Paul Auster: Das rote Notizbuch

Es gibt Geschichten, die immer wieder erzählt werden. Nicht nur von dem, der sie erlebte und aufschrieb, sondern auch von denen, die sie lasen. Der Roman „Stadt aus Glas“ von Paul Auster beginnt so: „Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich als der Zufall. Aber das war viel später.“ Als „Stadt aus Glas“ zuerst in Deutschland erschien, war das Interesse mäßig, die beiden Romane, die folgten, „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“, erschienen nicht mehr separat, sondern nur zu einem Band „Die New York-Trilogie“ mit dem Erstling gekoppelt. Als Denis Scheck für sein Buch „Hells Kitchen“ mit Paul Auster sprach, war „Das rote Notizbuch“ noch nicht gedruckt, dennoch hörte er von Auster genau diese Geschichte: „Am nächsten Abend wiederholte sich der merkwürdige Anruf, die gleiche Stimme wollte mit jemand von der Pinkerton Detektei sprechen. Ich antwortete natürlich wieder, dass er falsch verbunden sei, aber als ich aufgelegt hatte, grübelte ich darüber nach, was passiert wäre, wenn ich einfach Ja gesagt hätte. Das war der Ausgangspunkt für „Stadt aus Glas“.“

Der dreizehnte und letzte Text in „Das rote Notizbuch“ beginnt so: „Mein erster Roman wurde von einer falschen Nummer inspiriert.“ Und endet so: „Wie alles andere, was ich in diesem roten Notizbuch aufgezeichnet habe, ist es eine wahre Geschichte.“ Wer solchen Aussagen von Schriftstellern misstraut, kann sich auf sehr gute Argumente aus der Literaturgeschichte berufen: was da nicht alles schon als wahre Geschichte verkauft wurde. Und umgekehrt: wie oft sind erfundene Geschichten für wahr angesehen worden. Selbst ernannte Forscher haben sich auf die Spuren von Personen und Geschehnissen begeben, die es nie gab, die aber glaubhaft wirkten und damit den Trugschluss herausforderten. Der Kritiker Martin Krumbholz hat seinerzeit, als eben die Hardcover-Ausgabe auf den deutschen Buchmarkt gekommen war, die attraktive Formel gefunden: „Manches klingt unglaublich, nichts unglaubwürdig; einiges unausdenklich, nichts einfach nur ausgedacht“. Das Wiener Blatt „Die Presse“ wählte 2007 anlässlich des sechzigsten Geburtstages von Paul Auster die Schlagzeile „Der Meister des Zufalls wird 60“. Eine Zwischenzeile lautete „In den USA immer noch Geheimtipp“. Zwei Dinge sind damit auf den Punkt gebracht: der besondere Stellenwert des Zufalls im Werk Austers und sein kontinental auffällig gespaltener Ruhm.

Da ein damaliger Agentur-Text von Nada Weigelt (dpa) beispielsweise auch in der Stuttgarter Zeitung unter der Überschrift „Der Meister des Zufalls“ gedruckt wurde, ist davon auszugehen, dass diese Formel eine gewisse Popularität erlangte. Obwohl bei genauerem Hinsehen ja Fußangeln daran hängen: der Meister suggeriert Beherrschung, doch beherrscht Paul Auster allenfalls die literarische Darstellung des Zufalls, ist er allenfalls ein auffallend häufiger Nutzer des Zufalls in seinen literarischen Konstruktionen. Den Zufall selbst meistert er nicht und nie, mit dem hat, Theologen bitte an dieser Stelle nicht weiter lesen, bekanntlich sogar Gott gewisse Probleme. Zu allem kommt, dass der Leumund des Zufalls in der langen Geschichte der Literaturen der Welt nicht eben der beste ist, es hat sich bei Lesern und Historikern, bei Kritikern und sonstigen tatsächlichen oder fiktiven Experten die Überzeugung verfestigt: Autoren lassen den Zufall in ihren Büchern gern dann von der Kette, wenn sie nicht mehr weiter wissen, in der Antike hatte er einen eigenen Namen: deus ex machina. Da lädt also Auster dem Helden seines ersten Romans offenbar eine Bürde auf, wenn er ihn denken lässt: nichts ist wirklich als der Zufall. Immerhin: Wohl niemand kann leugnen, irgendwann tatsächlich einmal in seinem Leben über Zufall förmlich philosophiert zu haben.

Ein Roman Austers (The Music of Chance, 1990) trägt in der deutschen Übertragung von Werner Schmitz den Titel „Die Musik des Zufalls“ und hebt damit diesen Begriff zusätzlich ins Zentrum des Blickfelds, den Philosophen unterschiedlicher Schulen gern in Korrelation mit Notwendigkeit behandeln. Es gab in der Nachfolge Hegels ja die „Dialektik von Notwendigkeit und Zufall“, die wiederum den Zufall auch in einen Bezug zur Freiheit brachte wegen der „Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit“, was gar nicht nur eine logische Schlussweise voraussetzt. „Die Musik des Zufalls“ war der erste Roman Austers, den das heute legendäre „Literarische Quartett“ unter dem fuchtelnden Zeigefinger von Marcel Reich-Ranicki unter die Lupe nahm, es folgten später noch „Leviathan“ und „Mr. Vertigo“. „Das rote Notizbuch“ mit seinen 13 Texten (in der deutschen Ausgabe, die amerikanische enthielt auch noch Essays) ist so etwas wie eine Sammlung von Fallbeispielen. Dabei ist es letztlich unerheblich, welcher Art diese Texte nun genau sind: Soll man sie Erzählungen nennen, Geschichten, Miniaturen, Skizzen, - sie sind so, wie sie sind, als ob sie gar nicht anders sein dürften. Und sie sind, noch einmal sei Martin Krumbholz zitiert, gekennzeichnet „einzig und allein durch den absoluten Mangel an Prätention“. Florian Vetsch las das ganz anders.

Der Schweizer, sechs Jahre jünger als der 1954 geborene Krumbholz, drückte sogar in seiner in der WOZ (Die Wochenzeitung) gedruckten Besprechung Prätention von außen hinein. Auch er übersieht selbstverständlich den Zufall in diesem Büchlein nicht, aber er nimmt ihn nicht einfach hin. „Der Zufall dient in diesen Kurzgeschichten nicht der Erklärung eines rätselhaften Geschehens, sondern der Realisierung der Kontingenz des Tagtäglichen.“ Und vorher schon: „Darin zeigt sich, worum es Auster wirklich geht: um die Transzendierung und Irritation des allzu Gewohnten.“ Ich meine, hier werden Intentionen Paul Austers auf frappierende Weise verkannt. Denn er beschreibt ja nicht rätselhafte Geschehnisse, um ihnen dann auf die Spur zu kommen, er hat auch keine weltbildstürzenden Absichten mit seinen Beschreibungen, es könnte gar sein, dass der Deuter mit Begriffen wie Kontingenz und Transzendierung einfach nur wichtig tun wollte. Ein kurzer Blick zu Wikipedia: die Enzyklopädie versammelt Bedeutungen des Begriffs Kontingenz in Philosophie, Soziologie, Statistik und Evolutionstheorie, die schon beim ersten Hinschauen eins nahezu unabweislich machen: Florian Vetsch baut Tautologien und sagt zu Paul Auster eigentlich nichts.
Vier Reifenpannen in einem Autofahrerleben, immer ein Freund im Auto. Irre, nicht Weltstruktur.

Eine Frau heiratet einen Mann, der ihr Bruder ist. Das geht nur, weil sie erst einmal nicht weiß, dass ihr Vater überlebte im Krieg, von seinem weiteren Lebensweg nichts wusste und schließlich natürlich auch der Sohn des Vaters von dessen Vorleben keine Ahnung hatte und dennoch viel zu geschehen hat, um just diese beiden Menschen zueinander zu führen. Man könnte statistische Wahrscheinlichkeiten berechnen, wie groß die Möglichkeit eines solchen Zusammentreffens bei einer angenommen Weltbevölkerung von vier, sechs oder acht Milliarden Menschen ist. Der Grad der Unwahrscheinlichkeit spräche letztlich dennoch nicht gegen die Realität, wenn sie denn Realität wäre. Ich lief vor jetzt dreißig Jahren einmal zu nächtlicher Stunde durch Moskauer Nebenstraßen und stieß plötzlich fast mit einem Mann zusammen, den ich nicht nur als Kollegen von der TH Ilmenau kannte. Wie wahrscheinlich war das? Die Geschehnisse, die Paul Auster in sein Notizbuch schrieb, haben nur die eine Gemeinsamkeit: seine Anwesenheit im Text, und wenn er nur der ist, der die Geschichte erzählt bekam. Zwei Frauen treffen in Taiwan aufeinander und stellen mit der Zeit fest, sie haben beide Schwestern in New York und diese beiden Schwestern wohnen quasi Tür an Tür im selben Gebäude. Austers Frau Siri heißt im Buch Siri, Austers erste Frau Lydia ist nur L.

Der kleine Gag im Werk Paul Austers ist der, dass in dem Debüt-Roman „Stadt aus Glas“ auch ein rotes Notizbuch eine Rolle spielt. Der Krimiautor Daniel Quinn benutzt es, um die Ergebnisse seiner Recherchen darin festzuhalten. Es fällt schließlich einem Mann in die Hände, der aus ihm die vorangegangene Geschichte rekonstruiert und schließlich als Erzähler des Romans fungiert. „Ich suche nicht nach Stoff für meine Bücher, der Stoff dringt aus der Tiefe meines Unterbewusstseins an die Oberfläche“, sagte Auster im Gespräch mit Denis Scheck. Der wiederum seinen Gesprächspartner so charakterisiert: „Paul Auster ist ein Grenzgänger zwischen Europa und Amerika, zwischen Genre- und Hochliteratur. Am stärksten immer dort, wo er bisher für unvereinbar Gehaltenes spielerisch miteinander verbindet“. In der schon zitierten Schlussgeschichte des Notizbuches steht noch: „Vor weniger als zwei Monaten machte ich jedoch die Erfahrung, dass Bücher niemals fertig sind, dass manche Geschichten sich ohne einen Autor weiterschreiben.“ Er meint damit einen Anrufer, der bei ihm nach jenem Daniel Quinn fragt und ihn sprechen möchte. Der also die erfundene für eine wirkliche Figur hält und sogar glaubt, sie wohne mit Paul Auster in einer gemeinsamen Wohnung. Wenn das keine wunderbare Pointe ist für so ein Büchlein!

Für die LITERARISCHE WELT hat Thomas David Paul Auster anlässlich seines 70. Geburtstages interviewt (Ausgabe 4/2017 vom 28. Januar). Der neue 1200-Seiten Roman „4 3 2 1“ ist natürlich Gesprächsgegenstand, aber auch Donald Trump. „Was Trump angeht, kann ich nur sagen, dass seine Wahl eine der größten Katastrophen ist, mit der ich in meinem Leben jemals konfrontiert gewesen bin. Es ist eine Katastrophe, dass ein derartiger Idiot Präsident wird, dass ein derart gefährlicher Mensch Präsident wird, dass ein derart ignoranter Mensch Präsident wird.“ Klarer kann man sich kaum ausdrücken. Doch vor zwanzig Jahren schon, als Ulrich Greiner für sein Buch „Gelobtes Land. Amerikanische Schriftsteller über Amerika“ Auster in Brooklyn besuchte, sagte Auster Sätze, die sich lesen, als wären sie just auf das Amerika der Jahre 2016 und 2017 gemünzt, auf das Amerika, das Trump wählte und ihn nun als Präsident hat mit noch nicht annähernd absehbaren Folgen. Ich zitiere zusammenhängend: „Amerika war immer gespalten in diejenigen, die von der Idee der Toleranz erfüllt waren und von dem Wunsch, alle Menschen aller Rassen sollten hier friedlich zusammmenleben können, und in diejenigen, die eine solche Vorstellung mit Schrecken erfüllte und die unter Amerika das Land der Weißen und der Christen verstanden. Dieser Zwiespalt ist von Anfang an ein Merkmal der amerikanischen Geschichte.“ Das beruhigt nicht


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