogar im baulichen Wettlauf befinden mit Metrotunneln und Reichsparteitagsgeländen im Gepäck. Am Ende des zweiten Artikels singt Leo Trotzki das leicht überraschende Loblied des Dichters Demjan Bedny (13. April 1883 bis 25. Mai 1945). Das zeigt: Auch er war nur ein Mensch, was so wenig ja schließlich auch wieder nicht ist. Fußnote dazu: Was Frida Rubiner 1924 über Demjan schrieb, liest sich, als wäre es direkt von Trotzki übernommen. Fußnote zwei: 1937 forderte Demjan Bedny in Gedichten die Erschießung von „Volksfeinden“. Fußnote drei: 1938 wurde Demjan Bedny aus der Partei ausgeschlossen. Er starb knapp fünf Jahre nach der Ermordung des schlimmsten aller „Volksfeinde“, der einst sein warmer Befürworter war.