Ergeht folgendes Urteil

Gibt es eigentlich noch irgendwelche andere Dinge als Urteile, die ergehen? Und gleich noch im Namen des Volkes? Natürlich. Ich zum Beispiel ergehe mich in erbaulichen Betrachtungen über die Rolle des Rechtsstaats, wenn ich im Gericht auf meinem Stammplatz sitze und eine Richterin kündigt an, ein Zeichen setzen zu wollen. Es geschieht zum Glück selten, dass eine Richterin ein Zeichen setzen will, normal ist eher, dass sie versucht, der Wahrheit auf dem Weg der Beweisaufnahme auf die Spur zu kommen. Und ich, das muss ich wenigstens erwähnen, sitze auch nicht immer auf meinem Stammplatz. Denn bisweilen werden Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrerinnen und Lehrern zum Wallgraben getrieben, die die Erfahrung machen sollen, dass im Leben alles anders ist als bei Barbara Salesch. Und in diesen Fällen komme ich, wann immer ich komme, zu spät. Eine oder einer sitzt auf meinem Platz und glotzt verständnislos, weil ich grimmig glotze.

Man kann an den Schülern und Schülerinnen, die mir im Saal III meine Sicht- und Hörachse rauben, soziologische Studien treiben. Ohne jeden Forschungsaufwand sieht man zum Beispiel, wozu hoch bezahlte Studienverfasser viel Geld des Steuerzahlers verprassen, um es ebenfalls zu sehen: Bei den künftigen Abiturienten sind Repräsentanten des männlichen Geschlechts selten. Die Vertreter männlichen Geschlechts sehen auch dann überwiegend aus wie Justin Bieber, wenn sie nicht eines der Gymnasien besuchen. Während die Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts, wenn sie ein Gymnasium besuchen, schlanker sind, besser und geschmackvoller gekleidet, mit Frisuren, die zu Gesicht und Typ passen, als die anderen, die im Wettstreit stehen, wer am meisten daneben aussieht und den geringsten Geschmack vorweist vor dem Spiegel zu Hause.

Gerichtstag ist normalerweise an Donnerstagen. An Dienstagen seltener und dann fast immer Jugendstrafsachen oder Sachen, bei denen die Möglichkeit besteht, noch Jugendstrafrecht anzuwenden. Für mich ist der Dienstag immer dann ein Ofenschuss, wenn auf eine öffentliche zwei nicht-öffentliche Sitzungen folgen und danach wieder eine öffentliche. Dann rutscht das Verhältnis von Aufwand und Nutzen ins pekuniär vollkommen Unerquickliche und führt in der Regel zur Absage des späteren Termins. Meine lieben Abnehmer haben zum Glück ohnehin begrenzt Platz, weil die Woche daunter leidet, aus konstant wenig, nämlich jeweils sieben Tagen zu bestehen. In guten Wochen sind vier Gerichtsberichte von mir erschienen, weshalb nun hundert beisammen sind seit Ende September vergangenen Jahres. Fortsetzungstermine werden bisweilen auch auf andere Wochentage gelegt, selten aber nur, sehr selten.

Ich benutze für meine Notizen Bleistifte, wie ich das auch im Theater tue und es hat den mittlerweile fast wohligen Effekt des Angestarrtwerdens, wenn genannte Sitzplatzräuber im Saal ausharren. Vermutlich kennen sie Bleistifte nur aus dem Fernsehen. Ich könnte ihnen sagen, dass das eine Urerfahrung verarbeitet, die jeder Journalist irgendwann macht, vor allem wenn er draußen arbeiten muss in Kälte und feuchter Luft: der Kugelschreiber versagt seine Dienste, während der Redner gerade den einzig zitierwürdigen Passus sagt. Im Saal III in Ilmenau ist es schwierig, weil die Akustik eine Katastrophe ist. Beim Umbau der guten alten Glasfachschule in ein Amtsgericht hat die Schönheit unter dem Deckmantel des Denkmalschutzes einen klaren Punktsieg über die Zweckmäßigkeit davongetragen. Falls ein Staatsanwalt nicht in die Gruppe der verhinderten Heldentenöre gehört und außerdem nicht ganz unberechtigt meint, wer schnell spreche, kann sich schneller wieder setzen nach Verlesung der Anklageschrift, kann auch der geübte Mitschreiber nur hoffen, wenigstens später zu verstehen, worum es eigentlich geht.

Weil mich niemand danach fragt, frage ich mich selbst, ob sich in den zehn Jahren seit meiner ersten Gerichtsberichterphase merklich etwas verändert hat. Natürlich hat sich etwas verändert. Zum Beispiel hat sich die Zahl der Protokollantinnen halbiert. Die eine von beiden, die blieb, sieht komischerweise immer noch aus wie damals, während ich aussehe, als ob ich zehn Jahre älter geworden bin. Jene Gruppe junger männlicher Täter, die mir vor zehn Jahren mit frappierender Regelmäßigkeit begegnete, ist nun so erwachsen, dass sie kaum noch in Erscheinung tritt. Nur ein ehedem extrem gewaltbereiter so genannter Linker wird immer noch gern verurteilt. Er steht jetzt freilich eher im Ruf eines Fahrraddiebes und schleppt nicht andere Linke zu seiner Verteidigung an sondern komische Frauen, die aussehen wie alte Indianerinnen, die einfach zu lange am Lagerfeuer saßen.

Früher droschen sich rechts und links gern im Weichbild der Verwaltungsgemeinschaft Geratal. Wer jeweils mehr Truppen auf seiner Seite vereinigen konnte zu Pfingsten oder sonst, der machte sich über die anderen her und dann war alles von der Zahl der Zeugen abhängig. Die Linken warfen immer mit Flaschen, während die Rechten aus Gründen der Materialökonomie und der günstigeren Massenverhältnisse von Bier und Weißblech hier nie verdächtig wurden, weil sie Büchsenbier in den Rucksäcken schleppten. Heute findet der Klassenkampf überwiegend in Langewiesen statt. Während die Linken immer noch Nasenringe tragen und komische Bändchen an den Handgelenken, verweigern sich die Rechten hinterhältig, wie sie sind, dem Ansinnen ihrer Feinde, doch bitte mit leicht identifizierbaren Schnürsenkeln umherzulaufen. Nicht alle, die Hartz IV empfangen, werden kriminell, aber fast alle, die kriminell werden, empfangen Hartz IV. Die Zahl der Schul- und Lehrabbrecher auf linker Seite ist um Potenzen höher als auf der anderen Seite. Insgesamt aber, und das fällt auf, ist der Klassenkampf rückläufig.

Ein lautloses Raunen geht durch den Saal, wenn ein Angeklagter seinen Lebensunterhalt in der Schweiz verdient. Es werden dann bisweilen selbst für nicht ganz hoch qualifizierte Tätigkeiten Nettoeinkommenssummen genannt, die vermutlich sogar Richterinnen ein wenig neidisch machen. Bei Verhängung von Geldstrafen hat das die wunderbare Nebenfolge, dass der Tagessatz für einen zu einer Geldstrafe Verurteilten bisweilen höher ist als die Gesamtstrafe für eine Übeltäter aus der Gruppe der Mittellosen. Als Mittelloser kann man fast jede Straftat in der frohen Aussicht begehen, kaum wirksam belangt werden zu können. Denn noch die Haftstrafe verursacht mehr Kosten als in den meisten Fällen erwünscht. Vor zehn Jahren juckte mich an fast jedem zweiten Donnerstag die Frage, ob es ein Kriterium gibt, nach dem Geldbußen an bestimmte gemeinnützige Vereine zu zahlen sind. Der Gedanke, dass etwa das Tierheim an einer blühenden Kleinkriminalität interessiert sein muss, um genügend Hundefutter kaufen zu können, hat mich immer beunruhigt. Jetzt aber wird offenbar viel weniger vergeben als früher.

Unter den Anwälten, die ich erlebe, sind welche, von denen möchte ich nicht einmal dann verteidigt werden, wenn die Richterin selbst Zeugin meiner Unschuld war. Wären sie Ärzte und müssten mich behandeln, würde ich um mein Leben fürchten. Natürlich nenne ich keine Namen und mache auch keine Andeutungen. Verloren gegangen ist mittlerweile fast vollkommen, was auch vor zehn Jahren schon von Mustergültigkeit weit entfernt war: die Achtung vor der Würde des Gerichts. Es erscheinen Angeklagte und Zeugen in Klamotten, mit denen unsereins allenfalls im Dunklen den Müll zum Container tragen würde. Vor allem aber erscheinen Angeklagte und Zeugen in erstaunlich häufigen Fällen gar nicht. Und dann rattert nicht etwa das Rollkommando mit Blaulicht los, um die verschlafene und vergessliche und dreiste Bande einzusammeln, die sich das leistet trotz stattlicher Eintragungszahlen im Bundeszentralregister. Es wird ein neuer Termin angesetzt.

Der Rechtsstaat, das ist eine doch eher deprimierende Erkenntnis, wird häufiger als früher an der Nase herumgeführt. Zustellungen von Ladungen wären in der früheren Form mittlerweile so teuer, dass die Portokosten allein ein Amtsgericht und es gibt viele in Deutschland, in Nöte führen würden. Das Ergebnis, es wird die normale Post genutzt und die normale Post ist seit der Abschaffung des Postmonopols eben nicht mehr die normale Post. Es kann passieren, dass selbst ein Finanzamt in Zeugenrolle Probleme hat, exakt zu erklären, wann wofür welcher Dienst nun wirklich zuständig war und was passiert, wenn eine Sendung nicht zustellbar ist. Es gibt Menschen, die haben schlicht und ergreifend keine ladungsfähige Anschrift. Wenn von deren Anwesenheit etwas abhängig ist, dann kann das Gericht einpacken. Manchmal wird auch jemand vorsorglich am Vorabend eingesammelt und nächtigt bis Verfahrensbeginn auf Staatskosten.

Immer wieder erfrischend sind die Angaben von Tätern zu ihrem Alkoholkonsum. Einer sitzt auf der Anklagebank, leuchtet wie ein Feuermelder und verbreitet eine Duftmarke, dass noch die Richterin schnuppert, die Meter entfernt sitzt. Aber er will nur drei Bier am Vorabend getrunken haben. Die Schwertrinker trinken eigentlich selten oder fast nie und wenn sie befragt werden, wie sie sich fühlten nach all dem Alkohol, den sie dann doch offenbar tranken und sie antworten, sie hätten nichts gemerkt, dann lautet die Feststellung der Staatsanwaltschaft immer: Dann müssen Sie aber sehr an Alkohol gewöhnt sein. Manchmal kommen Gutachterinnen aus Jena wegen des Blutalkohols und man lernt etwas von Abbau und Körpergewicht und Pausen beim Saufen.

Wenn der Unfall-Gutachter kommt, werden mit schöner Regelmäßigkeit jene immer kleiner und kleinlauter, die vorgeben, von dem ihnen zur Last gelegten Unfall nichts bemerkt und deshalb auch keine Unfallflucht begangen zu haben. Es gab schon Unfallflüchtlinge, denen hätte das Gebiss aus dem Gesicht fliegen müssen nach allen physikalischen Gesetzen bei der Tiefe der Delle, die sie am anderen Fahrzeug hinterließen und dennoch behaupten sie tapfer, nichts gehört, gesehen oder verspürt zu haben. Und merken gar nicht, dass sie damit ihre eigene vollkommene Fahruntüchtigkeit herbeireden. Es gibt Fahrer, die noch nie einen Führerschein besaßen und dennoch kilometerweit die Autobahn benutzen. Was es kaum noch gibt, sind Freiheitsstrafen. Was es extrem häufig gibt, ist Einstellung des Verfahrens nach Paragraph 153.

Wenn ich am Morgen das Gericht betrete, ist die Frau, die das Haus sauber hält, mit ihrem Wagen meist in der zweiten Etage, manchmal sogar schon oben, dann war ich etwas langsam oder sie etwas schnell. Es wird nicht mehr geraucht vor dem Saal III und einen Zeugen, der noch rasch kiffte, bevor er aufgerufen wurde, was der Polizist sofort roch, der neben ihm wartete, den habe ich jetzt nur noch als Erinnerungsstück auf der virtuellen Festplatte. BTM, sagte der Polizist damals mit bedeutungsvoll gehobener Braue zu mir und ich nickte, als hätte er gesagt: schönes Wetter heute. Geblieben ist: wenn es sehr langweilig wird, beobachte ich die Arbeit im Finanzamt. Die arbeiten dort tatsächlich, ich kann es an Eides statt glaubhaft bezeugen.


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