Robert Minder betrachtet Wieland
Dem Einwand, andere hätten deutlich mehr für den Nachruhm Christoph Martin Wielands getan als Robert Minder, lässt sich mit einem Kalauer begegnen: Deshalb hieß er auch Robert Minder und nicht Robert Mehr. Doch soll es hier keineswegs um Ranglistenvorschläge gehen, zumal der Schluss des Essays, von dem ausschließlich die Rede ist, schlicht so lautet: „Wieland ist neu zu entdecken. Eine schöne Aufgabe für die Pädagogen wie für die Literaturkritiker!“ Der 1902 geborene Franzose Robert Minder hat, Arbeitshypothese für Gegenbeweisantreter, auf zwölf Seiten mehr gesagt und mit dem Gesagten mehr lustvolles Nachdenken animiert zu Wieland und weit darüber hinaus als andere auf vielfachen Druckvolumina.
Da wäre, auch wegen der trocken-unpathetischen Art der Feststellung, noch heute eine verblüffende Entgegensetzung zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland zu registrieren, die fast noch stärker verblüfft, wenn man das Publikationsjahr der Minderschen Arbeit bedenkt: 1966. Da steht zunächst: „Seine Verserzählungen sind das Meißner Porzellan der deutschen Literatur. Seit langem werden sie im östlichen Teil Deutschlands wieder aufgelegt.“ Und eine knappe Seite weiter, bezogen speziell auf Wielands „Oberon“: „Es ist bezeichnend, daß ein so glorreiches, von Goethe in den Himmel gehobenes Werk, in Westdeutschland fast in Vergessenheit geraten ist. Die Gymnasiasten werden mit Rilke und Hölderlin vollgestopft, während Wieland ob seiner Leichtigkeit suspekt bleibt.“
Hans Mayer hat 1982, zwei Jahre nach Robert Minders Tod, an eine Aussage einer eigenen Besprechung des umfänglichen Minder-Buches „Dichter in der Gesellschaft“ erinnert und den Franzosen einen „Klassiker der Koexistenz“ genannt. Mir ist er vor allem ein Klassiker der souveränen Übersicht. Der europäische, mindestens europäische, Zusammenhänge mit einer Selbstverständlichkeit im Blick hat, die schon an und für sich pure Bewunderung verdient, die aber eben auch fast Satz für Satz anregt, Dinge anders zu sehen als bisher, als, auf uns hier bezogen, aus rein deutscher Sicht. Schon unsere Fixierung auf unsere Klassik, die in näherem Betracht ja letztlich bis heute fast nur als Weimarer Klassik verstanden wird, erscheint in Minders Lesart als irgendwie eng. Das Zusammendenken deutscher und englischer Entwicklungen im 18. Jahrhundert im Kontrast zur französischen eröffnet auf diesen wenigen Seiten vollkommen frische Sichten, bei denen es wenig darauf ankommt, ob einer oder eine sie ähnlich zuvor oder daneben schon einmal ähnlich zu Papier brachte.
Robert Minder fuchtelt mit keinem Vulgärmaterialismus und das, was der Ostdeutsche, der 1966 ja ein DDR-Bürger war, als das üblich-unvermeidliche Klassiker-Zitat kannte, kommt bei ihm nicht vor. Wohl aber eine sonnenklare Aussage über eine in der Tat übersehene einfache Tatsache, deren Einfachheit vielleicht schon der ganze Grund war, warum sie auf urdeutsche Weise übersehen wurde: „In ihrer soziologischen Ignoranz hat die Literaturwissenschaft nicht erkannt, daß bei den verschiedenen Repräsentanten der deutschen Klassik zu Beginn immer der gleiche Frauentypus steht, der einer höheren sozialen Schicht entstammt und den jungen Verehrer erzieht und protegiert. Der Aufstieg in die höheren Sphären wird um den Preis einer gekonnten Stilisierung erreicht.“ Die zu Goethe, Schiller, Herder, Hölderlin und eben Wieland passenden Namen dürfen hier ausgespart werden.
Nicht weniger einfach und dennoch kaum bedacht als Gesamtphänomen ist dies (oder war es 1966): „Es ist wichtig zu erwähnen, welche Rolle die Städte außerhalb Deutschlands für das literarische deutsche Erwachen besaßen...“. Robert Minder nennt Kopenhagen, Straßburg, Zürich, Bern und später malt er nur andeutend aus, was vielleicht aus Wieland hätte werden können, wenn ihn, wie durchaus erwünscht, Joseph II. nach Wien gerufen hätte und nicht Anna Amalia aus Erfurt nach Weimar, um ihren Carl August für Goethe weichzuklopfen. Urbanität war etwas, das in Kleinteildeutschland bis dahin im Prinzip kaum vorkam, auch wenn Anna Amalia durch ihre Aktivität, wie Minder es sieht, „den erstaunlichen Aufstieg Weimars begründete, dieses Marktfleckens mit sechstausend Einwohnern, irgendwo im Schlamm und Dreck des Thüringer Waldes.“ Nun aber die neue Situation mit Nebenwirkung: „Die deutschen Klassiker haben durch die Einführung einer urbanen Vorstellungswelt in die Literatur an der Emanzipation der Frau mitgewirkt.“ Auch hier dürfen die passenden Namen ausgespart bleiben.
Wielands Leistung benennt Robert Minder nur scheinbar literaturfern mit dem unprätentiösen Wort Weltgewandtheit: „Wielands Weltgewandtheit fand sich nicht nur in seinen Büchern. Als erster empfing er in Weimar mit offenen Armen den der Demagogie verdächtigten Schiller. Als einziger hat er das Genie von Kleist gespürt und mit Sicherheit dessen Selbstmord hinausgezögert.“ So kann man allseits bekannten Fakten überraschende Aspekte abgewinnen. Die in aller Kleistliteratur natürlich wieder und immer wieder geschilderte Geschichte zwischen dem alten Wieland und dem jungen Kleist hat, das glaube ich Minder sofort, auch diese Seite gehabt. Eine, die man nicht mit neu aufgefundenen Dokumenten oder anderen Interpretationen bisher dunkler Sätze zur These machen muss, hier spricht Evidenz ihre machtvolle Sprache.
„Sein Verdienst ist es, durch eine geschmeidige, raffinierte und melodische Sprache kultivierte Leser gewonnen zu haben, die bisher der deutschen Sprache nur widerstrebend gegenübergestanden und sich vor allem der ausländischen Literatur zugewandt hatten. Es ist ihm zu verdanken, daß sich das durch wohlgesetzte Worte leicht verführbare Österreich den deutschen Dichtern öffnete.“ Was für eine feine spitze These. „Vermutlich ist es chimärisch, eine Wieland-Renaissance zu erhoffen, die ein breites Publikum erreicht. ... Jedoch kann und sollte Wieland zu einem „lebendigen“ Klassiker für eine Elite werden.“ Was für eine noch feinere, noch spitzere, fast hinterhältige Wunschvorstellung ist da in aller gespielten Unschuld niedergeschrieben. Abschließend sei erwähnt, dass Robert Minder natürlich auch vom deutschen Hain-Bund weiß, der Wielands Werke verbrannte öffentlich lange bevor Bücherverbrennung Synonym wurde für deutsche Kulturbarbarei. Darauf wird zurückzukommen sein. Unabhängig vom heutigen 200.Todestag Wielands.