San Pietro, früher Olivolo

Wer schiefe Türme sehen will, muss nicht zwingend bis Pisa fahren, obwohl der dortige, verglichen mit dem hiesigen in Bad Frankenhausen zum Beispiel, rein optisch vorzuziehen ist. Wo es auch schöne schiefe Türme gibt, ist Venedig. Einer steht direkt an einem Kanal, wo sonst, und ist in seiner Neigung aus der Distanz gut zu begucken, der bessere aber ist ganz weiß, man kann sich mit dem Hintern auf seinen Sockel setzen, die Füße stehen dabei in kurz geschorenem Gras, während sie auf der anderen Seite auf demselben Sockel noch baumeln. Je nach Länge freilich der zum Einsatz kommenden Beine.

Dieser herrlich schiefe Turm ist ein Kirchturm, er steht einzeln und gehört zu San Pietro di Castello. Wenn man über die Brücke läuft, die direkt vom Campo San Pietro auf die Außenmauer des Arsenale zu führt, dann findet man in diesem Jahr rasch den Hintereingang zum Biennale-Ausstellungsteil Arsenale. Eine eigens installierte künstliche Brücke, die dann wieder entfernt werden kann, ermöglicht den Zugang. Besser aber ist es, dort aus dem Arsenale heraus zu kommen und den schiefen Turm im Blick zu behalten. Die Welt der in sich gekehrten, Mappen umklammernden, starräugigen, tücherbehängten, staksstiefligen Fachpublikumsdarsteller endet von einem auf den anderen Meter.

Hier sitzen zwei Großmütter auf Korbstühlen am Kircheneingang. San Pietro gehört zu den Gotteshäusern, die innerhalb der Venice-Card-Gruppe kostenlos besichtigt werden dürfen, 16 sind das in diesem Jahr insgesamt. Wir haben sie nicht besichtigt, denn wir kennen sie aus der Zeit, als sie auch ohne Card kostenlos zu besuchen war. Die Frari machte damals den Anfang mit dem Kassieren, wenn ich mich recht erinnere, und geärgert habe ich mich schon damals nicht. Denn diese Schätze sind Eintrittsgelder wert. Damals prägte sich ein braun gewandeter Zischelmönch auf immer in unsere Gedächtnisse ein. Der zischelte, wenn eine Dame mit Spaghetti-Trägern an den Kreuzweg-Bildern entlang schnüren wollte, er sagte nichts, er zischelte einfach. Und immer fand sich ein Dolmetscher, der diese Sprache zu deuten wusste.

Das war aber nicht in San Pietro. San Pietro ist natürlich berühmt wegen des Stuhles des heiligen Petrus und weil diese Insel, die früher Olivolo hieß, vor langer, langer Zeit das erste Zentrum Venedigs war. Jetzt aber ist das eine andere Welt. Zwei Schulmädchen sitzen seitlich auf einer Bank und tun, was alle Schulmädchen heute tun, sie starren auf ihre Handy-Displays und sagen nichts. Kleine Hunde hüpfen um die Bänke, auf denen ihre Herrinnen und Herren, vor allem Herrinnen, sitzen. Diese kleinen Hunde kennen sich alle, wie es scheint. Auch die Herrinnen kennen sich alle. Und die kleinen Hunde der anderen Herrinnen. Denen gibt die eine ein Schlückchen, die andere ein Häppchen. Über die Brücke kommt man mit Hund, über die Brücke geht man mit Hund.

Die beiden Großmütter auf ihren Korbstühlen haben keine Hunde, dafür Wohlwollen und freundliche Blicke. Auch hier kann man, wegen der Biennale wohl vor allen, den Kreuzgang anschauen, der sonst nicht so einfach zugänglich ist. Die Biennale verschafft vielen Kreuzgängen einen Besucherzustrom außer der Reihe und nicht wenigen Kunstgegenständen aus der Großgruppe des Gewöhnungsbedürftigen einen Rahmen des Vollkontrastes. Vor allem ist es unfassbar ruhig hier. Touristen scheint der Erdboden verschluckt zu haben. Die kleinen Hunde gehen miteinander um, als wollten sie uns zeigen, dass auch kleine Hunde durchaus nicht automatisch kläffend über einander hechten müssen wie in meiner Nachbarschaft normalerweise. Die Handy-Mädchen legen bisweilen ihre freie Hand auf einen der kleinen Hundeköpfe.

Die andere Brücke, die über den Canale di San Pietro führt, ist die gerade Verlängerung der Via Giuseppe Garibaldi. Das Denkmal dort mit seinem Brunnen ist jetzt schildkrötenfrei, sie sonnen sich nicht mehr auf den Steinen wie früher, es steht auch etwas auf einem Blatt dazu, aber so weit reicht unser Italienisch nicht. Die Garibaldi hat jetzt mehr Gastronomie. Nur drei sind uns erinnerlich vom letzten Besuch, drei außer Nuova Perla ganz vorn. Wir bestiegen erst das Boot an der Station Arsenale, das schnellere, das nicht überall hält. Was für ein Kontrast dennoch nach dieser Ruhe im Schatten eines schiefen Turms. Ich bin versucht, an meinem Hosenbein zu schnüffeln, um zu erraten, was die kleinen Hunde da wohl beruhigend fanden als Grundinformation zum mir.


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