Alfred Andersch 100
Man hat der LITERARISCHEN WELT dankbar zu sein für ihre Frage und beide Antworten. „War Andersch ein Großer?“ gab Fritz J. Raddatz und Tilman Krause Gelegenheit, ihre Sichten zu entfalten, optisch erkennbar vorgeordnet nach Pro und Contra. Bei Raddatz ist Vorsicht geboten. Der Verdacht, er lobe, um sich selbst zu loben, ist nie gänzlich von der Hand zu weisen. Ein Blick in sein berühmt-berüchtigtes Erinnerungsbuch „Unruhestifter“, wo er beispielsweise Alfred Kantorowicz anlastet, was er selbst dann seitenlang zelebriert, offenbart bezüglich Alfred Andersch eine bezeichnende Zurückhaltung. Andersch findet nur deshalb Erwähnung, weil er eine der wahrlich wenigen Gegenstimmen war, die Raddatz zur Seite traten, als der 1979 plötzlich nach einem Dossier in der ZEIT einem medialen Shitstorm vor Erfindung des digitalen Shitstorms ausgesetzt war. Der Pro-Raddatz, gewohnt lax im Umgang mit profaner Faktizität, kennt nicht einmal den tatsächlichen Namen des autobiographischen Helden seines Lob-Objekts, der eben Kien heißt und nicht Kein. Schwerer wiegt jedoch, dass er letztlich und genau betrachtet, zum Beleg seiner These, Andersch sei ein Großer gewesen, kaum Argumente vorträgt.
Tilman Krause dagegen, der im Juli 55 Jahre alt wird, war noch gar nicht auf der Welt, als Andersch sein „Sansibar oder der letzte Grund“ erscheinen ließ, später Schullektüre im Westen, die DDR hielt es eher mit „Nackt unter Wölfen“, seit 1958 in zahlreichen Nachauflagen immer wieder gedruckt, Krause dagegen hat Argumente für sein Contra. Für ihn ist Alfred Andersch „der Mann, der immer wieder alles verdarb“. Dem wären Belege hinzuzufügen für eine ziemlich geschlossene Kette von Andersch-Entgleisungen. Sie sind hinzugefügt. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass sie ihrerseits dem wenig hinzufügen, was Marcel Reich-Ranicki schon sehr früh dokumentierte. In „Deutsche Literatur in West und Ost“ lässt sich nachlesen, was der große Zeigefinger-Schwinger an sprachlichen Fehlleistungen der grauenhaftesten Art bei Andersch aufsammelte. Und es ist immer fade, auf gerade solche Fehlleistungen bei Schriftstellern zu stoßen, die Rang beanspruchen. Politiker, Zeitungen, Prominente liefern schon genügend Stoff für viele lustige Kaminabende bei Schlaumeier und Freunden. Bücher, in denen sich solche Peinlichkeiten verteilen, konservieren Abschreckungspotential oder Stoff für hämische Neugier.
Weil Tilman Krause mehrfach auf Affinitäten zum Film allgemein und zu verschiedenen Filmen speziell bei Andersch hinweist, ohne daraus eventuell vorschnell einen generellen Zug des Schreibens bei seinem Mann herzuleiten, sehe ich mich ermutigt, auf einen kleinen Text zu kommen, der vermutlich kaum jemandem einfallen wird anlässlich des heutigen hundertsten Geburtstages seines 1980 verstorbenen Verfassers. Er heißt „Radfahrer sucht Wohnung“ und ist ein Hörspieltext. Der Diogenes-Band, in dem ich ihn las, nennt keine Entstehungszeiten für die einzelnen Hörspiele, auch Andersch selbst fand es offenbar nicht der Erwähnung wert, wann er welches der „Neuen Hörspiele“ schrieb. In anderen Nachworten war er redseliger und nutzte auch sie für Peinlichkeiten, wie etwa zu „Der Vater eines Mörders“. Selbst Michael Krüger, der im Juni 2008 nur die Neuausgabe des Titels in der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung promoten wollte, kam um einen dezent-winzigen Hinweis darauf nicht herum. „Radfahrer sucht Wohnung“ ist durch Bernardo Bertoluccis Skandalfilm „Der letzte Tango von Paris“ nicht nur angeregt, sondern stellt den Film arg direkt in den Mittelpunkt. Man könnte auch vorwegnehmend sagen: Er verwurstet ihn.
Allein die Szenerie in der leeren Wohnung mit Marlon Brando und der damals hochmutigen Nackt-Darstellerin Maria Schneider, deren früher Tod 2011 sich übrigens gestern zum dritten Male jährte, muss für Andersch so anregend gewesen sein, dass seine Phantasie ihm sofort einen Zweitaufguss vor Augen führte. So lässt er einen Siemens-Mitarbeiter mit Fahrrad vor einem Haus aufkreuzen, in dem es eine leer stehende Dreizimmer-Wohnung gibt mit Berliner Zimmer und der Möglichkeit, dem Hobby-Fotografen auch eine Dunkelkammer zu erlauben. Die junge Frau, die dem Radfahrer die Wohnung zeigt, hat Bertolucci gesehen und ist davon so angetörnt, dass sie das auch einmal probieren möchte. Der Siemens-Mann kommt dazu gerade recht, zumal der den Film nicht kennt, weil er nie ins Kino geht. Sie kommt sehr schnell und sehr direkt auf den Punkt. Das Hörspiel wendet dagegen die klassische Wegblendtechnik prüd-verklemmter Romane und Filme an: Eben rauchen sie noch in der Küche und nach dem Schnitt sieht man ein nacktes weibliches Schulterblatt unter einer Bettdecke hervorlugen, während ER seine haarige Brust etwas mehr entblößt.
Es ist eine herzlich beliebte Männer-Phantasie, so von einer fremden jungen schnuckeligen Frau auf blankem Fußboden vernascht zu werden, zu Maria Schneiders Zeiten waren zudem die Damen noch nicht allerorten epiliert, so dass alles auch noch als haarige Angelegenheit inszeniert werden konnte. So weit, so gut, man möchte sagen: Andersch brauchte vielleicht Geld und hatte schneller keine bessere Idee zur Hand für ein Hörspiel und ritsch-ratsch, war es geschrieben. Dann aber hatte Andersch jenen unseligen Wunsch, den Tilman Krause für andere seiner Werke „das bekannte deutsche Weltanschauungsraunen“ nannte. Andersch fütterte seine stundenlang nackt in der leeren, aber warmen Wohnung verbleibende Silvia, von Georgs Parallel-Nacktheit ist keine Rede, mit Sinnsprüchen von sexueller Revolution, Emanzipation und allem, was das Männerherz verständnisvoll macht, wenn es ihm zusätzliche außereheliche, außerpartnerschaftliche Sexualkontakte erlaubt, ohne vom eigenen Gewissen bedrängt zu werden. Das Totschlagargument der Zeit hieß Spießer und Spießertum. Es sank zeitig aus der Hochkultur in die Endlos-Serie der Schulmädchen-Reporte und vergleichbarer Aufklärungspornos, wo mit schönster Regelmäßigkeit das drängende Männchen zum Zuge kam, wenn es dem widerstrebenden Weibchen die Grundfrage der sanften Nötigung gestellt hatte: Du bist doch nicht etwa spießig??
Spießig ist hier eher der Siemensprogrammierer mit Fahrrad und Dunkelkammer-Ambitionen. Man mag nicht vermuten, warum er seine Filme keinem professionellen Labor in die Hände geben will, er schämt sich vielleicht seiner Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Bienen und Schmetterlingen. „Ein Spiesser ist, wer glaubt, er könne einen anderen Menschen vollständig besitzen.“ Mit solcher Bedarfsdefinition erfreut Silvia den Georg und die Hörer an den Rundfunkgeräten. Silvia ist Studentin mit Eltern in der DDR, in Rostock. Wenn sie Eltern in der Vulkaneifel gehabt hätte, hätte das dem Spiel nichts genommen und nichts gegeben. Georgs Frau heißt Elfriede, er ist von ihr geschieden und seitdem schläft er wieder genussvoll mit ihr. Das macht ihm jedoch in der einstigen gemeinsamen Wohnung nicht so viel Spaß, wie es ihm in einer neuen Wohnung machen würde. Hier kommt Tiefenpsychologie heran, wobei Tiefe als Begriff ihre volle Relativität entfaltet. Vorgeschrieben ist für die Inszenierung „Where do we go from here“ mit Oscar Peterson am Piano, Niels Hennig Örsted Petersen am Bass und Louis Hayes (Drums). Ob das mit Bertolucci korrespondiert, konterkariert oder sonstwie -iert, weiß ich nicht auszusagen.
„Radfahrer sucht Wohnung“ erhärtet Tilman Krauses Andersch-Sicht. Der zum Ende seiner Betrachtung natürlich auch auf den „Fall“ Andersch kommt. Was Raddatz tapfer vermeidet. Alfred Andersch hat die Ehe mit seiner ersten Frau Angelika, es kann hier weder in epischer Breite noch lyrischer Schmäle nachvollzogen werden, mehrfach instrumentalisiert. Angelika war Halbjüdin, überlebte den Krieg, verlor aber ihre deportierte Mutter. Andersch forcierte die Scheidung 1943 nicht nur, weil er schon eine neue Partnerin hatte, mit der er bis zum Ende seines Lebens dann verheiratet blieb, er wollte auch in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen werden, weil nur das Publikationen ermöglichte. Als der heute allseits gerühmte Schriftsteller W. G. Sebald erstmals auf dunkle Flecken in Anderschs Biografie hinwies, musste er sich noch öffentlich von berufenen wie unberufenen Verteidigern des Angegriffenen wie ein dummer Junge behandeln lassen, später gaben neu gefundene Dokumente ihm Bestätigung.
Dem Betrachter aus dem Osten der Bundesrepublik bietet sich im „Fall“ Andersch ein mehr als nur verblüffendes Studienobjekt. Denn als Jörg Döring und Rolf Seubert anno 2008 ihre Funde der Öffentlichkeit via FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG präsentierten, mussten auch sie sich belehren lassen. In der FRANKFURTER RUNDSCHAU meldete sich Sven Hanuschek. Für ihn handelte es sich um „Moralismus, der nichts kostet.“ Und er erteilte demselben auch gleich noch eine Generalabfuhr: „Der Moralismus ist eine saure Angelegenheit, mit einem statischen Menschenbild: Er billigt dem einzelnen keine Lernfähigkeit zu.“ Aus Zürich sprang ihm Roman Bucheli zur Seite. Sein knappes Fazit in NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: „Das Getöse jedoch, mit dem nun das angeblich inkriminierende Dokument vorgeführt wird, scheint symptomatisch zu sein für eine in jüngster Zeit grassierende Form des Moralismus von Erbsenzählern.“ Und Manfred Koch legte in NZZ AM SONNTAG sehr bezeichnend nach: Die Existenz von Alfred Andersch in der Nazizeit „war in vielerlei Hinsicht fragwürdig, zeitweise arbeitete er in einem völkischen Verlag. Doch genügt das, in Sebalds Manier den Stab über ihn und sein Werk zu brechen?“
Man möchte sofort und warmherzig allen beipflichten, hätte man nicht nach 1990 den vollkommen gleichartigen Umgang des westdeutschen Erbsenzähler-Moralismus mit fast aller DDR-Literatur erlebt, ohne dass sich irgendwo eine nennenswerte Stimme an prominentem Ort dagegen gemeldet hätte auch nur mit einem Teil des tiefen Verständnisses für Menschen in Diktaturen, das fast immer zur Hand ist, wenn es um Opportunismus unter Hitler ging. Da funktioniert die sonst fast perfekte Gleichsetzung nicht mehr. Log sich im Osten jemand biographisch in die eigene Tasche, wurde, wie im Fall Stephan Hermlin, sogar noch kurz vor der Messe in Frankfurt am Main eigens ein ganzes Buch gefüllt mit allen Mängeln der Hast, die sich nur denken lassen. Das Ergebnis dennoch erschütternd genug, um nicht falsch verstanden zu werden. War der Empörungsaufwand bei all den westdeutschen Top-Germanisten, die in der NSDAP waren, auch nur hörbar? Als Luise Rinser plötzlich nicht mehr nur für Eckhard Henscheid unerträglich wurde angesichts ihrer speziellen Verlogenheit, Grass nicht zu vergessen? An Erwin Strittmatter dagegen, dessen zwanzigster Todestag gerade mehr oder minder allgemein vergessen wurde, wetzten sich wieder fast alle Messer. Der „Fall“ Andersch birgt mancherlei Implikationen.
Noch einmal zu Fritz J. Raddatz, der mit einer kleinen Zeugenschar sein von ihm selbst vorsichtig vorgetragenes Pro zu stützen meint. Man muss nur bei Wolfgang Koeppen selbst nachlesen und schon sieht das ganz anders aus. Koeppen sah die Schwachstellen bei Andersch sehr wohl. Man muss nur die angeblich genaueste Analyse des Andersch-Romans „Winterspelt“ nachlesen, die Max Walter Schulz zuerst in SINN UND FORM, später in seiner Sammlung „Pinocchio und kein Ende“ vorlegte. Da war Schulz, ohne es ahnen zu können, bis in feine Details eher ein Vorformulierer dessen, was jetzt Tilman Krause geltend machen möchte. Schulz registrierte zunächst, die DDR-Kritik habe das erste Auswahlbändchen mit Andersch-Texten, es hieß „Alte Peripherie“ und erschien in der Edition Neue Texte des Aufbau-Verlages, „überhaupt nicht wahrgenommen“. Als wäre Kritik in der DDR eine Wahrnehmungsfrage gewesen. Als ich seinerzeit Claude Simons „Anschauungsunterricht“ aus der gleichen Aufbau-Reihe besprechen wollte, hieß es lapidar: Wenn der schon bei uns erscheinen darf, müssen wir nicht auch noch Werbung für ihn machen.
Als Schulz aber nun doch Werbung für Alfred Andersch machte, gab es einen guten Grund. Dessen Gedichte (spätere DDR-Auswahl „empört euch der himmel ist blau“, Aufbau 1980) weckten Hoffnung, aus dem abtrünnigen einstigen Kommunisten Andersch könne auf dessen ältere Tage vielleicht doch wieder ein im ideologischen Klassenkampf benutzbarer Autor werden. Normalerweise liebt der Partei-Marxist seine aggressivsten Feinde mehr als seine ehemaligen Freunde. Letztere hasst er und wenn sich irgendwann die Chance bietet, schlägt er zu. Das Schicksal vieler KPD-Abweichler im Vaterland der Arbeiter unter Stalin liefert schlimme Beweise. Schulz las genau und ungenau zugleich. Militärisch Unbedarfte überraschte er mit Aussagen zum Druckpunkt einer Schusswaffe, Militärkennern mutete er zu, über den Umstand, dass der angeblich beste Scharfschütze des Bataillons zwölf Schüsse braucht im Roman, um den Kurier Schefold zu töten, nicht in helle Verwunderung ausgebrochen zu sein. Man könnte freilich auch eine besonders böse Ironie bei Andersch darin erkennen, denn wenn schon der beste Scharfschütze zwölf Schüsse benötigt, wieviel Patronengurte brauchen dann die weniger guten Schützen?
Schulz formuliert diese Sätze: „Das einzig Gute an diesem Dincklage ist nur, daß er ein schlechtes Gewissen hat. Real gedacht, hat er aber kein gutes schlechtes Gewissen, sondern ein abstraktes schlechtes Gewissen. So eins macht das Kraut der Schuld so fett, daß es getrübten Augen schon wieder wie Ehre glänzt.“ In der Tat, Max Walter Schulz hat sehr genau analysiert. Mitten im August 1990, die DDR erlebte eben ihre allerletzten Tage, lieferte Alfred Andersch noch einmal Anlass für eine kritische Kuriosität. Der für ausländische Literatur zuständige Verlag „Volk und Welt“ publizierte den Roman „Efraim“ noch rasch, ehe endgültig alle Dämme für den freien Zugang aller westdeutschen Verlagsprodukte brachen und alle alten Lizenzausgaben überflüssig wurden. Und Ursula Reinhold, noch wenige Monate zuvor unangefochten Linienvorgeberin für den DDR-Umgang mit westdeutscher Literatur, was zu einer zum Teil aberwitzigen Bevorzugung von Autoren führte, deren fast einziges Qualitätsmerkmal in ihrer DKP-Nähe bestand, bedauerte nun nicht nur, dass Bölls „Ansichten eines Clowns“ DDR-Lesern nicht früher begegneten, sie verfehlte im Eifer sogar das Erscheinungsjahr des Romans um gleich etliche Jahre, sie bedauerte auch das langjährige Fehlen von „Efraim“. Wegen dessen „beklemmender Aktualität“. Wer mag, kann in einer zehnbändigen Ausgabe des Diogenes-Verlages, die dem deutschen Feuilleton vor Jahren den letzten großen Anlass vor diesem hundertsten Geburtstag lieferte, sich Alfred Andersch zuzuwenden, eigene Antworten suchen auf die Frage „War Andersch ein Großer?“
P.S. Der dictum-Verlag Ilmenau empfiehlt neu den „doppelten Ullrich“: „Meine ärgsten Freunde. Ein Vierhundert-Tage-Buch“; ISBN 978-3-95618-120-7, Softcover, 19,80 Euro.
„Restsympathien und andere. Tagebuch 2013“; ISBN 978-3-95618-123-8, Softcover, 19,80 Euro