Birgit Vanderbeke: Gebrauchsanweisung für Südfrankreich

Die Behauptung, ich sei in Südfrankreich gewesen, würde ich nicht reinsten Herzens aufstellen wollen, obwohl ich in Südfrankreich war. Sogar zweimal im Abstand von zwölf Jahren und nun schon seit zwölf Jahren nicht mehr. Der Grund meiner Zurückhaltung ist ein Buch. Es heißt „Gebrauchsanweisung für Südfrankreich“, ist schon stolze vierzehn Jahre alt und geschrieben von Birgit Vanderbeke. Die heute stolze sechzig Jahre alt wird. Sich mit ihr zu befassen, bedeutet, sich mit allen Höhen und Tiefen neuerer deutscher Literaturkritik zu befassen, mehr mit Tiefen als mit Höhen, genauer genommen. Vielleicht war es ihr Unglück, dass sie mit ihrem ersten Buch „Das Muschelessen“ gleich das Ingeborg-Bachmann-Wettlesen gewann. Nicht mit dem Buch natürlich, sondern mit einem Auszug aus dem noch nicht veröffentlichten Buch. Wäre es veröffentlicht gewesen, wäre es ihr ergangen, wie denen im Jahr 1990 in Klagenfurt, die aus bereits veröffentlichten Texten lasen und deshalb disqualifiziert wurden. So bin ich einst zu meiner einzigen sportlichen Silbermedaille gekommen, ich war der vierte von vier Teilnehmern, brauchte für die Skilanglaufstrecke doppelt so lange wie der Sieger, nur: der Zweit- und der Drittplatzierte wurden disqualifiziert. Der Vergleich mit Birgit Vanderbeke hinkt natürlich auf beiden Beinen.

Um kurz die Neugier auf die Tiefen der Literaturkritik zu befriedigen: Es ist ihr vorgeworfen worden, dass sie gleich mehrere Bücher, in denen Frauen über vierzig vorkommen, aus der Sicht einer Frau über vierzig geschrieben hat. Das ist natürlich ein brutaler Vorwurf, der vermutlich jene Bücher für besser hält, in denen ein dreiundneunzigjähriger Mann aus der Sicht eines zwölfjährigen Mädchens schreibt, das gern ein siebzehnjähriger C-Junior im Rugby wäre. Da wäre mehr Kunst drin, geht das Vorurteil. Als „Das Muschelessen“ erschienen war, schrieben Kritikerinnen, deren Namen wohl, nicht aber deren Alter hier verschwiegen werden soll: eine vom Jahrgang 1941 fand das Buch fürchterlich, eine vom Jahrgang 1944 bedauerte Birgit Vanderbeke dafür, dass viele das Buch fürchterlich fanden. Um es dann selbst auch fürchterlich zu finden. Weil beide entdeckt hatten wie auch sonst alle Welt, die sich mit Thomas Bernhard gequält hatte, dass Thomas Bernhard hier Pate gestanden hatte, las man von Wirbelmustern, Stauungsfiguren und Spiralsätzen, was unter Sterblichen natürlich die Vorstellung von ungenießbarem Druckwerk erzeugte. Ein Mann, fünf Jahre jünger als Birgit Vanderbeke und hier aus verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgründen ebenfalls nicht namentlich genannt, nannte die Spiralsätzerei einfach Redeschwall.

Zur Wirkungsgeschichte der im märkischen Dahme geborenen Autorin, die vor dem Mauerbau 1961 mit ihren Eltern in den Westen kam, gehört, dass der 1997 erschienenen Erzählung „Alberta empfängt einen Liebhaber“ sogar in einem gewichtigen Lexikon bescheinigt wurde, sie habe „erstmals einen überragenden Erfolg bei der Kritik und beim Publikum“ eingebracht. Das Publikum verzeiht dergleichen, die Kritik selten, weshalb den nachfolgenden Büchern dann zunehmend mehr um die Eselsohren gehauen wurde, bis einer gar von einem Tiefpunkt schwadronierte, nachdem ein vermeintlicher Neuanfang dann aber auch wieder kein echter war. Die beiden Lexikon-Autorinnen haben übrigens das getan, was DIE Kritik, von der gern die Rede ist, obwohl es sie gar nicht gibt, ebenso wenig wie DIE Forschung, von der die Literaturwissenschaftler/innen immer schreiben, auch tat: Sie haben über die „Gebrauchsanweisung für Südfrankreich“ großzügig hinweggesehen, jedenfalls findet sich in meinem sehr soliden Archiv zu Birgit Vanderbeke kein Text dazu, obwohl man streng genommen weder über das Buch vorher noch über das Buch nachher vernünftig schreiben kann, wenn man diesen vermeintlich unliterarischen Band aus dem Piper-Verlag einfach übersieht. Ich meine „Ich sehe was, was du nicht siehst“ (1999) und „Geld oder Leben“ (2003).

Die Reihe mit den Gebrauchsanweisungen ist übrigens eine sehr empfehlenswerte Reihe, die sich dadurch auszeichnet, dass nicht nur die üblichen Reiseführer-Autoren zum Zuge kommen, sondern gestandene Schriftsteller. Und wenn man nach Kenntnisnahme diverser Vanderbeke-Besprechungen mit Wohlwollen registriert hat, dass einige darunter tatsächlich auf den Humor der Autorin gestoßen sind, dann sieht man sich in seinem Empfinden bei Lektüre des Südfrankreich-Buches bestätigt. Da ist sehr viel sehr angenehmer Humor drin, fast so viel wie in all den vorgestellten Gerichten im Text Knoblauchzehen. Noch immer gilt in deutschen Landen der fast hundert Jahre alte Aha-Effekt, der sich bei Kurt Tucholsky nach der Lektüre von Irmgard Keun einstellte: Das sei eine Frau mit dem Humor eines dicken Mannes (gemeint war natürlich der dicke Mann mit den fünf Pseudonymen höchstselbst). Also: mittels Genusslektüre wird man von Birgit Vanderbeke in eine Genussgegend geführt. Also: es macht Seite für Seite Spaß, dies Buch zu lesen, wie es seinerzeit (1997) auch dem guten alten Marcel Reich-Ranicki Spaß machte, ihr „Alberta empfängt einen Liebhaber“ gelesen zu haben. Auch dies Lob gehört sicher ins Netz der Gründe für manche Mäkeleien: Wen Reich-Ranicki lobte, der/die sah es am Haben-Stand der Buch-Umsätze, den aber lobten andere Kritiker ungern.

Dementsprechend ist Birgit Vanderbekes Name mit Fehlanzeigen verbunden. Volker Weidermann, „Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“: ihr Name fehlt. Volker Hage, „Letzte Tänze, erste Schritte. Deutsche Literatur der Gegenwart“: ihr Name fehlt. Hubert Winkels, „Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur“: ihr Name fehlt. Richard Kämmerlings, „Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89“: ihr Name fehlt. Er fehlt nicht in „Keine Angst vor großen Gefühlen. Die neuen Schriftstellerinnen“ von Wiebke Eden. Die hat ihre Protagonistinnen in alter Urgerechtigkeit dem Alphabet nach sortiert, so kommt nach Birgit Vanderbeke nur noch Maike Wetzel, während die elf Jahre jüngere Jenny Erpenbeck den Band eröffnen durfte in Abwesenheit von A bis D. Wir erfahren bei Wiebke Eden, dass Birgit Vanderbeke ein Hotel danach beurteilt, ob es Rostbratwürstchen zum Frühstück gibt. Die Leserinnen der BRIGITTE erfuhren, dass die Autorin nach einer Lesereise erst einmal wie wild kocht, sogar auf Vorrat im Fall der Fälle. Man ahnt, woher die männliche Zurückhaltung der genannten und sicher auch einiger anderer Herren sich (Kalauer!) speist. Ich beispielsweise beneide Vanderbeke für ihre Fähigkeit zu sechs bis acht Anschlägen pro Sekunde. Zu Rostbratwürstchen kann ich als Thüringer nichts sagen, allein der Diminutiv ist schon ein Hardcore-Frevel.

Im Buch gibt es Hildegard. Sie ist eine Kunstfigur. Vielleicht auch das, was unter Freunden des weggeworfenen Nebensatzes gern Folie genannt wird. Für mich ist Folie etwas, das meist durchsichtig ist und knistern kann. Hildegard ist zwar im übertragenen Sinne durchsichtig, aber sie knistert nicht. Im Buch gibt es Yannick und Karine, die Südfranzosen aus der Nachbarschaft, die natürlich auch nicht Yannick und Karine heißen, aber dem Sachbuch verleihen, was der stellvertretende Chefredakteur in der Volontärschulung auf gut Deutsch „Personality“ nennt und sofort auf dem Flip-Chart festhält. Birgit Vanderbeke lässt ihre Leserinnen und Leser sowie alle lesenden Angehörigen der restlichen Geschlechter und Geschlechtslosigkeiten an einer Art Jahreskurs zum Eingewöhnen teilnehmen, wenn der Entschluss, sich in Südfrankreich für immer niederzulassen, in die Praxis umgesetzt wird. Man lernt schnell: Hände weg von Natursteinhäusern, der sehr feucht und sehr kalt sein können. Man lernt ebenso schnell, dass es innen bei diesen Südfranzosen zum Steinerweichen aussieht. Während der Deutsche, gezwungen durch die Journale, meint, er müsse seine Inneneinrichtung als Chiffre für sein Selbst komponieren und zwar lesbar für Gäste, ist es dem Franzosen eher gleich, wie es aussieht, er setzt andere, überzeugendere Prioritäten.

Zum Humor des Buches gehört das Nennen deutscher Orte, wobei auffällt, dass es im wesentlichen westdeutsche Orte sind. Des Spaßes halber seien sie allesamt genannt (in der Reihenfolge ihres Vorkommens)): Hamburg, Köln-Kalk, Berlin (3mal), Leipzig, Solingen, Bochum, Jena, Offenburg, Köln (ohne Kalk), Oldenburg, Mühlheim-Ruhr, Fürth, Wolfenbüttel, Konstanz, Bad Oeynhausen, Düsseldorf, Heidelberg (2mal), Stuttgart, Frankfurt am Main, Siegen, Braunschweig, Fulda, Osterode, Bochum, Rüdesheim, Aachen, Duisburg, Wanne-Eickel, Wetzlar, Jüterbog, Bad Godesberg. Die Namen anderer Autoren, die im Buch vorkommen, ist deutlich kürzer: Patrick Süskind, Peter Mayle (ein Brite, geboren am 14. Juni 1939), Paul Valery, Wolfram Siebeck, Jean Giono, Tahar Ben Jelloun, Hemingway (ohne Vornamen), Claude Simon (2mal), Gebrüder Grimm, dazu kommen der große Regisseur Claude Chabrol und der Koch Alfred Walterspiel (1881 – 1960). Das Buch enthält kein Register, dies ist folglich eine pure Eigenleistung des wohlgestimmten Kritikers. Der über Trüffel lernte und über Handwerker im Midi, über die Selbstverständlichkeit von Ganztagsschulen, über das Kochen, über das Kochen, über das Kochen. Wo man was kauft, und wo man was auf keinen Fall kauft. Dies Buch sollte man kaufen, wo immer es zu haben ist.


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