Arthur Eloesser: Moses Mendelssohn

Zwischen Georg Mende und Jean Meslier wäre Platz für ihn gewesen. Das Autorenkollektiv um Erhard Lange und Dietrich Alexander hat für das 1982 im Berliner Dietz Verlag erschienene „Philosophenlexikon“ dennoch großzügig auf ihn verzichtet. Einen, für den Karl Marx den hoch wissenschaftlichen Titel „Seichbeutel“ verwendete, kann ein Lexikon der real existierenden DDR natürlich nicht in ein Nachschlagewerk aufnehmen, das bedeutende Groß-Philosophen wie Georgi Dimitroff oder Michail Nikolajewitsch Rutkewitsch behandelt. Wir reden gar nicht erst von Georg Mende (6. September 1910 – 2. Mai 1983), der, ohne auch nur ein Semester Philosophie studiert zu haben, nach einem Dozenten-Kurzlehrgang schon Dozent für marxistisch-leninistische Philosophie wurde anno 1949. Da hätte kein Moses Mendelssohn dazwischen gepasst und auch das in vielen Auflagen bis zum Ende der DDR erschienene Standardwerk „Aufklärung“, neben mir liegt die sechste Auflage von 1977 (Volk und Wissen Volkseigener Verlag), verzichtete auf Mendelssohn. Nicht einmal ein Unterabschnitt eines Abschnitts galt ihm. Da darf man verstehen, warum Heinz Knobloch mit seinem „Herr Moses in Berlin“ (1979) in Nester stach, in denen keineswegs nur die allseits beliebten Wespen wohnten. Er traf ins Schwarze, das für 40 Jahre ein Rotes bleiben durfte.

Heinz Knobloch ist hier keineswegs zufällig erwähnt, denn er war es, der den Namen von Arthur Eloesser in Verbindung mit Moses Mendelssohn ins spärliche DDR-Gespräch einführte. Zwar hatte er, als er seine erste Auflage vorbereitete, nur Kenntnis eines einzigen Eloesser-Textes zu Herrn Moses, das war die Arbeit „Die Gestalt“, die an Mendelssohns 200. Geburtstag in der Vossischen Zeitung erschien, neben „Mendelssohn und die Berliner“ von Bertha Badt-Strauß (7. Dezember 1885 – 20. Februar 1970), aber immerhin: als er mitten in die finale Erosion der DDR hinein eine ganze „Wochenpost“-Seite zu Eloesser füllte (Nr. 39/1989), da wusste Knobloch auch von der zweibändigen Literaturgeschichte und vom letzten Buch „Vom Ghetto nach Europa“. In die fünfte und letzte DDR-Auflage ist davon nichts mehr eingeflossen, sollte vielleicht auch gar nicht, es ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Arthur Eloesser selbst hat nach einer sehr frühen Erwähnung des Herrn Moses sich lange Zeit gelassen, ehe er wieder und nun deutlich ausführlicher auf ihn zu sprechen kam. Die frühe Erwähnung findet sich in „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“ (Berlin 1898). Und zwar geht es dort um den Dramatiker Joachim Wilhelm von Brawe (4. Februar 1738 – 7. April 1758) und dessen Trauerspiel „Der Freygeist“.

Weil das alte Buch sicher nicht jedem Leser griffbereit zur Hand ist, sei hier die kurze Passage komplett nachgedruckt: „Das Böse erscheint auch hier nur als eine Unterbrechung des von der göttlichen Vorsehung gewollten Guten. So bemerkt Moses Mendelssohn in seiner Kritik mit Recht, dass derjenige, der sich durch den Raub der Tugend an seinem Feinde rächt, diese auch für das höchste Gut halten müsse, und dass der recht gläubig sei, der seinem Feinde die ewigen Höllenstrafen zudiktiert wissen will.“ Leider nennt Eloesser keine Quelle für dieses Zitat. Aber da er meist so verfährt mit der zu akzeptierenden Erklärung, die Lesbarkeit nicht erschweren zu wollen, müssen wir heutigen Leser es hinnehmen. Mendelssohn-Spezialisten kennen die Kritik vielleicht oder wüssten, wo sie suchen müssen. Es ist hier nicht wirklich von Belang. Wichtiger wäre eine sichere zeitliche Zuordnung der ausführlicheren Aussagen. Da die ersten Besprechungen des ersten Bandes von Eloessers Literaturgeschichte bereits im Januar und Februar 1930 in verschiedenen Berliner Blättern erschienen, der Geburtstagsbeitrag in der Vossischen Zeitung am 6. September 1929, darf vermutet werden, dass das Buchmanuskript auf jeden Fall schon über Moses Mendelssohn hinaus gediehen war, als er sich an den Zeitungsbeitrag zum 200. Geburtstag setzte.

Die Reihenfolge seiner einschlägigen Aussagen begänne deshalb mit der Literaturgeschichte, die für den Zeitungsartikel schon nutzbar waren, auch wenn das Buch selbst erst 1930 im Vorfeld des 60. Geburtstages von Eloesser bei Paul Cassirer im Druck erschien. Basis für weitere Mendelssohn-Darstellungen in „Vom Ghetto nach Europa“ wie auch im Sammelwerk „Juden im deutschen Kulturbereich“, herausgegeben von Siegmund Kaznelson, wären also die Formulierungen des Jahres 1929. Mangels Dokumenten, die alles belegen würden, bleiben diese Angaben spekulativ, sie haben aber eine solide Wahrscheinlichkeit für sich. Steigen wir ein: „Mendelssohns posthume Schicksale sind so merkwürdig wie die des Lebenden, der sich aus dem orthodoxen Judentum zu einem der geachtetsten Schriftsteller emporarbeitete, zu einem Weisen, bei dem Fürsten und Völker Rat suchten. Der Nathan ist sein Denkmal. Die Tochter von Moses Dessau – als Jude hatte er noch keinen Familiennamen – trat zum Katholizismus über; als Frau von Friedrich Schlegel wurde sie die böse Muse der Romantik. Ihr Sohn, Philipp Veit, aus erster Ehe, hat unter den frommen nazarenischen Malern am andächtigsten geschwärmt.“ Das ist auf engstem Raum schon fast der ganze „Herr Moses“, zugleich Provokation: War Dorothea wirklich die böse Muse der Romantik?

„Als Lessing den „Herrn Moses“ kennenlernte, einen verwachsenen, kränklichen Juden in niederer Stellung, aber mit guten, leuchtenden Augen, bemächtigte er sich als später aus dem Talmudismus ausgebrochener Schüler alles Wissens der Zeit; die beiden philosophierten mit Plato, Leibniz, Hume, Pope, Shaftesbury, und es war bald Mendelssohn, der den genialeren, sprunghafteren Freund zu mehr systematischen Studien anhielt.“ Was nichts anderes besagt als: Lessing und Mendelssohn sind nicht so zu behandeln, von wem auch immer, als könne man bei dem jeweils einen von dem jeweils anderen absehen. „Moses war am 6. September 1729 als Sohn eines armen Kantors Mendel in Dessau geboren; der Talmudschüler hatte sich die verbotene Kenntnis deutscher Bücher heimlich verschaffen müssen. Die Reise des Vierzehnjährigen … bedeutete eine Wanderung aus dem Orient in den Okzident, aus dem Ghetto in geistige und sittliche Freiheit. Mendelssohn wurde, wo nicht ein Reformator, so doch ein Reformer des Judentums, zu dem er sich immer bekannt hat. Der kleine bucklige Jude, am Tage Buchhalter eines reichen Glaubensgenossen, am Abend Tischgenosse der Sulzer, Ramler, Lessing, Nicolai, hatte gute, leuchtende und auch schelmische Augen“. Kaum zu übersehen: hier ist der Titel von Eloessers letztem Buch vorgebildet: „Vom Ghetto nach Europa“.

„Das philosophische Ansehen von Mendelssohn gründet sich auf seinen Phädon, darin wird Sokrates um sein Dämonisches gebracht als ein fröhlicher Optimist eines antiken 18. Jahrhunderts. Mendelssohn wandelte mit moralischem Entzücken in Leibnizens bester aller Welten, … Der so aus der Stimmung der Zeit schrieb, wurde ein populärer Schriftsteller, einer von den willig anerkannten Erziehern, dem auch seine jüdische Abstammung zugute kam, sowohl als ein exotischer Reiz wie als neue interessante Eroberung der Aufklärung.“ Eloesser, dessen jüdische Abstammung, weil er sie nicht verleugnen wollte, obwohl er alles andere als orthodox war, im Gegenteil, seine akademische Karriere verhinderte, sieht bei Mendelssohn, dass einem eine jüdische Abstammung zugute kommen kann unter Nicht-Juden. Es brauchte dazu freilich des Zeitalters der Aufklärung, das an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schon ziemlich graue Vergangenheit war. „Friedrich der Große, den er als französischen Dichter recht freimütig kritisiert hatte, verhinderte seine Aufnahme in die Berliner Akademie“, aber er „verhinderte schließlich auch nicht, dass der jüdische Gelehrte für die philosophischen Grundsätze des aufgeklärten preußischen Landrechts zu Rate gezogen wurde.“ Das Verhalten des Preußenkönigs ist weniger widerspruchsvoll, als es scheint.

„Der Philosoph … ist uns wie alle Popularisatoren der Aufklärung verlorengegangen; man rühmt mit Recht die Eleganz und Flüssigkeit seines Vortrags, der auch von einer gewissen Innigkeit gehoben war. Mendelssohn hat viel länger als Nicolai mit Lessing gleichen Schritt gehalten … Mendelssohn blieb für alle dramaturgischen Untersuchungen ein mehr als zureichender Partner; er hat seinen würdigen Anteil an den Literaturbriefen, wie er einen geheimen, aber einflussreichen am Laokoon hatte. Eine sachliche Entfremdung trat erst mit Lessings Rückzug nach Wolfenbüttel ein, wohin ihm Moses trotz den Anträgen des Erbprinzen von Braunschweig nicht folgen wollte. Seine ethische Autorität hatte ihm eine Stellung verschafft, die sich im Abstand der deutschen Verhältnisse von den französischen mit der von Voltaire und Diderot wohl vergleichen lässt.“ Es ist gerade die erstaunliche Universalität des „Herrn Moses“, die offen liegende wie geheime Einflüsse auf Lessing überhaupt erst ermöglichten. „Das persönliche Verhältnis von Lessing und Mendelssohn erlitt keinen Bruch und auch keine Trübung. Von der sachlichen Entfernung des leidenschaftlich geliebten Mannes erfuhr Mendelssohn erst nach Lessings Tode, ohne daran glauben zu können.“ Diese späte Seite der Verhältnisses der beiden großen Aufklärer wird hier nicht näher betrachtet.

„Wahrscheinlich hatte Lessing den alten Genossen geschont oder er war ihm in seinen letzten Spekulationen zu fern gerückt, um ihm noch ein Geständnis seiner Weltanschauung schuldig zu sein.“ Eloessers Deutung des einzigen Berlin-Besuches von Goethe aber gehört hierher: „Als Goethe im Jahr 1779 im Gefolge Karl Augusts nach Berlin kam, besuchte er die Dichterin Anna Luise Karsch; es war für den von Nicolai angegriffenen Dichter des Werther die einzig mögliche Huldigung an die dort vertretene Literatur, da er Moses Mendelssohn wegen seiner Freundschaft mit dem Gegner umgehen musste.“ Der eminente Goethe-Kenner Eloesser liefert eine Erklärung, ja Rechtfertigung, warum der Gast aus Weimar gerade diesen und keine anderen Besuche machte. Man weiß freilich auch von den Leipziger Jahren Goethes, wem er sich dort näherte und wem nicht. Das wäre natürlich kein Mendelssohn-Zusammenhang. Die zweibändige Literaturgeschichte stellt bis zum Ende des ersten Bandes immer wieder Bezüge zu Mendelssohn her, auch der zweite Band wartet noch mit drei Erwähnungen auf. Es geht um Garve, Hamann, Lavater, immer wieder um Friedrich Nicolai, um Thomas Abbt. „Herr Moses“ ist damit in seine Zeit mit ihren Vertretern so eingeordnet, eingebettet, wie man es verlangen darf angesichts von 1300 bedruckten Seiten.

Genau am 6. September 1929, am 200. Geburtstag von „Herrn Moses“, brachte die Vossische Zeitung in ihrem Unterhaltungsblatt Nummer 208 knapp anderthalb Seiten zum Jubiläum. Unter der großen Schlagzeile „Moses Mendelssohns 200. Geburtstag“ links auf der Seite „Die Gestalt“ von Arthur Eloesser, anderthalb Spalten umfassend, dazu „Mendelssohn und die Berliner“ von Bertha Badt-Strauß zweispaltig auf der folgenden Seite endend. Damals pflegten große Zeitungen noch nicht diesen seltsamen heutigen Wettbewerb, wer denn mit der frühesten Würdigung aufwartet, vorm eigentlichen Jubiläum. „Moses Mendelssohn ist eine der schönsten, ehrwürdigsten, reinsten Erscheinungen zugleich in der deutschen Geistesgeschichte und in der des modernen Judentums. Es dürfte kaum ein Werk, auch nicht das Fragment eines Werkes von ihm geben, das außerhalb der wissenschaftlichen Kreise noch gelesen wird. Aber seine Figur blieb uns vertraut, die so ist wie man sie gern zu einem Philosophen wünscht: klein, bucklig, hässlich, dabei schalkhaft, liebenswürdig und, wenn es darauf ankam, mit dem lächelnden Mute des Geistes ausgerüstet. Das Volk kennt ihn und kennt ihn im Grunde genommen richtig nur noch aus der einen Anekdote mit Friedrich dem Großen, der ihn für eine unerschrockene Kritik seiner französischen Verse verantwortlich machte.“

„Moses Mendelssohns Wesentlichstes war die stille Tapferkeit, nicht nur in einem Augenblick vor einem Könige bewiesen, sondern vor allem in der Dauer eines Lebens, auch gegen diejenigen Glaubensgenossen, die ihn als Abtrünnigen verlästerten, bevor sie ihn als großen Kulturbringer verehrten, als den ersten, der für sich und ohne sich nach einem Gefolge umzusehen, den großen Schritt aus dem Ghetto nach Europa gemacht hat.“ Hier ist der spätere Buchtitel sogar wörtlich vorgeprägt. „Moses Mendelssohn gehört zur Berliner Aufklärung und zu Lessing, der ihm, mit dem Nathan ein Denkmal, wahrhaft dauernder als Erz, gesetzt hat. Lessings anderer Freund Nicolai war der unliebenswürdigste, bescheidenste Vertreter der Berliner Aufklärung. Beide, der reiche Buchhändler wie der kleine jüdische Kommis, haben zwei von den wenigen Berliner Patrizierhäusern hinterlassen.“ Was folgt, entstammt zweifelsfrei dem Manuskript zum ersten Band der Literaturgeschichte. Darunter auch, was den Enkel Felix betrifft, der im Alter von nur elf Jahren den alten Goethe an dem Klavier bezauberte, das der sich eben aus Leipzig hatte kommen lassen. Die Ankunft am Halleschen Tor, bei Eloesser knapp beschrieben, regt Heinz Knobloch viel später zu einem seiner typischen Exkurse an, führt ihn gewissermaßen mit Herrn Moses von Tor zu Tor.

„Der eigentliche Philosoph ist uns wie alle Träger der Aufklärung verloren gegangen; man rühmte mit Recht die Eleganz, die Flüssigkeit, die samtartige Weichheit seines Vortrags, die aber nicht weichlich wurde.“ Auch Friedrich Heinrich Jacobi spielt seine Rolle wie im Buch: „Wenn Lessings Interviewer, wie man ihn heute nennen kann, richtig gehört hätte, wäre ihm seine ganze Weltanschauung mit dem Glauben an die beste aller Welten und an die sittliche Vervollkommnung des Menschen eingestürzt. Die Aufregung über die Diskussion, die ganz Deutschland ergriff und alle philosophischen Parteien gegeneinander aufrief, beschleunigte das Ende des kränklichen Mannes; er starb am 4. Januar 1786 buchstäblich am gebrochenen Herzen. Dieser Streit, sagt Goethe, der an ihm unschuldig schuldig war, hat unseren braven Moses Mendelsohn das Leben gekostet.“ Es ist anzunehmen, dass Arthur Eloesser mit diesem Artikel das Thema Mendelssohn für sich selbst abschloss. Knapp dreieinhalb Jahre später änderte sich alles. Mit der Machtübergabe an Hitler begann in Deutschland das schlimmste Kapitel in der Weltgeschichte des Antisemitismus. Es zwang Arthur Eloesser, sich zunächst mit seinem eigenen Judentum auseinanderzusetzen. Und dann auch mit dessen Geschichte in Deutschland, Moses Mendelssohn inbegriffen. Fortsetzung folgt.


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