Gerhart Hauptmann: Der Ketzer von Soana

Ein mir persönlich sehr wichtiges Büchlein aus dem Jahr 1945 trägt die Widmung „Meiner lieben Gertrud zum 19. Geburtstag!“ Es ist Hans von Hülsens „Gerhart Hauptmann“, ediert im Leipziger Reclam-Verlag, in der alten Nummerierung die 6811 bis 6813. Dort steht auf der Seite 165, die ich kaum aufschlagen kann, ohne den labilen Buchrücken zu gefährden: „Das Echo, das die Dichtung fand, war ungeheuer – es war wie der Jubelschrei von Verdurstenden, die in der Wüste plötzlich auf Wasser stoßen. Trotz der Not der Zeit und der Verarmung des Publikums, war binnen kurzem die hundertste Auflage erreicht.“ Die Rede ist von „Der Ketzer von Soana“, zu Weihnachten 1917 erschienen, vordatiert auf 1918. Von Hülsen meint vermutlich das hundertste Tausend, nicht die Auflage, Friedhelm Marx nennt als imposante Zahl 141000 verkaufte Exemplare nach sechs Jahren für das erfolgreichste Prosawerk Hauptmanns.

Eine plausible Erklärung liefert Wolfgang Leppmann, wenn er meint: „Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz zu Kohlrübenwinter und Frühjahrsoffensive, Hungerblockade und Waffenstillstand, Räterepublik und Grippeepidemie, Straßenkämpfen und Geldentwertung vorstellen als die einsame, sonnendurchglühte Bergwelt des Francesco Vela.“ Wobei, das sei sofort angemerkt, Sonnenglut und Bergeinsamkeit das Werk bestenfalls teilweise charakterisieren. Überhaupt ist auffallend, dass enthusiastische Beschreibungen der Rahmennovelle eine frappierende Scheu vor der profanen Substanz des Erzählten haben. Das wiederum hat eine nahe liegende Ursache in der allgemeinen Verkniffenheit jeder Art von veröffentlichter Öffentlichkeit jener Zeit in Sachen Sexualität. Den heute Nachlebenden allenfalls vorstellbar an krassen Beispielen US-amerikanisch-evangelikaler Scheinmoral, die den Volkszorn auf Apothekenzeitschriften richtet, die auf dem Titelbild eine stillende  Mutter zeigen. Das hat außerdem eine nicht sofort auf der Hand liegende Ursache darin, dass der feinere Literaturbetrachter bis heute lieber von Eros redet, wo es um gewöhnlichen, durchaus animalischen, denn das ist er, Sex geht.

In Zeiten, da „Feuchtgebiete“ selbst die seriösesten, die konservativsten Medien animieren, mit möglichst drastischen appetitlichen wie unappetitlichen Details Marktmechanismen anzukurbeln, Empörung zu provozieren oder Empörung zu heucheln, um später gleich den selbst erzeugten Hype noch kulturkritisch mit poststrukturalistischem Tiefsinn in Feuilleton umzuschmelzen, müsste, wenigstens probehalber, der Kern des Geschehens anders beschrieben werden. Etwa so: „Notgeiler Jungpriester, Opfer katholischer Sexualmoral der vorigen Jahrhundertwende, verfällt gleich der ersten besten sexuellen Versuchung und Erfahrung derart radikal, dass er Stand und Status verlässt, um für die Mitwelt ein Ketzer zu werden.“ Das ist näher am Text Gerhart Hauptmanns, als manchem lieb sein mag. Auf diesen Kern gebracht, erscheinen Beschreibungen und Deutungen des Novellengeschehens in der Bergen oberhalb des Luganer Sees urplötzlich als ihrerseits verlogen und verkniffen und das betrifft keinesfalls nur die zeitgenössischen Exegeten, die von Eros und Kronos, von Dionysos und Christus reden und schreiben, wo es um Nacktheit, Geilheit, Orgasmus geht. Agata, der der Priester Francesco verfällt, ist zu allem noch die Frucht einer blutschänderischen Beziehung. Das Provokationspotential von Hauptmann ist ziemlich stark angereichert.

Genau das ist auch die wahrscheinliche Ursache für die Einbindung der schon sehr früh und zudem mit deutlich kirchenkritischem Akzent entworfenen Binnenerzählung in eine streng genommen nicht zwingend nötige Rahmenhandlung, die zuletzt noch die Identität von Francesco und Ludovico nahe legt, wenn auch vordergründig offen lässt. Hauptmann wollte offenbar den Urkern erhalten, der als Text auf das Jahr 1911, als Stoff und Idee bis vor die Jahrhundertwende zurückgeht. Es wäre ein selbst ideologiekritisches Unterfangen, diverse Kommentatoren und Deuter zu befragen, warum sie der kritischen Substanz keinen Namen und keine Hausnummer geben, stattdessen lieber auf Nietzsche und sein Dionysisches, auf Zola und seine „Die Sünden des Abbé Mouret“ zurückgreifen. Im faktischen Kern deutet Gerhart Hauptmanns Novelle auf die Fragwürdigkeit nicht nur katholischer Leib- und Fleischfeindlichkeit, sondern darüber hinaus und sicher in bewusstem Zusammenhang gesehen, auch auf die Naturfeindlichkeit mindestens in ihrer harmloseren Form als Naturfremdheit. Die sexuelle Initiation des Priesters ist verbunden und wird auch vorbereitet durch eine Erweckung in der und durch die Natur. Das liegt so offen im Text, dass der feinere Exeget es übersehen muss, weil das Naheliegende ihm das Fernliegende, ja das Unbekannte ist, das ihm seine Notwendigkeit bestreitet.

Hauptmann selbst hat freilich guten Vorwand geliefert, ihn so zu lesen. Er schreibt in einer auffallend überhöhten Sprache, um dem Gegenstand sowohl auszuweichen als auch zeitkompatibel nahe zu bleiben. Mit Nebenresultaten, die Würdigung verdienen: „In das Gefühl des Frühjahrs mischte sich jetzt das Gefühl des Erhabenen, das vielleicht  aus einem Vergleich der eigenen Kleinheit mit den drückend gewaltigen Werken der Natur und ihrer drohenden stummen Nähe entstehen mag und das mit einem halben Bewußtsein davon verbunden ist, daß wir doch auch an dieser Übermacht auf irgendeine Weise teilhaben.“ Das ist nicht mehr und nicht weniger als die sehr fassliche Formulierung einer Zentralkategorie der klassischen Ästhetik. In einer Nähe, die nur bessere Literatur bieten kann, findet sich überraschender Humor, mir übrigens wichtiger als die immer wieder betonten und hervorgekramten Leitmotive von fliegenden Adlern et cetera, wenn der Priester erst einem Ziegenbock und dann einer Geiß begegnet (die Assoziation des Bocksfüßigen muss nicht eigens betont werden). „Und seine schwarz bedruckten Blätter für grüne nehmend, aß sie, nach des Propheten Vorschrift, die heiligen Wahrheiten buchstäblich und gierig in sich hinein.“ Die Ziege frisst, im Klartext, Seiten aus des Priesters Goldschnitt-Brevier.

Hauptmanns Novelle kommuniziert mit Goethe, natürlich mit Goethe, möchte man fast meinen. „Keinen Augenblick gibt es, der verweilt, und wenn man auch mit angstvoller Hast solche der höchsten Wonne festhalten will – sosehr man sich müht, man findet dazu keine Handhabe.“ Ist das die neu vergebliche Ansprache an den Augenblick: Verweile doch?! Teufelspakt?! Dann wäre auch das überall und immer wieder zitierte: „Sie stieg aus der Tiefe der Welt empor und stieg an den Staunenden vorbei – und sie steigt und steigt in die Ewigkeit als die, in deren gnadenlose Hände Himmel und Hölle überantwortet sind.“ ein Fingerzeig auf das Ewigweibliche, das uns hinanzieht? Hauptmann lässt seine Novelle damit enden, auch bei Goethe steht es am Ende. So stehen wir wohl kaum vor komplett geschlossenem Vorhang mit all unseren offenen Fragen, sehen aber auf alle Fälle, dass ein Großerfolg doch nicht immer nur an eindimensionalen Vordergrund gebunden sein muss. Aus den Tiefen der neueren Literaturgeschichte Deutschlands grüßt uns einer, der sich als Repräsentant fühlte wie kaum einer und genau deshalb unser immer drohendes Überheben nicht verdient hat.


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