Vorfreude

Auch ich tue vorher ganz normale Dinge. Ich tausche Geld, wenn es nötig ist, kaufe Filme und Batterien, weil ich meine gute alte Nikon noch immer nicht aus den Händen geben mag. Und weil Filme und Batterien dem Gesetz von Nachfrage und Angebot folgend in Urlaubsregionen immer faszinierend viel teurer sind als neben der Kasse in meinem Supermarkt. Ich beäuge Reiseführer, von denen ich etliche besitze, mitsamt ihren Kartenteilen. Den Routenplaner im Internet befrage ich nur noch nach der Gesamtentfernung und auch, um den Grenzübergang vorher zu kennen, den ich passieren muss. Zwei Wochen Reisedauer zwingen mir zwei Österreich-Vignetten auf, weil die Gültigkeitszeiträume von den Einnahmeplanern so geschickt gewählt wurden. Immerhin ist der nächstgrößere Zeitraum noch teurer als die Addition der beiden kleinsten, diesen Fehler werden unsere Freunde mit dem Schmäh und der herrlichen Literatur voller Selbsthass wohl auch noch ausmerzen, ich zweifle nicht eine Sekunde. Seit ich erstmals erlebte, wie Fahrzeuge mit deutschen Kennzeichen beim Überfahren derselben Trennlinie vor einem Tunnel zum Zwecke des Abkassierens herausgewunken wurden, während Fahrzeuge mit dem A und den roträndrigen Nummernschildern dasselbe Delikt ungestraft begehen konnten, bekomme ich eine gewisse Grundskepsis nicht mehr völlig unterdrückt. Wobei ein guter Grüner Veltliner aus der Wachau und ein Marillenschnaps von ebendort mich dann doch immer wieder milde stimmen können.

Jetzt aber habe ich mir ein Buch auf den Tisch im Arbeitszimmer gelegt, dessen Schutzumschlag ein quibbelbuntes Aquarell zeigt, über dem steht: Hesse, darunter: Tessin. Es ist schon die vierte Auflage, muss also gefragt gewesen sein, obwohl es als Hardcover nicht zu den  Schnäppchen des Buchmarktes gehört. Es ist ein Buch, das mir Geruchserinnerungen auslöst. Und ich habe schon beim Lesen des allerersten Textes sofort wieder das nun bald zehn Jahre alte ungläubige Empfinden: Es ist nicht wahr, dass Du hier stehst. Es kann gar nicht sein. Im Pförtnerhäuschen des Berliner Naturkunde-Museums las ich anno 1976 Hermann Hesse. Die kleine DDR weihte gerade mit dem neunten Parteitag der SED ihren Palast der Republik ein, den außer Biermann nie jemand „Palazzo Prozzo“ genannt hat, aber woher hätten die Nachschwätzer jeden Unfugs, wenn er nur aus Dissidentenmund kam, das wissen sollen. Ich las Hesse und ich war Hesse. Es gibt nicht viele Autoren, mit denen mir das passiert ist.

Und nun stehe ich da vor der Casa Camuzzzi, in der ich gefroren habe und Magnolienblätter bestaunte, ich gehe nicht weit an das Grab, auch zu Hugo Ball natürlich und seiner Emmy. Es geht mir jetzt mit meinem Buch so, dass ich nach drei Seiten schon wieder alles sehe. Den Film wieder über Hesse im Museum, in dem man ihn als nackten Naturisten sieht. Ja, Montagnola, wir sind wieder im Anmarsch. Diesmal werden wir wohl dem Rest der Schilder folgen, den wir seinerzeit uns verkneifen mussten. Wir wollen vorher noch am Comer See ein wenig aufs Wasser schauen von unserem ufernahen Feriendomizil aus. Wir kommen über den Splügen-Pass, zu dem wir bisher nur immer den Abzweig ausgewiesen sahen. Wir werden natürlich anhalten und das unvermeidliche Passbild machen mit mir und Höhenschild. Und dann sind es von Dongo keine fünfzig Kilometer. Noch nie waren Station 1 und Station 2 unserer Ferien so nahe beieinander.

Schon 1918 schrieb Hesse, an der Wasserscheide eines Passes stehend, nach Süden schauend und an den ersten Rausch von einst denkend, da ihn die Sage von Sehnsucht und Romfahrt anwehte: „Es ist nicht mehr Frühling in meinem Herzen. Es ist Sommer. ... Ich werfe keinen Hut in die Luft. Ich singe kein Lied.“ So will ich es auch halten, was mir im Fall des Hutes besonders leicht fällt, denn noch nie im Leben besaß ich einen. Und mein Gesang würde die sturzfliegenden Alpendohlen wohl auf immer in Meeresnähe treiben, wohin sie einfach nicht gehören.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround