Volker Braun: Unvollendete Geschichte/Arbeit für morgen

Von einer Wiederbegegnung ist zu reden, die – ich muß den anmaßenden Unterton in Kauf nehmen – auch eine Wiederbegegnung mit mir selbst ist. Als ich die „Unvollendete Geschichte“ zuerst las, war ich nur wenige Jahre älter als Brauns Karin, hatte ein Presse-Volontariat hinter und ein Philosophie-Studium vor mir. Nicht oft hatte ich mich bis dahin so unmittelbar, so intensiv, so nachhaltig betroffen gefühlt von einem Stück DDR-Literatur und zugleich – das war eine vollkommen neue Erfahrung für mich – Distanz empfunden. Ich stolperte über die erschütternde Naivität einer „Tochter aus gutem Hause“, ich stolperte über die ausgestellte Bühnendiktion mancher Dialogstelle, mir schien der Lernprozeß, den Karins Vater nach dem Willen Volker Brauns erkennen läßt, als jener Löffel Zucker, der den bitteren Tropfen des Textes wohlerwogen den Weg über die „Zungen“ erleichtert.

Unlängst habe ich den Historiker Brendler Vergleichbares eine „politikfähige Formulierung“ nennen hören. Hierhin ordnete ich damals auch die Zeichnung des Frank, konnte ihm die Reaktion auf den Putsch in Chile 1973 nicht abnehmen. Ich fühlte mich erinnert an manches Stück Prosa damaliger Poetenbewegung wie auch manches Gedicht, die es unternahmen, das Schema „Rauhe Schale – guter Kern“ zu bedienen, um in gut gemeinter Absicht, mangelnde Öffentlichkeit ersetzend,  der späteren Verlautbarung vorzuarbeiten, es komme nicht darauf an, was einer auf dem Kopf habe, sondern darauf, was in seinem Kopf ist. Aufgestört hat mich nun, nach der Wiederbegegnung mit dem 1975 in „Sinn und Form“ zuerst veröffentlichten Text, die hoffnungsvolle Äußerung Karin Hirdinas in ihrem Vortrag zur Rostocker Konferenz des Kulturbundes zum Thema „Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR“ (jetzt auch nachzulesen in NDL 3/89): „Und das Wiederlesen der Geschichte nach dreizehn Jahren macht einen einschneidenden Wandel bewußt: Karins Konflikt hat eine Grundlage verloren, läßt Jugendliche heute, um es salopp zu sagen, wahrscheinlich nur ablachen. ... Der Grad und die Form der Integration, die aus Karin ein willenloses Wesen gemacht haben, greifen nicht mehr so recht. Davon erzählen die meisten Bücher, die ich gelesen habe.“

Willenlosigkeit habe ich an Karin damals nicht bemerkt und vermag sie auch heute nicht zu finden. Eher sehe ich bei ihr eine höchst willentliche Identifikation mit der ihr aufgeprägten Rolle, die die Tiefe des Konflikts erst eigentlich ermöglicht, der aufbricht, als der Vater verlangt, sie möge sich von Frank trennen. Ich habe auch eine höchst lebhafte Vorstellung davon, was aus ihr geworden wäre, hätte dieser brachial über sie hereinbrechende Konflikt ihr nicht ein zuvor so gründlich und besorgt verhindertes Widerspruchsbewußtsein aufgedrängt und seine Entfaltung ermöglicht. Volker Braun billigt seiner jungen Heldin eine erstaunliche Hellsichtigkeit zu, nachdem sie einmal ihre anerzogenen Scheuklappen verloren hat, er rüstet sie mit einer ebenso erstaunlichen Sprachmächtigkeit aus, was mir beides noch immer nicht recht zum Alter des Mädchens passen will. Deutbar ist mir dies jedoch nun als ein Element einer durchgängig bemerkbaren Distanzierungsstrategie, die wohl auch mit dem alten Brechtschen Verfremdungsbegriff nicht völlig fehlinterpretiert wäre.

Brauns „Unvollendete Geschichte“ steht in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht zu alter und neuer DDR-Literatur, sie kontrapunktiert beispielsweise für mich „Das Vertrauen“ von Anna Seghers. Sie gibt auch, und das ist heute doppelt bemerkenswert, langwirkende Stichworte für nachfolgende Literatur. Insofern die „Unvollendete Geschichte“ zugleich auch und zunehmend in erster Linie ein Bild gibt von der unvollendeten Geschichte, ist sie ganz unzweifelhaft ein Meilenstein in der Geschichte unserer Literatur. Wenn Karin sich vorstellt, wie ein Buch auf sie wirken würde, „in dem einer heute an den Riß kam“ - sie hat gerade bei ihrem Bruder Plenzdorfs „Neue Leiden“ gefunden und akademiereif mit Goethe verglichen -, dann hat sie damit auch eine Intention Brauns formuliert: eingreifende Literatur soll an den „Riß“ führen, soll Dialektik der Geschichte, Dialektik des Sozialismus erkennbar (und empfindbar auch) machen und ihre Verarbeitung ermöglichen.

Das kann zwischenzeitlich, und vollendet wird die Geschichte ja nie sein, auch bedeuten: „Abstumpfen, um bei Sinnen zu bleiben!“ Das ist keine Botschaft für Jugendweihereden, obwohl es eine Botschaft für Jugendweihereden sein könnte. Nur die Geschichte selbst kann diese Botschaft des Fehlgriffs bezichtigen. Deshalb auch ist die Kopplung der alten Geschichte mit den programmatisch überschriebenen Anekdoten „Arbeit für morgen“ ein Bekenntnis. Sie wären ein eigener Gegenstand, für den mein Platz nicht reicht, sie greifen weit aus und benennen das Zentrum präzise: „Hingegen, fleißig ein Mensch zu sein, ist ein ausgefallener Beruf, in dem es einer nicht leicht weit bringt.“ „Sicht auf eine neue Gattung“ heißt der Text, diese Sicht ist Volker Brauns unersetzliche Arbeit für morgen.
 Zuerst veröffentlicht in: Sonntag, Nr. 32, Seite 4, 6. August 1989, unter der
 Überschrift: Arbeit für morgen, nach dem Typoskript


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