Arthur Eloesser: August Stramm

Unter die Freunde des Expressionismus wird sich Arthur Eloesser kaum reihen lassen. Das war allein schon eine Altersfrage, denn auch die älteren Früh- oder Vorexpressionisten waren mehrere Jahre jünger als er selbst, August Stramm immerhin reichlich vier Jahre, Theodor Däubler, um einen zweiten zu nennen, schon reichlich sechs Jahre. Die meisten anderen sind zehn und mehr Jahre, Johannes R. Becher gar mehr als 20 Jahre jünger gewesen. So finden sich ihre Namen, falls überhaupt, auf den letzten Seiten seiner zweibändigen Literaturgeschichte. Er kann auch kaum auf eigene Vorleistungen aus seinen Jahren als Theater- und Literaturkritiker zurückgreifen, denn das Theater eroberten Expressionisten, wenn davon überhaupt gesprochen werden kann, in aller Regel erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Da schrieb Eloesser zwar auch noch oder wieder Theaterkritiken, doch bis zu seinem Wiedereinstieg bei der Vossischen Zeitung als Nachfolger des verstorbenen Alfred Klaar hatte sich der Expressionismus auf der Bühne weitgehend erledigt, Spätlinge erschienen eher als Kuriosa, es verbreitete sich, was dann Neue Sachlichkeit genannt wurde. Dennoch ist August Stramm in Band II der Literaturgeschichte eingezogen, fast unauffällig.

„Als ein Vorläufer des Expressionismus, der ihn zugleich überholt haben sollte, wurde nach dem Kriege der wackere August Stramm entdeckt, der schon 1915 in Russland gefallen war. Der Expressionismus war in seiner fertigen Beredsamkeit lästig geworden, mit seinem Mangel an Körperlichkeit, an organischer Bildung, nachdem die Diktatur des Geistes das Naturhafte zurückgedrängt, sich die Wurzeln des Werdenden und der noch stummen unterirdischen Dinge abgeschnitten hatte.“ So steigt der Literaturhistoriker ein und setzt fort: „Stramms Idee war das stumme Drama, er hat sie in mehreren Kammerspielen, wie in „Kräfte“, angelegt, das von Reinhardt gespielt, vielmehr schon ausgedrückt wurde. Stramm war des zweckmäßig mitteilenden und erklärenden Wortes müde, wollte es zurückhalten und selten machen zugunsten der Gebärde, der fruchtbaren Pause, der atmosphärischen Schwingung zwischen Dingen und Menschen.“ Es will mir scheinen, als ob hier Absichten behauptet sind, die zu belegen gewesen wären, aus Briefen oder essayistischen Äußerungen Stramms. Eloesser nennt einen einzigen Titel, „Kräfte“, das war zuerst 1915 in der Reihe der Sturm-Bücher erschienen als Band VIII und schon fünftes von Stramm.

Wer mit meinen inzwischen mehr als 60 Publikationen zu Arthur Eloesser ein wenig vertraut ist, wird von der Wiederholung einer These nicht überrascht, die an passender Stelle immer wieder herangezogen werden muss: Ausführlicher wird Eloesser immer dann, wenn er auf eigene kritische Vorleistungen zurückgreifen kann. So erklärt sich die namentliche Nennung von „Kräfte“ schlicht aus dem Umstand, dass er just dieses Spiel schon einmal besprochen hatte und zwar für „Das blaue Heft“, als es noch „Freie Deutsche Bühne“ hieß. Er sah am 12. April 1921 die Inszenierung der Kammerspiele, seine Kritik erschien in Nummer 35 vom 24. April, mit einer Besprechung von Georg Kaisers „Von morgens bis Mitternacht“ gekoppelt. Auch Siegfried Jacobsohn sah diese „Kräfte“, seine Kritik stand drei Tage früher in der „Weltbühne“. Möglich, dass Eloesser diese Kritik also kannte wie sicher auch andere aus Tageszeitungen. Dazu lassen sich keine verlässlichen Aussagen treffen. 1930 schreibt er: „Das Dramolett „Kräfte“ ist eine Moritat mit der Hauptfigur einer Eifersüchtigen, die ihren Mann töten lässt, die Lippen einer Rivalin auf den Mund des Toten drückt, um sie ihr hinterher noch abzuschneiden, bevor sie selbst zum Giftfläschchen greift.“

Just in den Jahren, als quasi Schlag auf Schlag die Werke Stramms im Druck erschienen, ein Antiquariat möchte aktuell 1500 Euro für alle sieben Sturm-Bücher haben, arbeitete Arthur Eloesser als Dramaturg am Lessing-Theater, führte selbst mehrfach Regie. So ist es sicher der Praktiker in ihm, der in der Literaturgeschichte zu „Kräfte“ abschließend befindet: „Das hätte in fertigen blanken Sätzen allerdings nicht gesagt werden dürfen. Stummheit ist immer vielsagend, das Beste bleibt unausgesprochen, aber es ist nur das Beste, wenn vorher etwas Gutes gesagt wurde. Bei Stramm meinte man diesen suggestiven Anschlag zu finden, des unbegrifflichen, des noch magischen Urworts, das die „Kräfte“ verwahrt, aber im Grunde war es der Schauspieler, der Regisseur, der sie ihm ausdichtend unterlegen musste.“ Der Regisseur war kein geringerer als Max Reinhardt, auf der Bühne standen Helene Thimig, Agnes Straub und Eugen Klöpfer. Siegfried Jacobsohn fragte boshaft, wie „Kräfte“ auf uns gekommen sein könnten: „August Stramm hatte das Manuscript dieses Dramas verloren und beeilte sich, seinem Verleger den Inhalt zu depeschieren. Wenn sonst der Mensch in seiner Qual verstummt, dem gab ein Gott zu drahten, wie er leide.“

Auf diese Ebene folgte ihm Eloesser nicht: „Stramms naturalistische Kammerspiele sind Spätlinge gewesen, und seine „Kräfte“ sind kein Frühling, wenn er auch den Rückstand etwas aufgeholt hat. Stramm wurde des Wortes müde, indem er Geschehnisse und Beziehungen rein aus sich heraus treiben wollte, aber zu wessen Gunsten ließ er das Wort verzichten? Zu Gunsten der Gebärde, der Pause, der Attraktion, der atmosphärischen Schwingung und jeder Art stummer Mitteilung.“ Das Spiel tendierte also in Richtung Pantomime? Ein wenig schon: „Mit seiner Neigung zur Pantomime und mit irgendeinem panoptikalen Zuge in seiner Phantasie hatte Max Reinhardt längst das Bedürfnis, ohne den Dichter zu dichten. Der wortkarge Stramm gab ihm den Extrakt, um ihm die ganze Auflösung zu überlassen. Reinhardt breitet, weitet, füllt mit reicher Erfindung, obgleich solche Auflösung der Essenz, wenn Stramm welche hatte, nicht hätte recht richtig sein dürfen.“ Eloesser denkt 1921 an den damals noch stummen und sehr oft sehr melodramatischen Film: „... das ist eine Moritat, das ist trotz einigen atmosphärischen Schwingungen ein ganz aus seinem Fall bestehendes Filmdrama, nur dass die Figuren selbst die Überschriften zu stammeln haben.“

„Kräfte“ auf der Bühne, so ist „breitet, weitet, füllt“ zu lesen, fordern von der Regie das genaue Gegenteil von Rotstift und waren insofern für Reinhardt sicher eine solide Herausforderung. Doch findet sich beispielsweise in der repräsentativen Text-Sammlung „Max Reinhardt. Ich bin nichts als ein Theatermann“ (Berlin 1989) nicht die Spur eines Hinweises auf August Stramm. Eloesser ist 1921 kaum bereit, in Stramm einen expressionistischen Dramatiker zu sehen: „In Wahrheit ein Naturalist, ein verspäteter Zeitgenosse von Arno Holz, ein sympathischer Kerl, der sehr beherzt in die Literatur hineinsprang, und wenn er in die ganz grünen Anfänge des Naturalismus geriet, da für ein zeitgemäßes Theater ein dramatischer Zola gesucht wurde.“ Das kollidiert freilich etwas mit der literarhistorisch üblichen zeitlichen Rahmung für Naturalismus zwischen 1885 und 1899, also auch nur fünf Jahre mehr, als dem Sturm und Drang zugestanden werden, worin sich wiederum ein allgemeineres Periodisierungsproblem manifestiert. Das aber weit weg von Stramm führen würde. „Was wird aus so viel Stilistik, wenn der besondere Expressionismus, an dem alles gut, was nicht neu war, zu Ende geht?“ Nach dieser Frage lässt Arthur Eloesser schon Georg Kaiser folgen.

Nur Agnes Straub agierte offenbar expressionistisch: „Agnes Straub allein, mit dem Aufwand, den sie sich leisten kann, trägt ihr Schicksal expressionistisch vor, gurgelt, zischt und krampft nach allen Wünschen, die August Stramm in seinen Regieklammern hinterlassen hat. Als Eifersüchtige stilisiert sie einen Weinkrampf, als Rachsüchtige tanzt sie so neurotisch wie Hofmannsthals Elektra. Sie ist so aktiv, misst so vielseitig den Umkreis darstellerischer Formen aus, dass nur der Schmerz sich nicht darstellt. Wenn diese Künstlerin still leuchten könnte aus unangestrengter Natur!“ Das sah Siegfried Jacobsohn weniger wohlwollend: „Wie sie aus einer tragischen Bedeutungsschwere, die für den zweiten Teil des „Faust“ reichen würde, unvermittelt in kalte Ekstase oder in forciertes Gebrülle fällt, wie sie sich von einem wilden Schmerzensausbruch jählings wieder beruhigt und wie nichts in ihr nachzittert: all das zeigt, wohin ein großes Talent gerät, das unsinnig angepsannt, wahllos beschäftigt und unbegreiflich überschätzt wird.“ In seiner Literaturgeschichte geht Arthur Eloesser von Stramm zu Hanns Henny Jahnn und Ernst Barlach über. Den Lyriker Stramm kennt er gar nicht. Den Postbeamten dagegen schon: der promovierte 1909 in Halle zum Welteinheitsporto.

P.S. Ich widme diese Zeilen meinem Studien- und Lyrikfreund Peter Ludewig, der 2014 in seinem Kleinstverlag in Kirchseeon „Nachtrag“ veröffentlichte, darin die Erzählung „Das Fest der Liebe“ und das Gedicht „Der Galgen“. Von August Stramm natürlich.


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