Wulf Kirsten 80
Dies ist ein Geburtstagsgruß der kleinen Lippe. Eine große kann ich nicht riskieren, denn ich kenne Wulf Kirsten und sein Werk viel zu wenig, um den Eingeweihten spielen zu können. Ein vertraulich raunender Ton wird mir deshalb nicht gelingen müssen. Was ich gut kenne, sehr gut sogar, ist der Kirsten-Effekt. So nenne ich, zugegeben nur mäßig originell, seine mich nun tatsächlich schon lange begleitende Fähigkeit, Neugier zu wecken. Was wiederum nur halb so erfreulich wäre, führte die geweckte Neugier nicht mit verblüffender Regelmäßigkeit in tatsächlich interessante, in tatsächlich aufregende Gefilde. Wo jeder Horizont, man verzeihe das plumpe Bild, einen neuen eröffnet und man beim Rückblicken keineswegs zur Salzsäule erstarrt, sondern erstaunt bemerkt, dass man Kirsten unterwegs vergessen hat. Ich vermute, ihn ärgert das gar nicht sonderlich. Er ist einer, der eigenes Indienststellen für andere als Selbstverständlichkeit ansieht und das müssen keineswegs ausschließlich Literaten sein, auch wenn die einen Vorrang behaupten dürfen.
Ein Beispiel: In dem 1984 zuerst erschienenen Sammelband „Das unbestechliche Gedächtnis. Schriftsteller über Weltliteratur“ ist es Wulf Kirsten, der auf den unbekanntesten der dort besprochenen Autoren aufmerksam macht, falls man sich damit einverstanden erklären kann, den kaum bekannteren Japaner Sadako Kurihara doch noch als etwas prominenter anzusehen. Wulf Kirsten schreibt über Nico Rost, einen Holländer, der 1896 geboren und 1967 gestorben ist. Das Rost-Buch, von dem die Rede geht, heißt „Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit“. Es erschien 1948 mit einem Begleitwort von Anna Seghers. Die knapp fünf Druckseiten, die Kirsten füllt, sind wenig spektakulär, streng dem Faktischen verpflichtet. Wie immer bei Kirsten, möchte man überblickend ergänzen. Und: Sie wecken Neugier. Zunächst die Neugier des Nachgeborenen, der sich wundert, dass man in einem der ältesten deutschen Konzentrationslager Zeit und Muße fand, sich mit Literatur zu befassen, sich von sich selbst Rechenschaft abzulegen und alles auch noch niederzuschreiben. War dieses Lager vielleicht doch nicht so schlimm?
Nico Rost war es, teilt Kirsten mit, der den bald sehr berühmten Exilverleger Fritz Landshoff zu Querido nach Amsterdam holte. Neugier-Effekt: Ich greife zu meinen wenigen Exil-Erstauflagen, Querido dabei Fehlanzeige, sofort präsent aber Geschichten von Joseph Roth und Irmgard Keun, die ich las. Ich greife zu den Verleger-Memoiren von Fritz Landshoff, die Taschenausgabe des Aufbau-Verlages aus 2001. Dort steht die Geschichte: „Ich war daher überrascht und höchst erfreut, als im April 1933 Nico Rost zu mir kam und im Namen von Emanuel Querido fragte, ob ich daran interessiert wäre, mit ihm eine deutschsprachige Abteilung für in Deutschland verbotene oder unerwünschte Autoren zu gründen, die dem Amsterdamer Verlag angegliedert werden sollte.“ Landshoff beschreibt Rost rückblickend als extrem leichtsinnig: „Er hatte nach dem Reichstagsbrand Kesten angerufen und ihm unter lautem Gelächter erzählt, man habe schon seinen Landsmann von der Lubbe verhaftet und werde vielleicht auch ihn festnehmen, da er ja auch Holländer und Kommunist sei.“ Und tatsächlich wurde er am nächsten Tag verhaftet und landete im Konzentrationslager Oranienburg.
In den beiden voluminösen Bänden mit Briefen von Anna Seghers (Aufbau-Werkausgabe) finde ich gleich drei umfangreichere Briefe an den Adressaten Nico Rost. Und unter den Anmerkungen hinten auch ein Faktum, das bei Kirsten fehlt: „Nico Rost, der sich seit Februar 1950 in Wiepersdorf aufhielt, wurde von der DAK zum Verwalter von Bibliothek und Nachlass der Bettina von Arnim eingesetzt. Mit seiner Frau übernahm er in der zweiten Hälfte des Jahres die Verwaltung des Hauses bis zu seiner Verhaftung und Ausweisung 1951 aus der DDR.“ DAK ist das Kürzel für Deutsche Akademie der Künste Berlin. Was war da geschehen? Anders als 1984 stehen jeglicher Neugier heute ganz andere Befriedigungsmittel zur Verfügung. Die zuletzt am 31. März 2014 aktualisierte WIKIPEDIA-Seite zu Nico Rost verweist auf Zerwürfnisse zwischen ihm und Otto Grotewohl, dessen Biografie Rost schreiben sollte. Als der Chef der Niederländischen Kommunistischen Partei Rost aus seinen Mitgliedslisten strich, hatte die DDR einen guten Anlass, ihn ihrerseits des Landes zu verweisen. Der Berliner Verlag Volk und Welt, der 1948 das Dachau-Buch herausbrachte, legte übrigens 2000 eine Neuausgabe vor.
Der Kirsten-Effekt wächst nicht nur aus den essayistischen Arbeiten, die im Verlauf der Jahre entstanden und zuletzt im Schweizer Ammann-Verlag auch gesammelt wurden („Brückengang“ ist der Buchtitel). Vor allem erwächst er aus der umfangreichen Herausgebertätigkeit, die mit seinem Namen verbunden ist. Drei dicke Bände deutschsprachiger Erzählungen von 1900 bis 1945 beispielsweise begleiten mich, seit sie erschienen. Die Ausgabe, die Wulf Kirsten gemeinsam mit Konrad Paul verantwortete, ist schlicht mustergültig und bildete etwas, was man heute in anderen Zusammenhängen Cluster nennt. Von manchen Autoren ist nur in diesen Bänden etwas in der DDR erschienen, andere sind den Herausgebern bei der Suche so interessant geworden, dass eigene Bände entstanden, die Taschenbuch-Reihe der bb-Bücher lebte immer wieder von diesen Entdeckungen. Erst seit 1987 arbeitete Kirsten freiberuflich und bis heute produziert er Bücher, die sich in den Dienst anderer Autoren stellen, darunter auch eine in jeder Hinsicht große Lyrik-Auswahl für den Ammann-Verlag („Beständig ist das leicht Verletzliche“), die leider für schmalere Geldbeutel kaum erschwinglich ist.
Genau das war ein Gegenstand des einzigen längeren Gespräches, das ich je mit Wulf Kirsten hatte am Rande einer Jahrestagung der Literarischen Gesellschaft Thüringen, deren Arbeit, wie mir scheint, er zunehmend unerfreut begleitet. Anknüpfungspunkt für ihn war ein Namensvetter von mir, Eckhard Ulrich, von dem sechs Gedichte jene berühmte Anthologie beschlossen, die 1968 unter dem Titel „Saison für Lyrik. Neue Gedichte von 17 Autoren“ erschien und dem Herausgeber Joachim Schreck, dem Aufbau-Verlag und auch einer Anzahl von Beiträgern nicht wenig Ärger eintrug. Ich erzählte Kirsten davon, wie ich mit meinem bis heute pfleglich behandelten Exemplar meinen auf Mathematik, Physik und Chemie spezialisierten Klassenlehrer an der Ilmenauer Goethe-Schule dazu brachte, tatsächlich zu glauben, ich hätte diese Gedichte geschrieben. Auch heute erreicht mich bisweilen eine Anfrage zu jenem Lyriker, der Arzt in Halle war und ich muss immer Ahnungslosigkeit und Unbeteiligtsein bekunden. Einmal habe ich an Wulf Kirsten weiter verwiesen und weiß nicht, ob die Verbindung zustande kam.
Ich finde in einer Gedicht-Besprechung (zu: „stimmenschotter“) von Michael Buselmeier aus dem Jahr 1991 einen passenden Satz: „Ein Schriftsteller, ein Wissenschaftler mochte noch so verschollen sein, Wulf Kirsten kannte ihn und zählte seine Verdienste auf.“ Buselmeier hatte Kirsten im Weimarer Aufbau-Verlag aufgesucht und ihn in der obersten Etage ganz hinten gefunden. Nur wer ein eigenes umfangreiches Privtarchiv führt, wird den ausnahmsweise produktiven Neid nachfühlen können, zu dem ich mich durch den zitierten Satz berechtigt fühle. Das Entdecken Verschollener und Vergessener ist eine wunderbare Sache, noch wenn nicht die geringste Aussicht besteht, den Betreffenden neue Neugier zu organisieren. Kirsten selbst hat über das starke Auseinanderklaffen seiner Resonanz in Rezensionen, Interviews und Interpretationen und den Verkaufszahlen seiner Bücher einem Interviewer 2004 gesagt: „Gemessen an der Einwohnerzahl Deutschlands sind tausend bis zweitausend verkaufte Exemplare lächerlich. Aber ich weiß, wo ich lebe.“ Der Autor, der in Deutschland kein Romanfließband betreibt, muss selbst bei drei Preisen jährlich nicht die Mütze ins Gesicht ziehen, um unerkannt zu bleiben.
Kirsten hat neben etlichen anderen auch den Josef-Breitbach-Preis bekommen, den am höchsten dotierten Literaturpreis Deutschlands. Wäre dieser Preis weniger exorbitant ausgestattet, würde wohl bis heute nicht einmal der Namensgeber des Preises gegoogelt für eine kleine Pressemitteilung. So aber hat Wulf Kirsten seit dem Peter-Huchel-Preis spätestens Insider-Aufmerksamkeit fast im Übermaß, in die Bahnhofsbuchhandlung aber schafft er es auch mit 80 Jahren nicht mehr. „Ich bin angetreten mit der verwegenen Absicht, etwas hinzuzuschreiben.“, bekennt Kirsten im genannten Interview, und sofort anschließend: „.. nehme ich es lieber auf mich, ein Fremdkörper auf Lebenszeit zu bleiben.“ „Fremdkörper auf Lebenszeit“ wäre eine viel schönere Überschrift für gedruckte Kirsten-Lobreden als all dieser Sammler-Variationen zu ihm, der auch ein Merlin sein soll und was noch alles. Volker Hage hielt 2001 bei Gelegenheit von Kirstens Prosa „Die Prinzessinnen im Krautgarten“ fest: „Behutsamer und deutlicher als der Lyriker es tut, lässt sich von jenen Maitagen kaum erzählen.“ Gemeint war das Agieren der sowjetischen Befreier 1945. Das ist ein Superlativ, vor dem sich wohl ganze Busladungen von Autoren fürchten würden, denn behutsame Deutlichkeit verhilft niemandem auch nur in eine Dorf-Talkshow.
Behutsam ist auch die Liebeserklärung, die einst Heinz Czechowski dem Freund widmete. So wenig Marktgeschreie würde heute selbst dem wohlwollendsten Verleger im Interesse seiner Umsätze den Angstschweiß auf die Stirn treiben. „Er selbst, still und etwas in sich gekehrt, redet kaum von sich und seinen Problemen. Er arbeitet.“ Das Minimum wäre ein Roman über einen Autor, der kaum redet und stattdesssen arbeitet, wie einst Hera Lind, die wohltuend vergessene Mater Dolorosa der Wegwerfschwarte immer, wenn sie ein Kind erwartete, einen Roman schrieb über eine Frau, die ein Kind erwartet und wenn sie es dann hatte, einen Roman über eine Frau, die während sie ein Kind erwartet, einen Roman darüber schreibt. Kirsten aber entlässt lieber Sätze wie diesen in die Welt: „Am liebsten würde ich jeden in Thüringen lebenden Schriftsteller, der etwas auf sich und sein Metier hält, dazu verdonnern, den Kleinen Gleichberg zu erklimmen, am besten zur Zeit der Bärlauchblüte.“ Nun möge jeder in Thüringen und außerhalb lebende Autor sich prüfen, ob er etwas auf sich hält, dann den Fotografen der einheimischen Zeitungen den Tipp geben, wann sich die erklimmenden Karawanen am günstigsten belichten lassen.