Blättchen für Heinz Knobloch (8)

Sicher: Jürgen Kuczynski war der vielschreibendste Vielschreiber der DDR-Literatur. Nicht sehr viel weniger sicher: Er ist zugleich der schlagendste Beweis dafür, das Vielschreiberei verächtlich zu machen eine verächtliche Übung ist. Es kommt noch immer und ewig darauf an, was denn der Vielschreiber schreibt. Es ist ab einer gewissen Höhe des Schreibens noch im neunzehnten Rang durchaus gut vergleichbar mit den Emanationen jeder Raritätenküche. Was beweist es, wenn selbst nahe Verwandte verraten, dass wohl kaum jemand je die 40 Bände „Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“ von ihm gelesen hat (vermutlich nicht einmal die Lektoren des Verlages, über deren Schreibtische die Endlos-Manuskripte pflichtgemäß rutschten)? Es hat auch innerhalb dieser keine 41 Jahre existierenden DDR wohl niemand derart viele Periodika des Landes mit Beiträgen beliefert. Hinsichtlich der Verlage freilich, die ihn druckten, könnte Heinz Knobloch ein Konkurrent gewesen sein, die Experten der Knobloch-Statistik werden rasch eine zweistellige Zahl aus dem Ärmel schütteln. Jürgen Kuczynski hat seine wertvolle Aufmerksamkeit auch Heinz Knobloch gern gewidmet. Und das (1980) ohne erkennbar schlechtes Gewissen bezüglich seiner ganz privaten Ahnungslosigkeit zu anderen Stimmen und Meinungen zu „Herr Moses in Berlin“.

Kuczynskis Aussagen zu „Herr Moses“ finden sich in seinem Buch „Jahre mit Büchern“, dort als bisher unveröffentlicht gekennzeichnet, was für insgesamt nur vier der 31 im 230-Seiten-Band gesammelten Arbeiten gilt. Kuczynski hat nicht nur den Klappentext gelesen, obwohl er den auch gleich zitiert, ehe er richtig loslegt. Zitieren wir sein Zitat: „Heinz Knobloch erzählt davon nicht im herkömmlichen historischen Roman, sondern nutzt vielerlei Genres, montiert Dokumente, sucht nach Spuren Mendelssohns im Stadtbild. So verbinden sich Gegenwart und Vergangenheit zu einer ungewöhnlichen Lebensdarstellung.“ Lassen wir beiseite, dass es neben dem herkömmlichen auch einen neuartigen historischen Roman geben könnte, der herkömmliche also nur als feiles Gegenbild berufen wird. Heute würde ohnehin auf dem Buch Roman stehen, weil sich das einfach besser verkauft. Jeder Mumpitz geht als Roman durch. Man stelle sich vor, „Herr Moses in Berlin“ wäre als „Groß-Feuilleton“ ins Regal gestellt worden. Dann hätte die Kritik noch weniger lesen müssen, denn die Erörterung der Frage, was das denn sei, hätte die Hälfte jeder Besprechung gut gefüllt. Kuczynski ist an derlei nicht interessiert, ihn beschäftigt, was tatsächlich drin steht im Buch.

Und noch einmal zitiert er, wie sich Knobloch von dieser Feature-Schreibart abgrenzt, die wir alle, soweit wir hinreichend alt und grau geworden sind, noch aus DDR-Landwirtschaftsreportagen kennen: „Staubwolken liegen über den leicht welligen Wintergerste-Schlägen der LPG „Helle Zukunft“, die Erntekapitäne wischen sich mit ihren Handrücken den Schweiß von der Stirn.“ Nein, so wollte es Knobloch nicht, so werden heute wieder oder immer noch literarische Monographien von Menschen verfasst, die nebenberuflich als Feuilletonchefs oder Literatur-Moderatoren im Fernsehen arbeiten. „Thomas Mann beugte sich über den Lenker seines vollballonbereiften Rades und dachte: Gleich bin ich bei Katja. Wie sage ich ihr, dass ich vergessen habe, Eier zu kaufen, weil ich eine Passage von „Joseph und seine Brüder“ prüfte, die in den zweiten Band passen würde. Das Kopfsteinpflaster schüttelt ihn durch.“ Solche Epen schaffen es in die Spiegel-Bestseller-Liste, doch selbst Thomas-Mann-Fans ziehen im Zweifel eher das Aldi-Nord-Prospekt als Lektüre vor. Jürgen Kuczynski ist sich allzu sicher: So müsse man die Vorteile des historischen Romans mit einer Erzählung voller Fakten verbinden, nicht mit einer „frechen Sicherheit“ des Sichhineinversetzens.

Er ist noch immer bei den von ihm diagnostizierten Untertreibungen des Klappentextes, weiß aber schon: „Ja, so muss man vorgehen! Und ich meine, dass Knobloch hier allen Biographen ein Beispiel gegeben hat.“ Schon auf der nächsten Seite heißt es: „Ich könnte mir vorstellen, dass man auch noch in hundert Jahren in einer deutschen Literaturgeschichte lesen wird, dass Knobloch der erste deutsche Schriftsteller war, der es meisterlich verstand, die Vorzüge des historischen Romans, nämlich das in Varianten phantasievolle Hineinversetzen in eine historische Persönlichkeit, mit faktologischer Darstellung zu verbinden.“ Kuczynski zieht Nutzanwendungen aus Knoblochs Buch, auf die nicht jeder gleich kommt, der es gelesen hat. Genau das wäre als eine, vielleicht die Aufgabe der Buchkritik zu bezeichnen. Es soll in der langen Geschichte der Literatur schon vorgekommen sein, dass Autoren erst von ihren Kritikern erfuhren, was alles neben dem von ihnen selbst Intendierten noch in ihren Büchern friedlich schlummert. „Aber heute macht es wirklich Vergnügen zu sehen, wie zahlreiche Dummheiten, über die man sich ärgert, keineswegs unsere eigenen schöpferischen Leistungen sind, sondern schon den guten Moses Mendelssohn bedrücken mussten.“

Knoblochs Buch beweist Jürgen Kuczynski, „wie eine Reihe von Dummheiten und Ärgernissen sich durch mehrere Gesellschaftsordnungen bis in die Gegenwart hinziehen kann.“ Jenseits des Marxismus bedurfte es solcher Beweise eher nicht mehr: eine ganze Disziplin, die philosophische Anthropologie, befasste sich (unter anderem) mit solchen Konstanten menschlichen Seins und/oder Daseins, an denen die jeweilige Gesellschaftsordnung nichts oder fast nichts ändert. Innerhalb des Staatenverbunds, der glaubte, eine höhere Gesellschaftsordnung zu verkörpern, galt eine der Haupthoffnungen gerade dem Verschwinden dieser „Dummheiten und Ärgernisse“. Als ob ihre pure Fortexistenz nicht ihre Unabänderlichkeit bewiese. Einen Passus Knoblochs griff sich Kuczynski vermutlich mit besonderem Genuss heraus: „Denn man kam leicht in den Bann, wenn man darum bat, wenigstens vorher lesen zu dürfen, wogegen man sein wollte. Oder sollte.“ Der alte Ökonom hat nicht mehr miterlebt, wie unsere neu- und großdeutsche Empörungskultur geradezu darauf fußt, sich ohne die geringste Kenntnis der Sache schon auf die Barrikade zu stellen und „Mordio“ zu rufen. Eine halbe Verlautbarung aus tausend Seiten Text und schon tropft landesweit der Speichel.

Auch Heinz Knobloch wäre vermutlich überrascht, solche Implikationen an sein Fleiß-Buch geknüpft zu sehen, dessen Eigenheiten Kuczynski keineswegs wohlwollend übersah. Der las, ich stocke kurz, darauf eigens hinzuweisen, sogar den Untertitel des Buches: „Auf den Spuren eines Menschenfreundes“. Und sah darin sofort und völlig unmissverständlich, was es sagt: „ Das heißt, Knobloch interessiert sich wenig für den Wissenschaftler Mendelssohn, sondern mehr für seine menschliche Haltung.“ Und weiter bedeutet es: „Das erklärt auch, warum Knobloch sich bei den Schriften Mendelssohns mehr für dessen Vorworte als für den wissenschaftlichen Inhalt interessiert. Alles völlig in Ordnung.“ Hätte der andere Professor, der, der ein Schlachtfest mit „Herr Moses in Berlin“ veranstaltete und die vielleicht einzige wirklich kontroverse Debatte der „Weimarer Beiträge“ jener Jahre auslöste, hätte Günter Hartung das auch so schlicht gesehen, hätte er nicht das Ein-Mann-Überfallkommando spielen müssen. Heinz Knobloch hat sich aller eigentlichen Philosophie gegenüber stets für inkompetent erklärt, deutlich beispielsweise gegenüber Michael Franz, als der ihn 1976 im Rahmen eines Interviews auf das Hegel-Kant-Glatteis locken wollte.

Hier versagt Kuczynski Knobloch seine Zustimmung, der tue „bisweilen so, als ob die menschenfreundliche Haltung Mendelssohns den ganzen Menschen, also auch den Wissenschaftler charakterisiert.“ Es ist jedoch, das wird in wenigen Zeilen sehr klar, ein tieferer Grund, der dem Kritiker gegen den Strich geht. Knobloch hat eine jener „Dummheiten und Ärgernisse“ mit dem Namen Marx gekoppelt und das kann Kuczynski nicht einfach so stehen lassen. Stand er doch, mild übertrieben, mit Marx auf Duz-Fuß. Knobloch: „Häufig beurteilen Leute die Rolle bestimmter Persönlichkeiten danach, was beispielsweise Karl Marx über jemanden gesagt hat.“ Für Leser mit Nachholebedarf: Der Einschub des Wortes beispielsweise milderte die kritische Verve, denn es ging natürlich um Marx und niemanden anderes, von dem ständig auch letztlich belanglose Zitate dazu herhalten mussten, etwas zu legitimieren oder zu diskreditieren. Das „Seichbeutel“ von Marx, auf Mendelssohn bezogen, bleibt auch dann ein Fehlgriff, wenn man ihm einen Sinn unterschiebt, wie es Kuczynski eilfertig tat. Geradezu subversiv ist deshalb Knoblochs Binnenpointe: „Wieder ein Grund mehr, sich für Herrn Moses zu interessieren.“ Kritik von „oben“ also Grund für Interesse!

Noch vor seiner Rehabilitierung des Seichbeutels schreibt Kuczynski dies: „Man freut sich über die Unabhängigkeit des Denkens von Knobloch, trotz dieser Charakterisierung Mendelssohns durch Marx ein so begeistertes Buch über Herrn Moses zu schreiben. In fünfzig Jahren wird eine solche Unabhängigkeit eine Selbstverständlichkeit sein. Heute ist sie bei uns noch selten.“ Mit anderen Worten: andere als Knobloch hätten ganz auf das Projekt Mendelssohn verzichtet oder alle ihre Kräfte auf eine Seichbeutel-Illustration verwendet. Fünfzig Jahre hat es nicht gebraucht für solche Unabhängigkeit, wie wir wissen. Was es brauchte, war einfach die Implosion der Gesellschaft, in der unabhängiges Denken auf dem Index stand. Wie es heute damit steht, wäre ein anderes Thema: Denken geht immer, Sagen und Schreiben immer seltener. Aber immer noch oft. Kuczynski nennt gute Argumente, die Mendelssohn einer Biographie würdig machen, aber „seine Bücher selbst atmen den plattesten Reformismus, in ihnen ist er ein Seichbeutel.“ Das Kätzchen ist aus der Tüte: Es geht um Reformismus statt Revolution. Wer sie nicht will, ist ein Seichbeutel. Wir heute sind keine, wir lieben Revolutionen, wenn sie außerhalb des Landes ablaufen auf öffentlichen Plätzen.

Den Nachweis, wenigstens den Versuch dazu, dass Mendelssohn kein Seichbeutel war, ist Knobloch seinem Kritiker schuldig geblieben. Und so eben auch seinen Lesern ohne jeden Professorentitel. Allerdings, siehe oben, hatte er auch zu keinem Zeitpunkt jemals diesen Ehrgeiz. „Wunderschön ist es, wie Knobloch uns an seinen Untersuchungen und Nachforschungen teilnehmen lässt, an seiner Liebe zu seltenen Büchern und seinen Analysen von Denkmälern. Pech haben Leser, die Liebhaber von guten Witzen sind, weil sie zu viele von ihm mitgeteilte schon kennen.“ Hier frönt Kuczynski nun gleich eigenen Vorlieben: er sammelte seltene Bücher zu einer privaten Bibliothek, die in der DDR ihresgleichen nicht hatte. Mit der Teilnahme an seinen Untersuchungen und Forschungen, das wissen eingeweihtere Knobloch-Leser als Kuczynski bestens, kann rasch Unmut und Unlust erzeugt werden. Im Sterne-Restaurant will ich nicht über das Kartoffel-Schälen in der Küche unterrichtet werden. Auch einen sachlichen Fehler Knoblochs zu benennen, unterlässt der Kritiker nicht, es geht um Hochöfen. Dass Friedrich der Große immer nur als „Eff Zwei“ firmiert, passt ihm ebenfalls nicht, denn, man höre, Friedrich Engels nannte den Preußen ein Genie. Basta. Und es reicht auch.


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