Schiller: Maria Stuart; Bad Hersfelder Festspiele

Eine der schönsten Passagen, die der Österreicher Friedrich Torberg (1908 – 1979) in seinen vielen Theaterkritiken hinterlassen hat, ist ein fiktiver Dialog mit einem Enkel. Dessen Fazit lautet: „Weißt du, mein Kind: vom Theater kann man eigentlich nichts „verstehen“. Man kann es nur lieben, kann sich ihm hingeben, kann noch nach Jahrzehnten glücklich sein über etwas, was man auf dem Theater gesehen hat.“ Das steht in seiner Besprechung einer „Maria Stuart“ auf dem Wiener Burgtheater aus dem Jahr 1956 und die ganze Besprechung ist eigentlich weiter nichts als ein einziger Lobgesang auf Paula Wessely und Käthe Dorsch. „Denn so großartig waren diese beiden Schauspielerinnen, so vollkommen beherrschten sie die Register alles dessen, was zum Metier gehört, daß sie im Gegeneinanderspiel ihrer Rollen bisweilen die Typen zu tauschen schienen...“.
Dies will mir auch heute als eine Fähigkeit erscheinen, die Schillers Königinnen-Trauerspiel zu mehr adäquater Bühnenwirkung bringen kann als andere Fähigkeiten und Einfälle.

Einen der anderen Einfälle nenne ich gleich, um es hinter mir zu haben. Ich halte es für einen Köhlerglauben ersten Ranges, mit Einsatz leicht gehobener heutiger Alltagskleidung in einem Stück mit präzisem historischen Sujet Aktualität signalisieren zu müssen. In der Mehrzahl aller Fälle handelt es sich schlicht um die Kostenstelle Kostümbild, was kein Haus gerne zugibt. Wenn aber, wie hier in Holk Freytags Bad Hersfelder „Maria Stuart“ 2014 später doch noch „richtige“ Kostüme zum Einsatz kommen und zwar keineswegs mit dem Eindruck, dem Ausverkauf eines Mottenpulverfundus zu entstammen (Kostüme Michaela Barth), dann weiß der abgebrühte Theatergänger: hier umhüllt Sinn die Darstellerglieder. Ich gestehe unumwunden, dass ich Theater eigentlich nicht besuche, um solche oder solche Bilderrätsel zu lösen, mich lockt im allgemeinen der Name des Dramatikers, dann sofort der Stücktext und, ich gebe es zu, bisweilen auch die Neugier auf dieses oder jenes Spiel in dieser oder jener Rolle.

Festspiele, ihre ständigen Besucher dürfen diesen Satz überlesen, haben ein jedes Jahr neues Ensemble, in dem es natürlich auch Konstanten geben kann, das hängt vor allem vom wechselseitigen Verhältnis zwischen Intendanz und Darsteller ab. Wenn es gelingt, einen echten Superstar für die Sommerwochen zu verpflichten, dann schlägt das ganz direkt auf die Theaterkasse durch, Bad Hersfeld erinnert heute noch gern an drei Jahre Helen Schneider in der „Evita“, da hätte die Stiftsruine durchaus noch größer sein können. Freilich hängen die Darsteller für den Sommer nicht wie Augustäpfel an den einschlägigen Bäumen, denn Sommertheater gibt es landauf, landab, das gespielt werden will, da brauchen Festspiele schon einen guten Ruf, um nicht an der Resterampe anstehen zu müssen. Bad Hersfeld hat diesen guten Ruf, damit ist die Gefahr nahezu gebannt, glatte Fehlbesetzungen aufbieten zu müssen, da haben feste Ensembles an sehr kleinen Häusern mit dem eigenen Personal bisweilen klar größere Probleme.

Schiller hat in Bad Hersfeld bei den Festspielen einer lange Tradition, seit Joseph Glücksmanns „Die Braut von Messina“ 1955 ist die aktuelle „Maria Stuart“ die sie zehnte Schiller-Inszenierung und die „Maria Stuart“ wiederum erst der zweite Schiller nach „Die Jungfrau von Orleans“ (1957, 1964 und 2008), der einen dritten Versuch erlebt. Harry Buckwitz (1904 – 1987) brachte 1962 eine von der Kritik als beispielhaft empfundene Inszenierung in die Ruine, 2000 ließ der Österreicher Hans Gratzer (1941 – 2005) seine folgen und jetzt ist es Intendant Holk Freytag (Jahrgang 1943), der sich nach dem allerersten „Wilhelm Tell“ in Bad Hersfeld 2010 die dritte „Maria Stuart“ für die 64. Spielsaison gönnt. Man geht ohne Groll und das ist nicht wenig angesichts mancher Radikalkurergebnisse der vergangenen Jahre. Man hat ein Finale gesehen, das eigens für Bad Hersfeld geschrieben scheint und nebenbei zeigt, dass eine wie auch immer angelegte optische Opulenz dem echtbürtigen Theater auf keinen Fall schaden kann (Lob dem Licht von Ted Meier).

Holk Freytag vertraut seinem natürlichen Bühnenraum in der 1761 entstandenen Ruinenstruktur, keinerlei Bauten vermitteln, wie einst bei Harry Buckwitz, den Kammerspielcharakter, den „Maria Stuart“ über weite Strecken ja auf jeden Fall hat. Ein nur anfangs zum Einsatz kommender Gitterzaun und einige Stühle unterschiedlicher Art reichen hin, sie erlauben, heißt der Satz fürs theaterkritische Phrasenschwein, größere Konzentration auf den Text. Auf Schillers Text kann man sich verlassen, man darf sogar die zwischen Bodensee und Flensburger Förde epidemisch verbreitete Berührungsangst vorm Zitaten-Klassiker einfach beiseite lassen. Was hat man eigentlich in den 50er Jahren gemacht, als es noch keine Headsets gab für Darsteller, brüllten die da wie die Löwen gegen das Rauschen der Bäume im nahen umgebenden Park? Der Text saß bei allen Beteiligten, nur bei einem saß das Mikro etwas anfällig, was wohl am Aktionsradius lag. Zwei Stunden (meist ohne wie hier, aber auch gelegentlich mit Pause) sind das derzeit offenbar erreichte Standardmaß für Stuart-Strichfassungen. Ich gestehe gern, dass ich mehr gut vertragen könnte.

Über die Unwucht, die entsteht, wenn man die fast mathematisch mustergültige Symmetrie des Trauerspiels um die beiden Königinnen leichter Hand um Nebenrollen beraubt, die sachlich vielleicht ein wenig, von der Dramenarchitektur aber keinesfalls entbehrlich sind, habe ich bereits geschrieben, will es nicht wiederholen. Deshalb hier meine ausdrückliche Zustimmung, dass nicht nur Hanna Kennedy (dankbar angenommen von Maddalena Noemi Hirschal) bleiben durfte, sondern auch ein gar reichliches Hofdamenensemble für Maria Stuart, deren gesamter Auftritt im fünften Akt unbedingt zu dem gehört, was man am ehesten im Gedächtnis behält. Die Musik des Abends (Wolfgang Schmidtke) setzt sparsame, aber bestechende Akzente. Geballte Schiller-Erfahrung steht dennoch, alles in allem, in dieser Inszenierung nicht auf der Bühne, was kein Nachteil sein muss, ein Vorteil freilich auch nicht ist. Für Gerit Kling ist es wohl gar die erste große Schiller-Rolle überhaupt, sie steht bekanntlich wesentlich häufiger vor der Kamera für Film und Fernsehen als auf der Bühne, und sie hat eine achtbare Elisabeth hingestellt.

Marie Therese Futterknecht war schon Elisabeth und sie war auch die Eboli in „Don Carlos“, eine tückisch anspruchsvolle Rolle. Als Maria Stuart muss sie unter Holk Freytag im Grund zwei verschiedene Rollen spielen. Zunächst ist sie in Schlabberjeans und Körpersprache fast eine Frontfrau, die die ganze Bühnenbreite braucht, um den Gesangspart einer Headlinerband über die Rampe zu bringen, sie zieht die Schultern nach vorn, bewegt sich insgesamt gebeugt, sie ist in einer Verteidigungsstrategie befangen, die fast kohlhaashaft auf Rechtspositionen beharrt. Das Königliche fehlt ihr in diesen Szenen fast völlig. Die leiseren Töne muss sie sich für den letzten Akt aufheben, darf aber schon in der Mitte, im Zentrum, als sie ihre überraschende Begegnung mit der Königin Elisabeth, mit der Rivalin, hat, Übergänge spielen. Gerit Kling hat es da klar leichter, sie ist von Kopf bis Fuß königlich und muss, auch als sie die Stelle mit der Rolle des Geschlechts erreicht, keinen aufgepfropften Feminismus vorführen, es soll Regisseure gegeben haben, die den Stolz über ihre derartige Rollenauffassung wie im Bauchladen vor sich hertrugen. Ihr Aus-der-Rolle-Fallen ist getupft und es ist gut, dass es getupft ist. Die von Brecht herrührende Fischweiber-Lesart des Königinnen-Duells bleibt den Festspielbesuchern erspart, sie dürfen dafür durchaus dankbar sein.

Schiller hat, kurz nur sei es erwähnt, den Stoff mit sicherem Griff gefunden, fand sich selbst mit seiner „Maria Stuart“ endlich auch handwerklich da, wo er hin wollte und hatte sein Verhältnis zur Geschichte seit dem „Wallenstein“ geändert. Germanisten haben sich deutschlandüblich endlos und humorlos über die Differenzen zum „Wallenstein“ vorher und zur „Jungfrau von Orleans“ nachher ausgelassen, einer warnte gar davor, die Maria ausschließlich mit Wallenstein-Maßstäben zu messen. Wenn es weiter keine Probeme gäbe, könnte man meinen. Eines aber gibt es doch, für mich auf alle Fälle. Nach langer und intensiver Auseinandersetzung mit Shakespeare, bei dem Königin Elisabeth nur einmal eine winzige Rolle auf der Bühne, eine gigantische Großrolle aber hinter der Bühne spielt, noch als sie tot ist und ihr Nachfolger ausgerechnet der Sohn jener Maria Stuart wird, habe ich immer wieder Probleme mit der Moralsicht Schillers auf seine beiden Akteurinnen. Den zweifellos größeren historischen Felsen hatte Elisabeth bergan zu rollen. Weshalb ihre Frage am Ende nach dem, was eine Königin ausmacht, gar keine endgültige Antwort finden kann. Ganz abgesehen davon, dass sie wie selbstverständlich gar nicht die weibliche Form wählt.

 „O der ist noch nicht König, der der Welt// Gefallen muß! Nur der ist´s, der bei seinem Tun // Nach keines Menschen Beifall braucht zu fragen.“ Hier liegt eine Aktualität der Frage und der Aussage, die weit über vordergründige Macht-Politik-Staatsraison-Szenarien hinausgeht, die man vielleicht sogar versucht werden soll, für sich aufzufinden. Kein König in diesem Sinn ist auch ein Chefredakteur oder ein Festspielintendant, und da ist nicht einmal vor allem wichtig, ob beide das überhaupt sein wollen. Denn hinter allem steht ein Freiheitsbegriff von Schiller, die Bühnenfiguren in „Maria Stuart“ haben keineswegs alle die Alternativen vor sich, die Elisabeth hat, selbst wenn es nur Scheinalternativen sind. Das Gefühl von einer Sache ist für wirkliche Menschen sehr oft viel wichtiger als die Sache selbst, Marie Therese Futterknecht hat das, als sie an die Wand schlägt nach dem Abgang von Gerit Kling, mit kleiner großer Geste vorgeführt. Die Männer um die Frauen sind in „Maria Stuart“ alle Statisten, selbst wenn sie viel Text, viel Aktion haben, selbst wenn sie fast hyperaktiv agieren wie Burleigh. Hier war Schiller sehr nah an der Geschichte.

Für die Darsteller dieser Männer bleibt immer ein schwieriges Geschäft. Robert Dudley, Graf von Leicester, muss glaubhaft machen, dass sich zwei Königinnen mehr als nur ein bisschen für ihn interessieren, Stephan Ullrich war mehr der Typ dazu, als dass er es auch vorführte. George Talbot, Graf von Shrewsbury (Wolfgang Jaroschka), war eher der gütige Alte, denn die moralische Instanz. Wilhelm Cecil, Baron von Burleigh (Markus Gerken), fehlte am ehesten das historische Kostüm, um den Scharfmacher in Sachen Staatsraison zu verkörpern, er kippte dafür in Richtung Banalität des Bösen. Nikolaus Kinsky als Wilhelm Davison trat seiner Königin einen kräftigen Tick zu mutig entgegen, überforderte die Rolle dennoch nicht. Amias Paulet (Manfred Stella) kam wegen der heftigen Striche im ersten Akt in die unfreiwillig seltsame Situation, wie ein in letzter Sekunde eingesprungener Ersatzdarsteller zu wirken, der seinen Text sicherheitshalber noch in Briefform in den Händen hielt. Wilhelm Sandmann war ein Graf von Kent, dem wenig blieb, nicht viel mehr hatte Jörg Reimers als Melvil, stand aber immerhin in der Szene vorn, die zu Schillers Zeiten die Skandalszene war, der öffentlichen Beichte auf der Bühne. Gut, dass sie so ausgespielt wurde.

Bleiben der Mortimer Fabian Baumgartens und der französische Graf Aubespine Hans-Christian Seegers. Beide spielten, was sie spielen sollten, der Franzose in Karl-Lagerfeld-Anmutung ist kaum weniger irritierend als manche tuntige Rollenauslegung in anderen Inszenierungen, die ich in  vergangenen Jahren sah. Und dieser Mortimer ist von Beginn an zu draufgängerisch, wenn er auch der Maria Stuart nur ganz kurz und ganz am Szenenrand auch körperlich auf die Pelle rücken muss, was ja bei Schiller für die katholische Königin Schottlands keineswegs etwas ist, von dem aus man ohne weiteres zur Tagesordnung weitergeht. Im Gedächtnis, das überrascht sicher unter den Beteiligten niemanden, bleibt vor allem der ausgespielte fünfte Akt in allen Details, überzeugend die Mauerschau auf die Hinrichtung, wie sie Stephan Ullrich an der Rampe vorträgt, die Umkleide-Szenen, die aufgestellten Lichter, der Gesang in dieser Kulisse. Das Publikum ist dankbar. Vier Spieltermine gibt es noch, sie verdienen volle Reihen bis oben hin.
 www.bad-hersfelder-festspiele.de


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