Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend
Kann man Johann Heinrich Jung-Stilling, der nur Jung hieß und sich Stilling nannte, zu seinem 275. Geburtstag näher treten, ohne zuvor die Gleitsichtbrille des alten Johann Wolfgang von Goethe auf die Nase zu setzen, die Kurz- mit Weitsichtigkeit auf hoch spezielle Weise verbindet? Man kann. Man wird freilich auch nicht in die Irre geführt, wenn man sich jene beiden ausführlicheren Darlegungen Goethes in seinem autobiographischen Spätwerk „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ vornimmt, die im neunten und im sechzehnten Buch in meiner Ausgabe zusammen etwa neun Druckseiten ausmachen. Wohl ist bekannt, dass der alte Geheimrat seiner eigenen Jugend in fast all ihren Erscheinungsformen mindestens mit Skepsis und Distanz begegnete, nicht selten sogar mit dem Versuch, Spuren gänzlich zu verwischen oder zu beseitigen, dennoch entbehren seine Urteile über einstige Weggefährten der tieferen Wahrheit nie, selbst wenn es nur noch die tiefere Wahrheit des alten und nicht auch die des jungen Goethe ist.
Den neun Jahre älteren Jung lernte er als Student in Straßburg kennen, diese Periode findet sich auf zweieinhalb Seiten im neunten Buch, den knapp dreifachen Platz widmet Goethe dann einem zweiten Zusammentreffen im Jahr 1775 in Frankfurt, wo Jung Gastrecht in Goethes Vaterhaus erhält und dort aus verschiedenen Gründen für Unruhe sorgt und den Großmut seiner Gastgeber, wenngleich völlig absichtslos und schon gar nicht in arger Absicht, strapaziert. „Seine Stimme war sanft, ohne weich und schwach zu sein, ja sie wurde wohltönend und stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah.“ „Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschöpflich war, so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt.“ Das kann man sich lebhaft vorstellen: eine fröhliche, flapsig daher redende Tischgesellschaft bei den beiden Schwestern Lauth, fast alle sind jünger, deutlich jünger als dieser Neuankömmling – man testet ihn aus und er geht ihnen fast unvermeidlich auf den Leim. „Die Richtung seines Geistes war mir angenehm, und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zustatten kam, ließ ich unangetastet.“
Fünf Jahre später, genauer in der Erinnerung an das fünf Jahre spätere Treffen in Frankfurt, wird Goethe in mehrfacher Hinsicht deutlicher. Vor allem wohl auch deshalb, weil er sich verantwortlich fühlte dafür, dass der Gast die häusliche Atmosphäre störte, was weder Vater noch Mutter Goethe sich sonderlich anmerken lassen, der Sohn aber natürlich spürte. Jung hat 1775, drei Jahre nach dem Ende seines Studiums in Straßburg, bereits einen Ruf als Mediziner, er macht Star-Operationen, die nicht immer erfolgreich verlaufen, aber sehr oft. Am Ende seines Lebens sollen es mehr als 2000 Operationen gewesen sein und ausgerechnet diese eine in Frankfurt, für die er für seine Verhältnisse ein unfassbar hohes Honorar erhielt, misslang. Das belastete ihn über die Maßen und diktierte im Hause Goethe die Stimmung, die von der Art der Gespräche abhing, die gerade der Sohn eigener Erinnerung nach immer wie absichtslos sehr auflockerte. Goethe vergisst nicht zu erwähnen, dass eine zweite Operation an einem wandernden armen Betteljuden gelang, was den Gast jedoch nicht aus seinen Selbstzweifeln erlöste.
„Zutrauen und Liebe verband mich aufs herzlichste mit Stilling; ich hatte doch auch gut und glücklich auf seinen Lebensgang eingewirkt.“ Das durfte Goethe für diesen Zeitpunkt eigentlich noch gar nicht zwingend behaupten, denn das weithin sichtbare Zeugnis dieser Einwirkung erschien erst zwei volle Jahre später im Druck: „Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte“, Berlin und Leipzig bey George Jakob Decker 1777. Ausgangspunkt für alles war diese Beobachtung Goethes in Straßburg: „... besonders erzählte er seine Lebensgeschichte auf das anmutigste und wusste dem Zuhörer alle Zustände deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben und er versprach's.“ Goethe gab demnach nicht nur den Anstoß zu diesem Buch, er brachte es später, als es im Manuskript endlich fertig vorlag, was eine ziemliche Weile dauerte, auch zum Druck, nachdem er es behutsam redigiert hatte. Auf die Fortsetzungen hatte Goethe keinen Einfluss mehr, Jung schrieb bis 1804 noch einige Teile, von denen heute nur die ersten drei den Segen der Literaturgeschichtsschreibung erhalten.
Liest man freilich, was diese Literaturgeschichtsschreibung dem Autor Johann Heinrich Jung gutschrieb in ihrem Hauptbuch, dann möchte man sofort fragen: Muss ich es deshalb lesen? „Von den ersten Teilen der Stillingschen Lebensgeschichte gingen wichtige Impulse für die weitere Entwicklung der deutschen Autobiographie aus.“ Das mag sein, aber was geht es mich an? … hat er die Poesie der Kindheit entdeckt, ohne die fortan kaum eine Autobiographie denkbar ist.“ Das Leben hat es halt so an sich, dass es mit der Kindheit beginnt. „Mit den ersten Teilen seiner Autobiographie hat Jung-Stilling der deutschen Literatur neue Wirklichkeitsbereiche erschlossen.“ Ich habe hier Gabriele Drews zitiert, die das Nachwort zu der Ausgabe der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung Leipzig schrieb, die zur wunderbaren Reihe „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“ gehörte. Solch Nachwort zu DDR-Zeiten stellte fast immer, so auch hier, nicht sehr viel mehr als eine Art politisch-weltanschaulichen Autoren-Check dar und gelangte, wenn überhaupt im enger Literarischen, eben nur bis zum Stofflichen. Als wäre nicht das Erwecken von Neugier auf Gedrucktes viel wichtiger als alle Führungszeugnisse für ihre Urheber.
Der Leipziger Verlag hat seinerzeit (1982) selbstverständlich werbende Effekte gekannt. Der Schutzumschlag zitierte den auch in der DDR höchst beliebten Hermann Hesse mit einem Superlativ, sein Name taucht auch im genannten Nachwort auf. Und, es soll hier nicht ungerecht zugehen, auch Gabriele Drews hat einen Satz, der die Ästhetik des Ganzen betrifft: „Was gerade an der Jugendgeschichte Jung-Stillings bis heute so gefällt, ist die ganz dem Geiste ursprünglicher Poesie entsprechende Art der Darstellung.“ Viel trockener lässt es sich kaum sagen. Bei Hesse dagegen hört man den Enthusiasmus des unermüdlichen Lesers. Zwischen 1907 und 1915 ist er wiederholt auf Jung-Stilling, vor allem aber auf den ersten der Bände, zurückgekommen, danach allerdings nie wieder. Hesse hat sich, wer macht das heute noch, sogar mit der Qualität des Einbandes befasst, die Verwendung der Original-Kupfer gelobt (Chodowiecki). „Diese schlichte, herzliche, in wunderbar naivem, echtem Deutsch geschriebene Jugendgeschichte ist es immer wieder wert, dass aufmerksame und ernsthafte Menschen sie anhören. Mag alles andere vom alten Stilling veraltet sein, dieser junge Henrich ist noch frisch und neu und darf auch unsrer Zeit unerschrocken in die Augen sehen.“
„Außer Goethes Erstlingen ist in jener Zeit wohl in ganz Deutschland nichts unverkünstelt Wärmeres, ungesucht Persönlicheres geschrieben und gedruckt worden. Die innige Lieblichkeit und zugleich die treue, ungewollte Anschaulichkeit wird immer wieder Freude machen und Bewunderung wecken.“ Hesse warb auch für eine Ausgabe mit Briefen Jungs und sparte sich einen milden Seitenhieb nicht: „Und immer wieder muss es unser Erstaunen wecken, wie viele und lange und gewissenhafte Briefe man einander damals geschrieben hat, da es den „sehr geehrten Herrn“ und die gereinigte Reichsorthographie noch nicht gab.“ Nicht erst die Zeiten von SMS und WhatsApp ermöglichen wehmütige Blicke auf eine verlorene Kultur, der Tod des Briefes kam schleichend, vierte Abteilungen in Historisch-Kritischen Ausgaben, falls es die überhaupt geben wird, werden nicht mehr möglich sein mangels Material. Johann Heinrich Jung-Stilling soll mehr als 15.000 Briefe geschrieben haben, seine Postkosten überstiegen phasenweise seine Einnahmen aus dem ärztlichen Beruf. Das allerdings kann heute bei Handy-Kosten auch gut klappen, nur bei Ärzten höchstwahrscheinlich eher nicht.
Rund zwei Drittel von „Henrich Stillings Jugend“ sind schon erzählt, da macht sich der Autor plötzlich selbst bemerkbar: „Mir werden die Tränen los, da ich dieses schreibe.“ Dieses Bekenntnis habe ich bis hier aufgehoben, weil es, warum leugnen, mir am Ende ähnlich ging. Ich war mir selbst gram, dass ich dieses herrliche Buch, ich betone: herrliche Buch, zwar immer wieder einmal in die Hand genommen, nie aber gelesen habe. Jetzt aber stehe ich nicht an zu behaupten, es enthalte zu einem bestimmten Vorgang die schönste Stelle, die je in deutscher Sprache in eben dieser Sache geschrieben wurde. Und es ist nicht die „Poesie der Kindheit“, keine neuen Wirklichkeitsbereiche sind es, es ist: die alte Liebe. Jung-Stilling hat nämlich im ersten Band seiner Lebensgeschichte, viel mehr als sich selbst, seinem Großvater ein Denkmal gesetzt. Nimmt man alles zusammen, was über diesen Eberhard Stilling auf 80 Druckseiten steht, dann hat man das Porträt eines wunderbaren Menschen. „Was ihm sein Großvater sagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.“ „... im Vertrauen gesagt, wie sehr auch Henrich auf Studieren, Wissenschaften und Bücher verpicht sein mochte, so war's ihm doch eine weit größere Freude, in Gesellschaft seines Großvaters zuweilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern“.
Eines Tages aber hat dieser Großvater eine Art von Erscheinung, er sieht seine verstorbene Schwiegertochter Dortchen, die Mutter seines Enkels Henrich, die ihn gewissermaßen aus dem Paradies grüßt. Er ist fortan wie umgewandelt, tief religiös wie er ist. Der Leser ist am Ende sicher, dass er seinen nahe Tod voraus spürte. Was aber macht der Großvater, der sich nicht davon abhalten lässt, dass Dach des Hauses neu zu decken wie in allen Jahren, den seine Frau umsonst auf sein Alter und die Gefahren der Höhe aufmerksam macht? Er besteigt einen Kirschbaum in seinem Garten, setzt sich oben hin und futtert Kirschen. Er wirft seinem Enkel ab und zu ein Ästchen hinab. Und dann kommt es: Margrethe, die Frau, die Großmutter, lässt sich von Tochter Marie helfen und besteigt diesen Baum ebenfalls. Nun der Text: „Da saßen beide ehrliche alte Grauköpfe in den Ästen des Kirschbaumes und genossen noch einmal zusammen die süßen Früchte ihrer Jugend.“ Hier verblassen alle sonstigen Herrlichkeiten des Buches, die vielen wunderbar altmodischen (aus heutiger Sicht), die verschollenen Wörter und Wendungen, die feinen Spitzen gegen den Pastor Stollbein, das plötzliche Ende der Erstarrung des Vaters Wilhelm, der seinen Sohn zum ersten Mal im Leben in die Arme nimmt, alles verblasst. Für solch einen Satz wird Literatur geschrieben.
Auf derselben Seite steht, summarisch, über diesen Großvater: „Ein Mann, der mit einem beständig guten Gewissen alt geworden, sich vieler guter Handlungen bewusst ist und von Jugend auf sich an einen freien Umgang mit Gott und seinem Erlöser gewöhnt hat, gelangt zu einer Größe und Freiheit, die nie der größte Eroberer erreicht hat.“ Hier ließe sich die übliche Litanei über bürgerliches Selbstbewusstsein, über Stolz des vierten Standes herleiern, es ist hinreichend oft getan worden. Die durchgehende Kritik an der Amtskirche, pietistisch in jedem Detail geprägt und sogar vom Kind Henrich schlagfertig und naiv gegen den Pastor gewendet, sie ist am Ende ausgebremst, wenn auch vielleicht nur, um noch dem toten Großvater ein weiteres Licht zu setzen: „Herr Pastor Stollbein ist aus dieser Geschichte als ein störrischer wunderlicher Mann bekannt, allein außer dieser Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab gesenkt wurde, weinte er helle Tränen“. Vorher haben wir erfahren, dass Nachbarn es sind, die kommen, um den „Entseelten“ anzukleiden. Das Buch schließt so: „... oft fliegen im Frühling ein Paar Täubchen einsam hin, girren und liebkosen sich zwischen dem Gras und Blumen, die aus Vater Stillings Moder hervorgrünen.“
Nur auf wenigen Seiten des Buches fließen keine Tränen, es ist das Zeitalter der Empfindsamkeit, das nur in Deutschland immer leicht irreführend zugleich Sturm und Drang genannt wird, obwohl dieses Etikett bestenfalls eine ziemlich kleine Gruppe in einer ziemlich kurzen Zeit charakterisiert, während die Empfindsamkeit mit mehr Recht ein europäisches Phänomen genannt werden darf. Der Leser erfährt von einer erstaunlichen Kindheit, die lange Jahre ohne den geringsten Kontakt mit anderen Kindern verlief. Der Knabe Henrich liest und ihm werden keine Beschränkungen dabei auferlegt. Die im Buch genannten Namen von Reformatoren und Theologen verblüffen zutiefst, niemand würde heute auf die Idee kommen, deren Bücher zur Lektüre Elfjähriger zu machen. Doch da sind auch Märchen, Volksbücher, „Jorinde und Joringel“ hört Henrich komplett aus dem Mund von Base Marie und siehe, die Gebrüder Grimm haben dies von Jung-Stilling genommen, auch die Sage um Johann Hübner, während dessen Quellen unbekannt sind. Man kann das Buch mit volkskundlichem Interesse lesen. Väter schlugen damals ihre Söhne, auch rechtschaffene Väter.
Die einzige präzise Angabe im Buch ist die Geburt, die sich heute zum 275. Male jährt: 1740, den 12. September, abends um 8 Uhr. Dies Leben währte bis zum 2. April 1817, die Grabstätte ist auf dem Hauptfriedhof in Karlsruhe. Zwischendurch war viel Not, drei Ehen, wenn ich richtig las, eine wissenschaftliche Karriere, die ebenfalls heute kaum denkbar ist, oder würde ein ausgebildeter Arzt mit Spezialisierung auf Augenoperationen jemals einen Ruf als Professor der Kameralistik, der allgemeinen Staatswissenschaften erhalten? Der dann sogar Lehrbücher in Serie verfasst? In seiner Jugendgeschichte aber, da schreibt er: „Sobald sie fertig waren, finden sie wieder von vorne an und gaben der Geschichte vielerlei Wendungen; so war sie immer neu; für alle Menschen langweilig, nur für sie nicht.“ Mag sein, dass Heinrich Heine hier auf die alte Geschichte kam, die immer neu ist. Und wie schön ist diese praktische Margrethe, den Gatten und seine Sternseherei auf den Boden holend: „Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen, die lasst uns hier bewundern; wann wir im Himmel sind, dann wollen wir die Sterne betrachten.“ Vom Hochzeitsschmaus heißt es: „Nachdem alle zur Genüge gegessen und getrunken hatten, so wurden vernünftige Gespräche angestellt.“ Ist dieser Satz dennoch oder deswegen so herrlich, weil ihn heute niemand mehr so schreiben würde?
Auch Henrichs Onkel Johann ist ein besonderer Mann und Großvater Eberhard liebt ihn etwas weniger als Wilhelm, ohne sich deswegen ein schlechtes Gewissen zu machen: „Große Künstler haben gemeiniglich die Tugend an sich, dass ihr erfinderischer Geist immer etwas Neues sucht; daher ist ihnen dasjenige, was sie schon erfunden haben und was sie wissen, viel zu langweilig, es ferner zu verfeinern. Johann Stilling war also arm; denn was er konnte, versäumte er, um dasjenige zu wissen, was er nicht konnte.“ Die Geschichte kennt immer wieder solche Menschen und es ist gut zu wissen, dass ihnen bisweilen einer wie Johann Heinrich Jung-Stilling ins Herz schaut. Der Großvater, das zum unvermeidlichen Ende dieser schon sehr langen Visite in ferner Vergangenheit, ermahnt seinen Sohn, den er mehr liebt: „Wilhelm! wer nicht will, dass seine Gebote häufig übertreten werden, der muss nicht viel befehlen.“ Die größeren Wahrheiten sind einfach, ihre Vergangenheit ist überraschend, nein, nicht überraschend, Gegenwart.