Ibsen: Ein Volksfeind, Schaubühne Berlin
Warnhinweis: Wer das Glück hat, in den ersten Parkett-Reihen diese Inszenierung von Thomas Ostermeier zu erleben, erfährt, wie weit ekelhafte Spritzer in drei Farben fliegen können, wenn sie schwungvoll aus dem Zuschauerraum auf die Bühne geschleudert werden. Die erste Reihe wird vor Spielbeginn flüsternd vorgewarnt, indem ihr erklärt wird, wozu das lange weiße Tuch zu ihren Füßen am Boden liegt. Die zweite und die dritte Reihe hören das schon nicht mehr und dürfen später zu Hause den Dreck von Hosen, Jacketts, Taschen und nachsäubernd auch von Brillengläsern entfernen. Ausgleichend erfährt von der ersten bis zur letzten Reihe niemand, warum das am Abend gespielte Stück eigentlich „Ein Volksfeind“ heißt. Dazu gibt es ja Originaltexte, das muss nicht extra auch noch auf die Bühne.
Thomas Ostermeier ist ein Regisseur, dem der Ruhm soweit vorauseilt, dass er ihm bisweilen nicht mehr ohne Atemknappheit hinterher kommt. Er beweist einmal mehr, was seit Jahren keines Beweises mehr bedarf: Ibsen hat festen Klassikerstatus. Für die Besucher, die nicht auf Premieren fixiert sind, weil sie noch nicht immer alles schon wissen, soll wiederholt werden, dass er der nach Shakespeare meistgespielte Bühnenautor der Neuzeit ist. Nur Klassiker haben sich den Ehren-Status erworben, beliebig verhackstückt, verwurstet, vermanscht, oder, für Akademiker, dekonstruiert zu werden. Maximal der Plot interessiert, auch der nur, wenn der Inszenator zu überlegen hat, in welchen Alleinstellungsmerkmalen er sich von den anderen Inszenatoren des Stückes unterscheiden kann, um nicht als ideenlose Plinse durch Feuilleton und Nachtkritiken gezerrt zu werden.
Wenn also Ibsen einer ist, der höchstselbst Briefe an Intendanten schreibt, um darauf hinzuweisen, dass sein Text gespielt werden möge und nichts als sein Text, der fordert, sämtliche vorhandenen Darsteller für die Szenerie des vierten Aktes zu verwenden und keinesfalls die beiden Söhne wegzulassen, dann kann das heute nur heißen: Was gehen uns Ibsens eigene Vorstellungen von seinen Stücken an, wenn uns schon der Text herzlich gleichgültig ist, falls er sich nicht mit unserer eigenen Idee, oder dem Pseudo-Philosophie-Müll vereinbaren lässt, der eigens nach dem Suchkriterium Unverständlichkeit für Programmhefte kompiliert wird. Bei Ibsen gibt es einen Badearzt, der eine Frau hat, eine erwachsene Tochter und zwei Söhne, die man früher Nachzügler genannt hätte. Ostermeier streicht die erwachsene Tochter, verjüngt die Mutter so, dass Bestandteile der Tochter-Rolle auf sie projiziert werden können und macht aus der jungen Familie ein Identifikationsangebot für die Berliner Reich-mir-mal-den-Rettich-rüber-Spätjugend.
Das Sprachniveau ist konsequent gesenkt auf die Ebene dieser gehobenen Sülzbackigkeit und fast folgerichtig rezipiert das Publikum über lange Strecken der Inszenierung am emsigsten das, was am wenigsten mit diesem Ibsen zu tun hat. Die genervte Junglehrerin, die mitten im Chaos versucht, Hefte zu korrigieren, schafft es nicht, das Baby zu beruhigen, der Vater schafft es im Handumdrehen. Lach, lach. Der Badearzt fragte die Junggattin, die versucht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, wieso sie zu Hause ist. Und bekommt zu hören, es sei Donnerstag, das ist der Tag, da sie zu Hause sein darf. Bei Donnerstag klingelt es in Badarztens Oberstube, er holt den Wäschekorb, für den er offenbar an Donnerstagen zuständig ist, und beginnt Babysachen zusammenzufalten. Lach, lach. Und so immer wieder mal. Um dem Bühnengeschehen weiteren Pep zu verleihen, verwandelt sich der steife Ibsen-Umgang mit dem „Herrn Doktor“ nicht nur durchgängig in (nordische ??) Duzerei, das Paar Stockmann und die beiden Journalisten Billing und Hovstad bilden auch eine Band, die natürlich englisch singt und musiziert (Lob an alle vier Darsteller dafür) und dabei die Zuschauer herausfordert, den intertextuellen Bezug (hoihoi, was ist denn das) zum gesprochenen und gespielten Bühnentext herauszuschnüffeln.
Ein Bühnenbild gibt es natürlich auch (Jan Pappelbaum), es ist schwarz und nach vorn offen, sonst würde man nichts sehen. Die schwarzen Flächen sind mit Wandzeichnungen von Katharina Ziemke verziert, sie stellen etwas wie Brainstorming-Skizzen vor, wie mir ein Facharzt für Bühnenbilddeutung zu erklären versuchte. Ich erinnere Brainstorming-Nachmittage mit einem hohen Verlagsgeschäftsführer, der Schlagworte auf größtkarierte Großblätter kritzelte und dabei ganz glücklich war, während wir, die doofen Journalisten, den Zustand unserer Fingernägel studierten und unsere alten Notizen in unseren alten Notizbüchern lasen. Natürlich geschieht ein ordentliches Brainstorming, sonst hieße es ja nicht so, nicht in der Muttersprache, es orientiert sich an unseren lieben Mitbürgern mit angloamerikanischem Migrationshintergrund sowie sonstigen Commonwealth-Bürgern, die sich einfach mit der Landesprache in hiesigen Theatern nicht dauerhaft anfreunden können. Immerhin wurde irgendwann das Wort Stockmann von einer Leiter aus durch das Wort Redaktion ersetzt. Man wäre sonst wahrscheinlich nicht darauf gekommen, dass Journalisten auch bei Ibsen in Redaktionen arbeiten oder wenigstens so tun, als würden sie arbeiten. Das Kernzitat zur Branche, gesprochen von Hovstad (bei Ibsen), es geht um das Taugen von Journalisten, streicht Ostermeier. Dafür muss Hovstad mangels Tochter Petra mit Mutter Katharina anbandeln, was hübsche Szenen ergibt.
Ganz ohne Ibsen ging freilich auch dieser Ibsen-Abend nicht. Also ohne die Geschichte mit dem verseuchten Boden, mit dem verseuchten Wasser, der eisenharten Reaktion des Stockmann-Bruders Peter, der bei Ibsen Bürgermeister ist, ohne das Umkippen der Figuren Billing, Hovstad und Aslaksen (sind das die berühmten, haha, Kippfiguren, von denen schreibt, wer auf sich hält, weil die alte Bühnenmarmelade bisweilen ein neues Etikett braucht??) Ibsen war ja seinerzeit ein komischer Mensch, er schrieb offene Schlüsse, er legte Antipathie weckenden Figuren tiefe Wahrheiten in den Mund und ließ Sympathieträger Blödsinn verkünden. Dergleichen wird bis auf Widerruf im gehobenen Feuilleton „verstörend“ genannt und die Wortnutzer geben vor, dies als das hohe Wirkungs-C anzusehen. Verstört aus dem Theater gehen, heißt glücklich und begeistert aus dem Theater gehen. Von eingesaut gehen ist freilich auch in dieser Theater-Philosophie nicht einmal im Kleingedruckten die Rede.
Der vierte Akt ist bei Ibsen der Akt mit der langen, sich steigernden Rede. Der Rede mit Ausrottungsphantasien. Der Tirade gegen die Diktatur der Dummen, die sich als Mehrheitsdemokratie tarnt. Das pseudodemokratische Spielchen des Originals schenkt sich die Regie gleich. Und was bei Ibsen auf Kierkegaard weisen mag, auf vertrackte Weise Schiller zitiert, das ist heute natürlich aus Sicht der geschulten Unwissenheit nicht mehr zu vermitteln, muss also modernisiert werden. Da klingt es nach Proseminar, das ist für Streber, nicht für schweißige ungekämmte Badeärzte, denen man niemals abnehmen würde, dass sie Ärzte sind. Die gegen ihn und seine natürlich untragbaren Thesen opponierenden Mitspieler schleudern auf die vorher geweißten Tafelwände eingangs genannte Farbbeutel, einige pariert der Badearzt mit seinem Körper, da haben die Spritzer einen kürzeren Weg ins Publikum, einige klatschen gegen die Wand, die erreichen eine größere Sprühbreite.
Der Text, den der Badearzt dem Publikum entgegen schleudert, hätte früher den Titel Rundschlag verdient, er ersetzt alte blöde Phrasen durch neue blöde Phrasen, er thematisiert alles, was das öffentlich-rechtliche Spätprogramm an aufklärerisch-investigativen Tiefenbohrungen so anbietet, dazu Prisen von Kulturkritik und Zivilisationsfrust, fundamentalistischer Weltverdammung und antispießbürgerlicher Spießer-Moral (Familienfeste sind trist und die armen Kreativ-Kinder müssen Ritalin fressen, damit sie nicht begreifen „Die Wirtschaft IST die Krise“). Da wissen wir nun aber endlich alle bescheid. Auf der schon erwähnten Sprachebene von „Poah nee ne?“ „Und das glaub ich jetzt nicht“ wird das Publikum einbezogen. Wer da echt mitspielt und wer so tut, als ob, ist nicht zu unterscheiden. Man hört Zwischenrufe, die an das fast 50 Jahre alte K-Gruppen-Geblöke zur Störung von Veranstaltungsabläufen erinnern, sonderlich modern ist das alles nicht.
Muss man im Theater noch das Wort „Transparenz“ ungebrochen in den Mund nehmen, während es allüberall nur noch zur Belustigung am neuen Gegenstand Piraten dient?? Der Drucker Aslaksen wirft den Linksfaschismus in die Debatte, der schweißige Badearzt, von dem die Farbe tropft, redet von „Nazi-Keule“, man hört auf der Bühne, es sei verbreitet, die Zivilisation im Theater zu kritisieren, um sie zu retten. Was sind das denn für Reden aus der Mottenkiste der „Diskursgeschichte“? Dass der KAPITALISMUS locker in der Lage sei, gegenläufige Tendenzen systemstabilisierend zu integrieren, erkannte schon der Mottenkisten-Guru Karl Marx. Zu lang ist der Redeteil übrigens wie bei Ibsen selbst immer noch. Irgendetwas von ihm muss schließlich erhalten bleiben.
Bleiben außerdem die Darsteller. Ingo Hülsmann reibt sich als Stadtrat Peter Stockmann derart ausdauernd und intensiv an der Nasenwurzel, dass man befürchten muss, er kann den nächsten Abend nur mit der schwarzen Gesichtsmaske des modernen Hochleistungsfußballs bestreiten. Er hat die undankbare Rolle dessen, der sagt, was jeder halbwegs vernünftige Mensch notarm unterschreiben könnte, dazu aber einen Anzug trägt. So einem gibt die fundamentale Alternativ-Schickeria im wirklichen Leben nicht einmal die Hand. Die ist jeweils auf der Suche nach der alternativsten Alternative und jeder, der diese „Diskurs“-Höhe nicht hält, ist ein Arsch. Was den Ärschen freilich an selbigem kalt vorbei geht. Stefan Stern ist Doktor Stockmann. Man würde ihm eher einen halben Euro in den Hut werfen, als seinen medizinischen Rat erbitten. Eva Meckbach ist Frau Stockmann. Viel mehr fällt mir zu ihr nicht ein. Christoph Gawenda spielt den Redakteur Hovstad, David Ruland den Drucker und Herausgeber Aslaksen. Viel mehr fällt mir zu ihnen nicht ein. Bleiben Moritz Gottwald als Billing und Thomas Bading als Morten Kiil. Die setzen die spielerischen Akzente, wobei ich nicht sicher bin, ob das immer im Sinne der Inszenierung war.
Ich habe vermutlich wie immer wenig verstanden und das auch noch unverständlich ausgedrückt.
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