Walther Victor: Der beste Freund. Friedrich Engels, sein Leben und sein Werk

Einen Grund, Abträgliches über Sabine Kebir zu schreiben, habe ich nicht. Zum einen kaufte ich mir noch zu tiefen DDR-Zeiten ihr erstes Buch mit dem Titel „Die Kulturkonzeption Antonio Gramscis“. Es erschien 1980 in der hochrenommierten Reihe „Literatur und Gesellschaft“ des Berliner Akademie-Verlages, dessen Buchhandlung Unter den Linden ich regelmäßig besuchte. Mit eben 31 Jahren dort ein eigenes Buch zu bekommen, war eine Ausnahme. Ich kaufte es wegen Gramsci, nicht wegen Kebir. Ihr Name begleitete mich über all die Jahre, die ich den SONNTAG las, später den aus ihm hervorgegangenen FREITAG, der jetzt mit seinen Ursprüngen fast nichts mehr zu tun hat, Sabine Kebir ist ihm treue Autorin geblieben. Und wenn sie über Algerien schreibt, über Nordafrika, dann nehme ich es meist nur wahr, es sind nicht meine Themen. Jetzt aber füllte sie auf dem Platz, den neuerdings meist Lutz Herden beansprucht mit seinen Rückblicken auf fast alles, die Spalten mit einer Erinnerung an ein Buch aus dem Jahr 1932, dessen Autor Walther Victor in der DDR bis zu seinem Tod etwas wie eine Institution war. Er verantwortete die „Lesebücher für unsere Zeit“, verfasste ausführliche Vorworte zu Shakespeare, Goethe, Schiller und anderen mehr.

„General und die Frauen“ hieß das Buch, Untertitel „Vom Erlebnis zur Theorie“. Die Büchergilde Gutenberg gab es heraus, es war nicht für den allgemeinen Buchhandel gedacht, sondern eine Art Werbegeschenk für neue Mitglieder. Es gab zwei Nachdrucke: 1937 im Verlag E. & K. Scheuch Zürich, heute sehr selten und nur noch hochpreisig (während ich dies schreibe, 100 Euro für ein Exemplar plus Versandkosten) zu haben, 1947 im Hamburger Verlag Hammerich & Lesser. Den 1982er Reprint aus der DDR, den Sabine Kebir erwähnt, kenne ich nicht, fand ihn auch nirgends im Angebot. Wer also lesen mag, das Walther Victor (21. April 1895 – 19. August 1971) vor neunzig Jahren über Friedrich Engels schrieb, besorge sich am einfachsten ein Exemplar der Büchergilde, die sogar recht preiswert zu kaufen sind. In Victors 1960 im Volksverlag Weimar erschienenen Sammelband „Verachtet mir die Meister nicht. Reden und Schriften zu den Klassikern der deutschen Literatur und des Marxismus“ findet sich lediglich ein sehr kurzer, knapp 15 Druckseiten umfassender Auszug aus „General und die Frauen“, der in einer Hinsicht dem Kinderbuch gleicht, um das es hier vor allem gehen soll. Aber es folgen drei kurze Arbeiten zu Engels von 1937/1938.

Ob Sabine Kebir diese Arbeiten kannte und nur nicht erwähnt, auch das Kinderbuch aus dem Jahr 1960 spielt bei ihr keinerlei Rolle, will ich nicht beurteilen. Sie kann sicher auch nichts dafür, dass ihr Gramsci-Buch von 1980 im WIKIPEDIA-Beitrag über sie nicht genannt wird, wohl aber ein elf Jahre jüngeres aus dem Jahr 1991 mit dem Verlagsort Hamburg. Wie auch immer: Mich hat das Kinderbuch „Der beste Freund“ mit Blick auf mich selbst und natürlich auch ein wenig mit Blick auf den heutigen 125. Todestag von Friedrich Engels interessiert. Wer in der DDR Philosophie studierte wie ich von 1975 bis 1980 (nicht Marxismus-Leninismus, was mit dem Titel Diplomlehrer für Marxismus-Leninismus endete, und nicht mit dem Dipl. phil. wie mein Studium), der hat so viel Engels gelesen, dass ihm niemand mehr etwas über ihn erzählen muss: es sei denn, Persönliches. Denn, so sagt ein vollbärtiger DDR-Witz, im Sozialismus stand zwar der Mensch im Mittelpunkt, nicht aber der einzelne. Der Mensch wie der Schriftsteller waren Funktions- und Ideologieträger, Parteimitglieder oder Bündnispartner, was auch immer, nur eben nicht Individuum mit allen Eigenheiten von solchen: Widersprüchen vor allem, die nur die Theorie liebte: theoretisch.

Ich las „Der beste Freund“, entliehen aus der Stadtbibliothek Gehren, im ersten Halbjahr 1965, erst viel später kam ein eigenes Exemplar in meine Bestände, und womöglich hätte ich es vor dem 200. Geburtstag von Engels am 28. November gar nicht mehr in die Hand genommen, wenn nicht Sabine Kebir gewesen wäre. Ihr Beitrag über das Buch von 1932 spricht, kann man sagen, nebenher auch ein Urteil über das preisgekrönte Kinderbuch aus dem Jahr 1960. Obwohl sie es mit keinem Wort erwähnt. Obwohl sie 1960 noch jung genug war, das Büchlein mit dem bärtigen Kopf vorn und einer Marschkolonne, die die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu verdeutlichen hat, als kindliche Leserin kennenzulernen. Aber vielleicht las man im Haushalt des Romanisten Hans Kortum (29. Januar 1923 bis 24. Juni 1997), dessen Tochter sie ist, andere Bücher, es ist ohne Bedeutung. Denn „Der beste Freund“ ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man von einem Kinderbuch erwarten darf, das der Verlag für Leser von 13 Jahren an empfahl. Es verschweigt so gravierende Fakten aus dem Leben von Friedrich Engels, dass man fragen muss, wie das geschehen konnte bei einem Mann, der in den dreißiger Jahren genau diese Fakten nicht verschwiegen hatte.

Ich gebe das krasseste Beispiel: „Er gewann sich selbst das Glück, in der Arbeiterklasse eine Frau zu finden, die er liebte und die ihm bis zu ihrem Tode die treueste Kameradin war, eine irische Textilarbeiterin. Und indem er der beste Freund aller Arbeitenden und Ausgebeuteten wurde, gewann er mit seinen englischen Erfahrungen und Erkenntnissen den besten Freund, um mit ihm zusammen die größte Unternehmung aller Zeiten zu beginnen: den Kampf um die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung, von Krieg und Verfolgung, dem Kampf um das Menschenglück.“ Das findet sich im dritten Kapitel. Es „führt uns nach England, wo Friedrich Engels entscheidende Erlebnisse hatte“, wie im Inhaltsverzeichnis und zu Beginn zu lesen ist. Bis ans Ende des 130 Seiten umfassenden Büchleins erfahren die jungen Leser nicht, wer denn diese irische Textilarbeiterin war, wie sie hieß, wie er sie kennenlernte, bis zum Ende nicht einmal fällt ihr Name: Mary Burns (26. September 1821 bis 7. Januar 1863). Sie starb also mit 42 Jahren. Ist das für junge Leser ohne alles Interesse, muss stattdessen des Langen und Breiten erläutert werden, was in der späten Engels-Schrift „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ steht?

Die noch dazu wegen des Todes von Karl Marx im Jahr 1883 nicht einmal vollendet wurde? Victor hat natürlich irgendwann auch das Gefühl gehabt, es müsse etwas Kindern Fassliches, sie auch Interessierendes hinschreiben. So kam er auf die Idee, den Bier saufenden Hund Carlo von Engels zu erwähnen, danach die Katze, die kein Bier trank, aber Tidlums hieß und abschließend jenen namenlosen Vogel, dem Engels das Singen des Studentenliedes „Gaudeamus Igitur“ beibringen wollte, es war ein Kanarienvogel. Victor beschließt die Tierschau mit dem Satz: „So also hatte unser Friedrich Engels viele menschliche, liebenswerte Züge.“ „Unser Friedrich Engels“ ist eine im Buch immer wieder auftauchende Formulierung. Zu den liebenswerten menschlichen Zügen gehört für Victor offenbar auch dies, er zitiert einen Augenzeugen, dessen oder deren Namen er verschweigt: „Ich kenne niemand, der so lange dieselben Kleider trug, ohne sie zu verdrücken oder sie aus der Form zu bringen.“ Das kann nur am besonders guten Stoff gelegen haben, denn schlechte Stoffe verdrückt jeder, ob er nun Engels heißt oder Max Mustermann. Es kann aber auch heißen, dass die jeweilige Haushälterin des Klassikers mehrmals am Tag bügelte. Mary Burns war das aber nicht.

Denn die arbeitete weiterhin in der Fabrik, deren Miteigentümer Engels war. Es kann aber Lydia Burns gewesen sein, genannt Lizzy, die den beiden den Haushalt führte und später sogar die Ehefrau von Engels wurde, was ihre Schwester Mary nie war. Vielleicht hat ja vor der Publikation von „Der beste Freund“ ein Zensor auf die zehn Gebote der sozialistischen Moral verwiesen, die die Jungpioniere wie die Thälmann-Pioniere der DDR in ihren Ausweisen stehen hatten, wenn ich mich recht erinnere. Moralisch war es auch im Sozialismus nicht, mit zwei Frauen zusammen in einem Haushalt zu leben. Moralisch war es wohl auch nicht, die von Karl Marx nicht mehr benötigte Haushälterin Helene Demuth, die ein uneheliches Kind von Marx hatte, zu übernehmen. Sie kommt im Kinderbuch gar nicht vor, dagegen die letzte Lebensgefährtin Louise, die Walther Victor als 78 Jahre alte Dame noch selbst in London antraf. Sie schenkte ihm, als sie Vertrauen zu ihm gewonnen hatte, eine silberne, von Engels mit Vorliebe genutzte Gabel mit ganz besonderen Zinken, die Victor, nachdem er einige Jahre selbst damit gegessen hatte, dem Museum für Deutsche Geschichte stiftete. Von dieser wirklich hübschen Geschichte findet sich in „Der beste Freund“ nichts. Traurig.

Im siebenten Kapitel schreibt Victor: „Als Friedrich Engels 70 Jahre alt war und keine Frau mehr hatte, da kam eine junge Genossin zu ihm, um ihm die Wirtschaft zu führen und als seine Sekretärin mit ihm zu arbeiten. Sie hieß Louise …“. Und wieder treibt der Autor seltsame Geheimniskrämerei. Diese Louise war die geschiedene Frau von Karl Kautsky, der in der DDR nur als „Renegat“ gehandelt wurde gemäß der Lenin-Schrift „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ aus dem Jahr 1918. Sie heiratete den Arzt Dr. Ludwig Freyberger, ihr gemeinsames Kind „Lulu“ soll dem alten Friedrich Engels noch viel Vergnügen gemacht haben, nicht immer zum Vergnügen des Kindes selbst freilich, weil es für die Späße des Opas schlicht noch zu jung war. „Sie schrie natürlich herzzerbrechend. Ihre Mutter hat es dem Verfasser dieses Buches selbst erzählt.“ Nur an dieser Stelle offenbart Walther Victor seinen sehr persönlichen Bezug zu seinem Gegenstand. Denn er hatte eben nicht nur sogar noch ein paar Lebensmonate gemeinsam mit Friedrich Engels im Jahr 1895, er lernte, als er schon im Exil in der Schweiz lebte und bevor er weiter nach Amerika fliehen musste, weil die Schweiz ihn ausgewiesen hatte, in London eben diese Louise noch selbst kennen.

Louise, geboren als Louise Strasser am 15. Juni 1860, lebte noch bis 1950. Was aber in den alten Engels-Schriften von Walther Victor noch wie selbstverständlich genannt und behandelt wurde, das ist im Kinderbuch von 1960, das 1961 einen Preis des Ministeriums für Kultur erhielt, seltsam verkniffen zu Wort gekommen, wenn überhaupt. Und der Auszug aus dem Büchergilde-Buch von 1932 ist in eben diese Richtung gekürzt. Nicht einmal die unmittelbaren eigenen Familien-Verhältnisse sind Victor wichtig: „Friedrich Engels hatte zahlreiche Geschwister, unter denen die um vier Jahre jüngere Schwester Marie im besonders nahe stand.“ Wie viele es waren, wie viele Brüder, wie viele Schwestern: Fehlanzeige. Erst auf Seite 91 steht, dass Friedrich der älteste der Geschwister war, was natürlich erbrechtlich wichtig war, aber eben auch innerhalb der traditionellen Familienhierarchie. Zweimal benutzt Victor das Wort „anzüglich“, um Schriften des sehr jungen Engels zu charakterisieren. Es fragt sich, ob junge Leser überhaupt wissen, was alte Schriftsteller damit meinen könnten. Auch als Paul Lafargue, französischer Schwiegersohn von Marx, zitiert wird, hat die irische Gattin keinen Namen, dafür verrät er, dass Engels ein eigenes Jagdpferd besaß.

Ob sich das mit der folgenden Behauptung des sechsten Kapitels verträgt: „Friedrich Engels überlief es heiß. Wer für eine neue Welt kämpfen will, sagte er sich, der muss verzichten können auf die süßen Gewohnheiten der alten. Die Revolution ist kein Daunenbett.“? Genau solche Vorwürfe sind tatsächlich immer wieder einmal erhoben wurden, wenn Kommunisten ein sinnbildliches eigenes Jagdpferd besaßen und auch begeistert ritten. Als der Sozialismus in sich zusammenfiel, zeigte sich erstaunten wie weniger erstaunten Beobachtern die Vorliebe der großen Führer für feudalen Pomp, zeigte sich spießiger Geschmack und eine Jagdleidenschaft, die ans peinliche grenzte. Deren Rücksichtslosigkeit war gerade den Feudalherren früher immer angekreidet worden, wenn die Historiker des Klassenkampfes die Überlebtheit des Systems aufzeigen wollten. „Es schmerzte Friedrich Engels sehr, dass er keine eigenen Kinder hatte, aber er hatte eigentlich bis an sein Lebensende immer welche um sich, und im weiteren Sinne waren die Kinder aller arbeitenden Frauen der Welt die seinen.“ Solch eine pathetische Phrase versöhnt nicht mit Ungereimtheiten, die sich Walther Victor immer wieder gestattet. So wenn er plötzlich das Wort Personenkult einführt.

„Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus liebten keinen Personenkult.“ Steht ganz unvermittelt im neunten Kapitel. Das wäre als Hinweis darauf zu lesen, dass Walther Victor vorsichtig an Ergebnisse des XX. Parteitages der KPdSU erinnern wollte, der 1956, ich bin versucht, zu sagen: bekanntlich, Phänomene des Personenkultes um Stalin namhaft machte und für Verbrechen erklärend anführte, die in den Ländern des Sozialismus und in den Parteien, die dem Diktat der Moskauer Partei folgten, dem allerstrengsten Tabu unterlagen. Dass junge Leser allein das Wort vermutlich nicht kannten, geschweige denn, was es mehr verbirgt als verrät, darf als ziemlich sicher gelten. Doch verraten die alten Engels-Schriften von Victor, dass er für das historisch-politisch besetzte Wort eine sehr viel engere Bedeutung meinte: Personenkult war nicht Verklärung und Überhebung eines lebenden Menschen ins Göttliche, wie sie nach Stalin noch andere Führer von Kommunistischen Parteien, vor allem im Fernen Osten, erfuhren, sondern das Einbeziehen des Persönlich-Privaten überhaupt in die Betrachtung großer Persönlichkeiten. 1932, 1937 und 1938 demonstrierte Walther Victor farbig, was er 1960 recht blass wieder zurücknahm.

Sabine Kebir sei abschließend zitiert: „Einiges stellt sich im heutigen Forschungsstand anders dar als bei Victor. Dementiert werden kann die auf eine Silvesterfeier 1847 in Brüssel zielende Episode, wonach Frau Marx es abgelehnt haben soll, das unkonventionelle Paar Friedrich Engels und Mary Burns zu begrüßen. Denn Engels hatte den 31. Dezember bei dem kranken Heinrich Heine in Paris verbracht und Mary hatte Brüssel im Juli verlassen.“ Beide hatten also ein Alibi, was freilich dann doch nicht ausschließt, dass Jenny Marx die beiden nicht begrüßt hätte, wenn sie denn da gewesen wären. Jenny schrieb Engels, so Kebir, einen warmen Kondolenzbrief, als Lizzy Burns gestorben war, während Karl den Freund 1863 noch tief verletzte, als er sich nach dem Tod von Mary Burns nur knapp und kühl äußerte. Nicht davon steht freilich in „Der beste Freund“. Dafür nicht wenige Sätze, die eher aktuelle Parteilinie der SED 1959/1960 repetieren als auf Leben und Werk von Friedrich Engels bezogen werden sollten, wie der Untertitel des Buches es nahelegt. Das reicht bis zur immer noch unbelehrbar dreisten Behauptung: „Die Sozialdemokraten der Weimarer Republik haben es erfahren: sie gaben dem Raubtier Faschismus soviel Freiheit, bis es ihren Staat mit Haut und Haaren verschlang.“ War die Weimarer Republik tatsächlich der Staat der Sozialdemokraten?


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