Arthur Eloesser: Meister Bertram
Am 29. Dezember 1905 informierte die „Vossische Zeitung“ ihre Leser auf der Seite 1 oben links über die Abonnement-Konditionen des kommenden Quartals. Man hatte als Berliner Leser für Morgen- und Abendausgabe 6,50 Mark zu zahlen. Wer sich den Luxus der Freihauslieferung gönnen wollte, musste dafür acht Mark aufwenden, darin war dann aber das Botengeld inbegriffen. Der Fortsetzungsroman, den viele Leser begierig erwarteten, kam zu dieser Zeit gerade von einem am 18. September 1874 geborenen Autor namens Friedrich Werner von Oesteren, der laut Thüringer Literaturrat 1953 in Weimar starb, nähere Angaben sind offenbar bisher nicht bekannt. Der Roman, den die Zeitung abdruckte, trug den Titel „Christus, nicht Jesus“, es handelte sich zweifelsfrei um einen Vorabdruck, wie es damals üblich war, das Buch erschien erst 1906 und war, wenn die Angaben des Literaturrats stimmen, sein fünftes. Nach 1932 hat Oesteren scheinbar nichts mehr veröffentlicht. Er soll unter Pseudonym auch als Schauspieler aufgetreten sein, was vielleicht sein literarisches Schweigen erklärt. Für den Fortsetzungsroman der „Vossischen Zeitung“ war seit seinem Eintritt in die Redaktion im Herbst 1899 Arthur Eloesser verantwortlich, der am genannten Freitag auch selbst als Autor im Blatt präsent war mit dem Feuilleton „Meister Bertram“.
Drei Spalten „Unterm Strich“ auf den Seiten 2 und 3 beansprucht dieses Feuilleton. Und es verdient Aufmerksamkeit nicht nur, weil heute zufällig auch der 29. Dezember ist. „Meister Bertram“ zeigt Eloesser, der seinen Lesern vor allem unter dem Kürzel „A.E.“ begegnete, öfter auch mit vollem Autorennamen wie im vorliegenden Fall allerdings nicht, von einer besonderen Seite. Sein journalistischer Haupt-Tummelplatz war zunächst fast ausschließlich die Rubrik „Theater und Musik“, in der am 25. Oktober 1899 seine allererste Arbeit für die „Vossische Zeitung“ gedruckt wurde, atypisch für ihn, denn sie galt einer Aufführung im Neuen Königlichen Opernhaus. Später sind immer andere Autoren für Oper, Operette und Konzert zuständig, Max Marschalk zum Beispiel, dessen Name oder Kürzel sehr oft im Blatt zu finden ist. Ende 1900 erschien mit Eloessers Besprechung einer „Orestie“-Aufführung am Wiener Burgtheater erstmals eine seiner bis dahin oft kurzen Theaterkritiken unterm Strich, ausdrücklich über dem Titel als „Feuilleton“ bezeichnet, und füllte immerhin fünf Spalten auf zwei Seiten. Ob man, wie es Tina Krell tat, die Herausgeberin einer Vollständigkeit beanspruchenden Sammlung aller dieser „Feuilletons“, erschienen 2013 im Berliner Vergangenheitsverlag, den Begriff des Feuilletons daran binden darf, ist sehr zweifelhaft.
„Meister Bertram“, im genannten Sammelband als Nummer 72 nachgedruckt, wird von Tina Krell einmal als Bericht, einmal als Charakteristik, also doppelt, eingeordnet. Das ist innerhalb ihres Ordnungssystems legitim, der Bezeichnung Charakteristik wohnt außerdem im Falle Eloesser immer der Verweis auf seinen akademischen Lehrer Erich Schmidt inne, der seine noch heute lesbaren und deshalb auch sehr empfehlenswerten literaturhistorischen Arbeiten unter dem Sammeltitel „Charakteristiken“ drucken ließ (zwei Bände in der Weidmannschen Buchhandlung Berlin). Was wäre nun die besondere Seite gerade dieses Feuilletons zum Jahresende 1929? Die Antwort ist schlicht: der Gegenstand. Meister Bertram war Maler, Holzschnitzer, Leiter einer größeren und sehr erfolgreichen Werkstatt in Hamburg, Wikipedia nennt ihn umstandslos einen der größten Maler der Gotik. Sein bekanntestes Werk, der „Grabower Altar“, wiederum laut Wikipedia einer der ältesten vollständig erhaltenen Flügelaltare Norddeutschlands, zierte ursprünglich die Hamburger St.-Petri-Kirche, wurde von dort ins mecklenburgische Grabow verbracht, weil die dortige Kirche bei einem der zeittypischen Brände ihren Altar verloren hatte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam der Altar (mit eigener Wiederentdeckungsgeschichte) zurück nach Hamburg, fand Platz in der Kunsthalle, die seit dem 3. Dezember 1886 von Alfred Lichtwark geleitet wurde.
Lichtwark (14. November 1842 – 13. Januar 1914) verantwortete dann auch die erste öffentliche Ausstellung des Kunstwerks im Jahr 1905. Und Arthur Eloesser gehörte somit zu den ersten Journalisten, die es sehen durften. Sein Feuilleton „Meister Bertram“ zeigt ihn einerseits als Mann, dem auch ein Reisebericht elegant aus der Feder kommt, andererseits als kenntnisreichen, als sogar frappierend kenntnisreichen Mann im Felde der Kunstgeschichte. Literatur, ja, Theater, ja, sogar noch mehr als Literatur, das durfte man ihm jederzeit zutrauen, da waren seine Urteile prägnant und verlässlich, aber bildende Kunst des hohen Mittelalters? Würdigungen und kritische Sichtung von Urteilen darüber? Dann doch wohl eher nicht. Beginnen wir dennoch mit den Impressionen des Berliners in Hamburg. Wir wissen nicht, ob er vorher schon da war, es steht zu vermuten. Wir wissen überhaupt nur aus diesem Feuilleton, dass er zu diesem Zeitpunkt dort war, so dass es, wie andere auch, nebenher biographisch Faktisches liefert. Eloesser beobachtet das Füttern riesiger Möwen mit kleinen Fischchen als ein sichtbares Vergnügen der Hamburger. Er denkt sofort an Venedig und seine Tauben, die sich wie kameragerecht posierend zu den Touristen gesellen. Hier in Hamburg ist ihm alles echter, er möchte nicht tauschen. Und dann sieht er marschierende Japaner.
Es sind Kriegsgefangene, die aus russischer Gefangenschaft nach Hause fahren werden. Der Russisch-Japanische Krieg, der reichlich anderthalb Jahre andauerte nach dem japanischen Angriff auf Port Arthur, war seit dem 5. September 1905 zu Ende. Der Heimtransport der Gefangenen auf dem Seewege erfolgte offenbar über die deutsche Hafenstadt Hamburg. „Die Welt ist klein – riefen die Genuesen des 16. Jahrhunderts im Entdeckerstolz. Sie ist im zwanzigsten so klein geworden, dass japanische Soldaten Zigaretten rauchend am Jungfernstieg spazieren, die Lombard-Brücke überschreiten, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal besichtigen“. Die Vergnügungen des Hamburger Weihnachtsmarktes gefallen ihm eher nicht: „Ich bedauere nicht gerade, dass unser Berlin für solche traditionellen Messbelustigungen keinen Platz und keine Zeit mehr zu haben scheint, aber woanders sieht man das immer gern“. Von Jahrmarktattraktionen schreibt er: der dicksten Frau, dem stärksten Mann, dem größten Pferd. Und macht sich sofort Gedanken, was das bedeuten könnte: „Die Welt der Arbeit hat ihre Physiognomie viel gründlicher geändert als die des Vergnügens, die sich von den Kirmesfreuden des Mittelalters gar nicht so weit entfernt hat. Konservative Politiker sollten diesen Gesichtspunkt in Betracht ziehen.“ Und wir, sind wir tatsächlich 100 Jahre weiter?
Doch nicht weiße Möwen und gelbe Männer waren es, beendet Eloesser seinen Exkurs, die ihn nach Hamburg brachten: „Mein Besuch hatte einen höheren Zweck, er galt der ungemein interessanten Ausstellung, die Alfred Lichtwark in der Kunsthalle seinen Hamburgern zu Weihnachten beschert hat“. Mit dieser schlichten Aussage stehen zwei, die oben schon zitiert wurden, in Frage, denn Weihnachten 1905 ist eben nicht 1906; und es bleibt fraglich, was mit dem Altar des Meisters Bertram zwischen Februar 1903 und Weihnachten 1905 in der Kunsthalle geschehen ist. Ausgestellt ist keineswegs nur der Grabower Altar, er ist eingefügt in das Gesamtkonzept Alfred Lichtwarks: „Was sich die überragende Intelligenz und die leidenschaftliche Energie dieses smarten Direktors zum Ziel gesetzt hat, das leuchtet auch dem Liebhaber ein, der das Gebiet der bildenden Künste nur als Genießender und ganz ohne fachmännische Ambitionen betritt.“ Das ist nicht kokette Bescheidenheit eines Kritikers, der den Laien spielt, obwohl er auch in Randgebieten, die nicht den Kern seines Interesses betreffen, durchaus kompetent ist, wie das gesamte Feuilleton ja überzeugend nachweist. Es ist der Hinweis an die Leser, ohne Komplexe die Exposition besuchen zu können, ohne vorherigen Volkshochschulkurs oder Fachbuchlektüre.
„Seine alten Hamburger Meister zeigen, was früher aus dieser Landschaft herausgeholt worden ist ...“. „Lichtwark hat sich das diabolische Vergnügen gemacht, Bilder mehrerer Hamburger Maler aus ihrer vor- und nachakademischen Zeit zu kontrastieren und die Verwüstungen festzustellen, die die Akademien namentlich um die Mitte des Jahrhunderts unter den jungen deutschen Talenten angerichtet haben.“ Eloesser ist da zweifelsfrei gut informiert. Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass ihm Lichtwark in Berlin schon einmal begegnete. Der war nämlich zwischen dem Ende seines Studiums in Dresden, Leipzig und zuletzt Berlin für einige Jahre Lehrer an mehreren Volks- und Bürgerschulen dort, während der 1870 geborene Eloesser bis 1888 eben Schüler an verschiedenen Berliner Schulen war. Belege oder auch nur direkte Hinweise darauf gibt es meines Wissens nicht. „Ein wahrer Ehrensaal der Ausstellung vereinigt jetzt das Gesamtwerk des uns immer größer scheinenden Philipp Otto Runge, das der Leiter der Kunsthalle durch einen überaus glücklichen Fund vervollständigen konnte.“ Nun endlich kommt der Feuilletonist auch zum den Titel liefernden Meister Bertram und er tut gar nicht erst so, als würde er nachfolgend eigenes Wissen referieren. Er greift auf die Schrift zurück, die Lichtwark eigens für die hamburgischen Kunstfreunde verfasste.
„Seit sechzig Jahren ist der Name dieses Künstlers den Forschern bekannt; es fehlte nur das Werk, das zu ihm gehörte.“ Die eindeutige Zuordnung des Grabower Altars zu Meister Bertram ist, als Eloesser dies schreibt, noch ganz frisch, Friedrich Schlie ist sie zu verdanken. Johann Heinrich Friedrich Gustav Schlie (12. Dezember 1839 – 21. Juli 1902) war Archäologe und Kunsthistoriker, er starb übrigens in Bad Kissingen. Hätte Hamburg den Altar nicht Grabow gestiftet, wäre er in der Hansestadt selbst verbrannt, denn die St.-Petri-Kirche wurde gut hundert Jahre später Opfer des großen Stadtbrandes vom 7. Mai 1842. Eloesser folgt der Geschichte des Altars wie auch der Beschreibung seiner Details, ohne sich zu sehr in Einzelheiten zu verlieren, denn letztlich will er Besucher neugierig machen. Typisch Feuilleton ist seine Erwähnung „einer ungemein zierlichen Maria Magdalena, einem lockeren und leckeren Persönchen, wie es vor dem Meister Bertram auf einer Hamburger Gasse dahergetrippelt sein mag.“ Kunsthistorisch dagegen: „Zwar die Behauptung Lichtwarks, dass der vorschriftsmäßige Goldgrund bei ihm bereits eine Atmosphäre oder eine Raumillusion andeute, scheint mir eine allzu verliebte Passion diktiert zu haben, aber unverkennbar wird uns die Tatsache, dass Bertram als der erste seiner Zeit und noch auf lange hinaus als der einzige mit den Problemen des Lichts und des Raumes meistens erfolgreich gerungen hat.“
Eloesser macht auch auf individualisierende Kleinigkeiten aufmerksam, die gern übersehen werden: Meister Bertram „gesellt etwa zu Esel und Öchslein an der Krippe des Christkindes noch ein Schweinchen und über die Dachsparren des Stalles von Bethlehem lässt (er) ein Kätzchen schleichen“. „Seine göttlichen Personen haben im Gegensatz zu den menschlichen gleichmäßig idealisierte Züge ...“. Eloesser stimmt Lichtwark zu, wo dieser „seinen Meister den ältesten deutschen Tier- und Landschaftsmaler nennt“. Meister Bertram, so das ihm gewidmete Feuilleton zusammenfassend, „steht allein da ohne Vorfahren und auch ohne ebenbürtige Nachfahren.“ Wer dies las am 29. Dezember 1905, nahm es vielleicht gelassener hin, dass Kempinski mitteilte, seine Weinstuben seien am Silvestertag ab 5 Uhr geschlossen. Ob der Bericht über die Altersversorgung von Dienstboten ihn mehr oder weniger interessierte als das Feuilleton, muss Spekulation bleiben. Über Eloesser privat erfahren wir auf jeden Fall, dass er 1905 in Hamburg war, auf jeden Fall, dass er Venedig kannte und müssen ihm deshalb sehr dankbar sein, dass er hier und dort genau solche Informationen mit lieferte, ohne zu ahnen, dass es eines Tages die einzigen über ihn sein würden, weil sein gesamter Nachlass vernichtet wurde, spätestens 1941, drei Jahre nach seinem Tod.