Ödön von Horvath: Glaube Liebe Hoffnung

Die Randbemerkung zu „Glaube Liebe Hoffnung“ übt auf einen, der mindestens einmal in der Woche zwei bis fünf Amtsgerichtsverhandlungen verfolgt und über sie schreibt, eine ganz spezielle Anziehungskraft aus. Ödön von Horvath schildert dort, wie eines Tages im Februar 1932 ein Bekannter in München im Gespräch die Frage aufwirft, „warum sich also diese Dramatiker fast niemals um die kleinen Verbrechen kümmern, denen wir doch landauf-landab tausendfach und tausendmal begegnen“. Es folgte die Schilderung eines konkreten Falles aus der eigenen Gerichtserfahrung des Mannes, er hatte ihn in der MÜNCHNER POST Mitte Juli 1929 dargestellt. Und Horvath machte daraus seinen „Kleinen Totentanz in fünf Bildern“, als dessen Mitarbeiter folgerichtig Lukas Kristl immer genannt wird. Wilhelm Lukas Kristl war knapp zwei Jahre jünger als Horvath, überlebte ihn jedoch um etliche Jahre, er veröffentlichte selbst eine Reihe von Büchern. Beide lernten sich bei Oskar Maria Graf kennen.

„Glaube Liebe Hoffnung“ ist ein unglaubliches Stück und es ist hier ausdrücklich nicht davon die Rede, wie es auf der Bühne, sondern davon, wie es im Buche steht. Wer einmal diesem in Rijeka, als es noch Fiume hieß, geborenen Diplomatensohn verfallen ist, wird sich schwer lösen können. So nehme ich den heutigen 111. Geburtstag von Ödön von Horvath als gute Gelegenheit, abseits eines Theaterabends eine Prise Bewunderung in Worte zu fassen. Ich sah „Zur schönen Aussicht“ im Weimarer e-Werk, die „Geschichten aus dem Wienerwald“ in Coburg und zuletzt „Kasimir und Karoline“ in Gera (nachlesbar alles in THEATERGÄNGE) und jede dieser Inszenierungen ließ spüren, wie ihre Substanz Regie und Spiel beflügelten. Es war eine Freude zuzuschauen und es ging auch unter die Haut. Während im Theaterparkett jedoch viel Aufmerksamkeit darauf verwendet wird, die gar nicht so verstohlenen Tränen wenigstens halbwegs unauffällig in Taschentuch, Schal oder Ärmel zu reiben, hat der „Kleine Totentanz“ als Lesetext den Vorteil, dass man aufstehen kann zwischendurch, wenn die Bewegung zu stark wird. Der Blick nach der noch immer nicht vorgefahrenen gelben Post hilft und dann sind fünf Bilder auch nicht so lang wie „Wallenstein“.

Mit der Folgerichtigkeit antiker Schicksalsdramatik läuft das kleine hoffnungsvolle und chancenlose Leben der Elisabeth auf sein Ende zu. In der 114. Szene von „Kasimir und Karoline“ hieß es, von Karoline gesprochen: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabeigewesen.“ In Szene 12 des fünften Bildes von „Glaube Liebe Hoffnung“ sagt Elisabeth, gegen ihren Willen aus dem Wasser gerettet, in das sie gegangen war: „Jetzt war ich schon fort und jetzt geht's wieder los – und niemand ist zuständig für dich und du hast so gar keinen Sinn.“ Es hilft nicht, dass der Vizepräparator aus der Gerichtsmedizin sie mit dem Hinweis tröstet: „... jeder Mensch hat seinen Sinn im Leben, und wenn nicht für sich selbst, dann für einen anderen.“ Elisabeths Antwort ist unübertreffliche Trostlosigkeit: „Ich nicht.“ Diese nackten beiden Worte bezeichnen eine abgründige Lebenstraurigkeit.

Natürlich ist abrufbar, was Erna in „Kasimir und Karoline“ sagt: „Aber die Menschen wären doch gar nicht schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät. Es ist das eine himmelschreiende Lüge, daß der Mensch schlecht ist.“ Elisabeth geht es so schlecht, dass sie gegen 150 Mark ihren Körper dem anatomischen Institut vermachen möchte, sie hat Schulden aus einem Gerichtsurteil mit Geldstrafe, weil sie ohne Gewerbeschein angetroffen wurde und auch ein neuer Gewerbeschein kostet Geld. In Zeiten, da selbst die Gattin eines Amtsgerichtsrates von Haustür zu Haustür zieht, Korsagen zu verkaufen, um mit den Einnahmen die Haushaltskasse vor allem natürlich zu eigenen Gunsten aufzubessern, ist es hart, Umsätze zu machen. Und anders als heute, da selbst mehrere Vorstrafen noch lange nicht ins Gefängnis führen, nicht einmal allzu schnell zu einer Verurteilung auf Bewährung, wandert Elisabeth für zwei Wochen ins Gefängnis und nun ist sie eben nicht nur vorbestraft, sondern auch eine Haftentlassene.

Niemand kann von ihr verlangen, das jedem und jeder als erstes zu sagen, wenn es dann aber ruchbar wird, tritt mit der entsprechenden Zeitverzögerung ein, was sonst gleich eingetreten wäre. Noch die bescheidenste Chance wird ihr aus der Hand genommen. Und der Schutzpolizist, der bereit ist, sie zu schützen und wie alle anderen kein schlechter Mensch, wendet sich ab von ihr, weil sie als seine Gefährtin seine wahrlich bescheidene Karriere zu gefährden droht. Er steht in nur halber Uniform im Schrank wie in der dümmsten Komödie, als die Sittenpolizei anklopft. Es ist ein wenig wie in „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ bei Fallada, nur eben tatsächlich auf kleine, ganz kleine Verbrechen bezogen. „Ohne Glaube Liebe Hoffnung gibt es logischerweise kein Leben. Das resultiert alles voneinander“, sagt der Schupo zu Elisabeth. Und in der folgenden Szene herrscht der Amtsgerichtsrat seine Gattin an: „Was weiß denn du schon von der großen Not? Wo man doch tagaus tagein die armen Leut verurteilen muß, zu guter Letzt bloß weil sie kein Dach über dem Kopf haben!“ Die Gattin freilich kennt sich selbst aus. Sie belehrt Elisabeth, die von sich sagt, sie sei keine Betrügerin: „Darauf kommt es auch nicht an, Fräulein! Sondern ob der Tatbestand des Betruges erfüllt ist, darauf kommt es an!“ Den Satz habe auch ich schon im Amtsgericht gehört und die ungläubigen Blicke der Angesprochenen beobachtet.

Im vierten Bild gibt es einen Dialog, den ich komplett zitieren mag. Elisabeth: „Es müssen halt immer viele Unschuldige dran glauben.“ Schupo: „Das läßt sich nicht umgehen in einem geordneten Staatswesen.“ Elisabeth: „Das seh ich schon ein, daß es ungerecht zugehen muß, weil halt die Menschen keine Menschen sind – aber es könnt doch auch ein bißchen weniger ungerecht zugehen.“ Schupo: „Also das ist Philosophie.“ Der zunächst nicht auf Anhieb verständliche Satz Horvaths: „GLAUBE LIEBE HOFFNUNG könnte jedes meiner Stücke heißen.“ ist von hier aus besser zu verstehen. Ob der Dichter, ob sein Mitautor operativ in der Tat bestrebt waren, auf die humanere Anwendung dieses oder jenes Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch hinzuwirken, sei unbenommen. Horvath auf alle Fälle wollte „möglichst rücksichtslos gegen Dummheit und Lüge ... sein, denn diese Rücksichtslosigkeit dürfte wohl die vornehmste Aufgabe eines schöngeistigen Schriftstellers darstellen.“

Im kommenden Jahr jährt sich zum 75. Male der Unglückstag, an dem Ödön von Horvath in Paris von einem herabstürzenden Baumast erschlagen wurde. Christian Milz, der eben im Wiener Passagen Verlag „Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller“ veröffentlichte, hat mich auf die Darstellung der speziellen Umstände in Carl Zuckmayers „Als wärs ein Stück von mir“ hingewiesen (in der 66er Fischerausgabe auf den Seiten 107 bis 113 nachlesbar). In aller Stille hoffe ich, noch vorher die nächste Gelegenheit zu nutzen, die sich bietet. Notfalls erfinde ich sie, um wieder mit Horvath umgehen zu können.


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