Wie der SPIEGEL um Heinrich Böll trauerte
Als Heinrich Böll am 16. Juli 1985 starb, es war ein Dienstag, war die Ausgabe 29 des Hamburger Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL gerade am Vortag erschienen. Der Nachteil, nicht ganz aktuell reagieren zu können, musste folglich in den Vorteil umgemünzt werden, fast eine Woche Zeit zu haben, um diesen Tod zu verarbeiten. Nicht selten in seiner Geschichte hat der SPIEGEL, auf journalistischen Neuwert bedacht, solche Zeiträume benutzt, um das Material in die eigene Sicht einzubeziehen, das die Tageszeitungen, vor allem die, mit denen man in Hamburg den Vergleich nicht nur nicht scheute, sondern sogar liebte, vorgelegt hatten. Man hatte (und hat) seine Lieblingskonkurrenten, sprich Mitbewerber, auf die man im Lauf der Jahre fast wie Pawlows Hund reagiert, man hat aber auch unter den schreibenden Kollegen solche, denen man bisweilen gern auf dem falschen Fuß begegnete. Am 22. Juli 1985 aber geschah etwas Besonderes. Ganze neun komplette Druckseiten (132 – 139) ohne eine einzige Werbung dazwischen oder im Text selbst widmeten sich dem in seinem 68. Lebensjahr verstorbenen Nobelpreisträger.
Anders als 1961, als der SPIEGEL Böll eine Titelgeschichte widmete, die sich zwar über mehr Seiten hinzog (71 – 86), aber voller Anzeigen war, öfter blieb dem laufenden Text nur eine Spalte auf der Seite, auch zwei komplette Anzeigenseiten streckten das Volumen. Mal ging es um eine „kompromisslose Zahnpasta“, mal um einen UKW-Autotransistor, mal um „Plasticfolie“ für die Bauwirtschaft oder auch um Flüge der Lufthansa nach Südamerika mit der Boeing Jet 720 B. Mit dem Kölner Böll hatte das wenig zu tun, immerhin ist eine dieser Anzeigen noch von einem gewissen Interesse, weil die beworbene Großfirma am 22. Juli 1985 in dem Nachruf eine Rolle spielt, den Hans Magnus Enzensberger als einer der Beiträger zu Papier brachte. „Eine Königin unter den Zigarren“ lässt sich dann doch auf Böll, den Raucher, beziehen, der es freilich eher mit den Zigaretten hielt, genauer mit Unmengen von Zigaretten, und über der Zigarren-Reklame steht „Original Eau de Cologne“. Jetzt aber neun werbefreie Seiten, verfasst von den üblich anonymen SPIEGEL-Redakteuren und dazu mit jeweils eigenen Überschriften Beiträge von Rudolf Augstein („Der unheilige Narr“), Hans Magnus Enzensberger („Der arme Heinrich“), Siegfried Lenz („Der große Kumpel“) und Leon Szulczynski („Wir müssen das Unsrige tun“).
„Adieu, geliebter und verehrter Freund.“ beendet Herausgeber und Übervater Rudolf Augstein seinen ganz persönlichen Nachruf und damit ist klar, warum der SPIEGEL so und nicht anders auf gerade diesen Tod reagierte, ihn nicht in den hintersten Teil verschob und dort gar unter die Personalien, wie es vielen anderen, kaum sehr viel weniger prominenten Toten geschah (und bis heute geschieht). Böll war, den Titel eines Sammelbands von Marcel Reich-Ranicki zu zitieren, der wie fast immer die kürzeste und prägnanteste Formel fand, „Mehr als ein Dichter“. Dieses „Mehr“ begründet die exorbitante Aufmerksamkeit und die ausdrücklich ausgestellte Nuanciertheit im Rückblick. Während Siegfried Lenz, der Freund, der Böll einmal auch selbst ausführlich interviewte (nachzulesen in dem Lenz-Band „Über Phantasie“), sich überzeugt gab, das fortgesetzte Nachleben Bölls betreffend, widersprach dem Rudolf Augstein gleich zu Beginn seiner Arbeit: „Kaum wird man in hundert Jahren (wenn dann überhaupt noch gezählt wird) den Nobelpreisträger Heinrich Böll unter die Jahrhundertschriftsteller zählen...“. Kurz nach dem 90. Geburtstag Bölls fragte das ZEIT-Magazin (Ausgabe 32 vom 2. August 2007) schon in Versalien: WO IST BÖLL? Und antwortete sich selbst: „Die Deutschen haben ihren Nobelpreisträger vergessen“.
Irrte sich Siegfried Lenz also gewaltig, als er glaubte: „Heinrich Böll, der Schriftsteller, der in seinem Werk lediglich seine Zeit darstellen wollte und damit für alle Zeiten schrieb, wird nicht in Vergessenheit geraten.“ Es scheint so zu sein. Mitternächtliche Gedenksendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus Anlass des dreißigsten Todestages bestätigen das eher als sie es entkräften. Ist also forcierte Zeitgenossenschaft, die Böll nun wirklich niemand abspricht, am Ende doch tödlich für den Nachruhm? Die anonymen SPIEGEL-Redakteure stellten für den 22. Juli 1985 ihren einleitenden, rund vier Seiten umfassenden Beitrag unter die fragende Überschrift „Wie gut ist Heinrich Böll?“ Die Frage setzt den Zweifel bereits voraus und überraschte zu diesem Zeitpunkt niemanden. Zweifel an der literarischen Qualität der späten Romane Bölls vor allem waren gewissermaßen Allgemeingut geworden: „Seine Literatur war stets mehr eine für Leser als für Literaten.“ Letztere aber haben Deutungshoheit und die Furcht, die der SPIEGEL eingangs beschreibt, die Furcht Heinrich Bölls vor der professionellen Kritik, war begründet und nachvollziehbar. Die Vernichtung von „Frauen vor Flusslandschaft“ erlebte Böll nicht mehr, die von „Fürsorgliche Belagerung“ aber war ihm sehr nahe gegangen.
Dagegen spricht keineswegs der bisweilen erschütternd klare Blick, den Böll auf sich selbst richtete. Im genannten Interview mit Siegfried Lenz hieß es schon: „Es ist ja immer auch die Gefahr, dass man selbst zum Klischee wird. Das ist eine Gefahr, der wir alle erliegen. Wir wählen uns selber zum Klischee.“ Das Gespräch wurde am 5. Februar 1982 in Bremen aufgezeichnet. Und als Amos Leslie Willson 1983 für PARIS REVIEW mit Böll sprach, sagte der brutal lapidar: „Ich besitze keine Meisterschaft.“ Willson (14. Juni 1923 bis 28. Dezember 2007), ein texanischer Germanist und Yale-Professor, fragte zurück: „Ist das nicht eine fatale Erkenntnis für einen Schriftsteller?“ und Böll antwortete: „Eigentlich ist sie hilfreich – sie verhindert, dass Dinge zur Routine werden.“ Das bessert die späten Romane freilich nicht, was jedoch auch keinen Grund darstellt, mit ihnen gleich das Gesamtwerk seit Ende des Krieges zu begraben oder im Museum für alte Kulturen auszustellen. Etwas bleibt: „Kein Autor ist mit seinen Werken und Schriften so kontinuierlich und dicht an der bundesdeutschen Realität geblieben wie der sanfte Realist Böll.“ „Auch wenn er es nicht wollte: Er wurde eine moralische Instanz.“
Die SPIEGEL-Redakteure erinnern an die beispiellose „Sympathisanten“-Hetze nach Bölls Artikel im Nachrichtenmagazin „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ (10. Januar 1972): „Der Fall wird als eine bundesrepublikanische Schändlichkeit in Erinnerung bleiben.“ Dafür meinte Rudolf Augstein, Böll hätte durchaus auch den Friedensnobelpreis bekommen können: „Kaum ein anderer hat mit solch vergnüglicher Beharrlichkeit und Bosheit im Nachkriegsdeutschland Frieden gestiftet.“ Die Zeit prophylaktischer Friedensnobelpreise für amerikanische Präsidenten war noch nicht angebrochen. Hübsch liest sich heute, wie Augstein, ein Haar in der Suppe seines Freundes zu finden, an Hans Schnier, dem Helden aus „Ansichten eines Clowns“ moniert, dass der und gar mit welcher Begründung seinen Cognac im Eisschrank lagert. „Die Eigenheiten zählen nicht mehr. Böll ist nun tot. Ihn werde mehr Leser vermissen als irgendeinen Erzähler deutscher Sprache..“. Augstein versäumt nicht, dem Kollegen Fritz J. Raddatz unter die Nase zu reiben, dass Böll den Russen Solschenizyn eben nicht aus dem Gulag holte. Der Nachruf von Raddatz war unter der Überschrift „Der Tod einer Instanz“ in der ZEIT erschienen, Ausgabe 30/1985, drei Tage vor dem SPIEGEL.
Der gegenstandsunabhängig immer scharfzüngige Hans Magnus Enzensberger sah manches anders: „Heinrich Böll war der Held eines bösen, höhnischen Märchens. Ein Missverständnis war geschehen, wie es einem nur im Alptraum zustößt. … Heinrich Bölls Erfolg parodierte den der Lufthansa, der Deutschen Bank, der Daimler-Benz AG, den Erfolg einer ganzen Republik, gegen den er sich mit Händen und Füßen wehrte.“ Nach Enzensberger verdarb es sich Böll mit den Anhängern „des Ewig Schönen“ ebenso wie mit den Anhängern „des Ewig Neuen“. „... die Reichen verstand er so wenig, dass er, der Erzähler, nicht einmal imstande war, sie darzustellen.“ „Er passte nicht zu dem Land, in dem er lebte … In einem Land, das keine Märchen mehr erträgt, war der arme Heinrich der letzte seinesgleichen. Niemand wird seinen Platz einnehmen.“ Siegfried Lenz bekennt sogar so etwas wie eine Mitschuld daran, was Enzensberger die Überforderung Bölls nennt: „Fast hatten wir es uns angewöhnt, auf seine Stimme zu warten, ehe wir selbst das Wort ergriffen...“. Und ebenfalls Lenz ist es, der in die Richtung weist, in der Böll deprimierend aktuell bleibt: „Wie rasch, wie gekonnt wir hierzulande störende Erinnerung amputierten: Heinrich Böll hat nie aufgehört, daran Anstoß zu nehmen.“
An die vielfach bezeugte großzügige Hilfsbereitschaft Heinrich Bölls erinnert Leon Szulczynski, der im Sommer 1968 eine Nachricht erhielt: „Heinrich Böll habe eben telegraphiert, er stelle ihm sein ganzes Zloty-Guthaben zu freier Verfügung, für die polnischen Verhältnisse ein Vermögen. Der Journalist ist nicht zur Kasse gegangen.“ Aber er fand bei Böll dann Erstaufnahme wie gleichzeitig auch der tschechische Filmregisseur Vojtech Jasny, wie manch andere später auch noch. Fritz J. Raddatz schrieb am 17. Juli in sein Tagebuch: „Musste meine Emotion regulieren und bis heute morgen um vier den Nachruf schreiben. Seltsam, wie ein Mensch über sein Werk hinausreichen, eine ganz andere, quasi außerliterarische Dimension gewinnen kann. Konnte.“ Hans Egon Holthusen hat sein, natürlich nicht im SPIEGEL erschienenes, „In Memoriam Heinrich Böll“ mit einer Erinnerung an eine Totenfeier am 10. August 1984 beschlossen. An diesem Tag sprach Böll kurz am Sarg seines Freundes Rudolf Hagelstange: „Wir wollen nicht vergessen, das Tod auch eine Erlösung sein kann, denn er hat nicht nur physisch gelitten, er hat auch den Schmerz und die große Schnödigkeit der Welt kennengelernt. Danke.“
Weil das so war und Böll dabei auch in eigener Sache sprach, ist es zutreffend, was Rudolf Augstein für seinen SPIEGEL formulierte: „Hätten Schriftsteller und Dichter und Maler und Komponisten je die Welt verbessern können, sie wäre nicht so, wie sie ist.“ Augstein hat 1979 im SPIEGEL die „Fürsorgliche Belagerung“ besprochen, die Marcel Reich-Ranicki so nachhaltig verrissen hatte. Weil er der einzige Kritiker war, der es je auf den Titel des Nachrichtenmagazins brachte, wenn auch in Sachen Grass und nicht in Sachen Böll, sei abschließend ein Blick in seine Biographie „Mein Leben“ geworfen. Es geht um eine Begegnung im Oktober 1983: „Vielmehr kam er näher, ich wusste nicht, was er wollte. Ich wartete, wohl ziemlich unsicher, was nun passieren werde. Einen Skandal wollte ich unbedingt vermeiden. Aber nein, Böll tat mir nichts an. Nur flüsterte er mir etwas ins Ohr, ein einziges, beim deutschen Volk seit eh und je sehr beliebten Wort: „Arschloch!“ Dann sagte er laut und lachend: „Jetzt ist alles wieder gut.“ und er umarmte mich.“ So gut war Heinrich Böll, um die Ausgangsfrage des SPIEGEL noch einmal mit ihm selbst zu beantworten. Obwohl von seiner Krankheit schon schwer gezeichnet.