Carl, der zweite Einstein

Das gleichzeitige Auftauchen der Bände 89 und 70 der Gustav-Kiepenheuer-Bücherei verrät: hier sollte etwas längst da sein, es hat nur nicht eher geklappt. Und so stelle ich mir vor, dass der vergessene 100. Geburtstag von Carl Einstein vor vier Jahren – am 26. April 1985 – doch nicht gänzlich und überall vergessen worden war, nur zum sichtbaren Würdigen reichte es eben nicht. Nun, Carl Einstein ist ein Mann, dem verspätete Wiederentdeckung nicht schadet. Der Reclam-Verlag hat sie bei uns eingeläutet mit „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ (RUB 1208) und entlockte meiner Kollegin Astrid Volpert an dieser Stelle den Ausruf „Das ist ein Buch!“ (Vgl. „Junge Welt“ vom 16. August 1988). Einsteins eigensinniger Kunstgeschichte, die 1926 zuerst als 16. Band der großen Propyläen-Kunstgeschichte erschien, lässt die so überaus entdeckungsfreudige Kiepenheuer-Reihe jetzt den Sammelband „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“ folgen.

„Prosa und Schriften 1906 – 1929“ heißt es nüchtern im Untertitel, aber der André Gide gewidmete „Bebuquin“ allein ist ein Kultbuch aller Expressionismus-Freunde. Ich sehe immer, wenn ich den Namen Einstein begegne, die leuchtenden Augen Peter Ludewigs vor mir, der den Namen Bebuquin wie eine Offenbarungsformel aussprach lange Jahre bevor er seine stille Leidenschaft zu Büchern werden ließ wie das zuletzt erschienene zum „Expressionismus in Dresden“. „Einstein im Bebuquin schob den Konflikt bis dahin, wo das Geistige in den Nihilismus schwindet, jede Brücke zwischen Realität und Geist einstürzt, so dass dem ganz zum Intellekt Vereisten die Welt taumelnde Groteske, bestenfalls Mittel zum Denken wird“, schrieb Kurt Pinthus 1916 in einem Überblick über die jüngste Dichtung.

Die Herausgeber Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, die sich auf die Werkausgabe des Wiener Medusa-Verlages stützten, haben zu etwa gleichen Teilen Prosa und Literaturkritik sowie Kunstkritik und Kunsttheorie Einsteins zusammengestellt und wieder ist der Ruf angebracht: Das ist ein Buch! Und schon ist der dritte Carl Einstein für uns angekündigt: bei Reclam werden die „Afrikanischen Legenden“ erscheinen. Wird da nicht endlich auch die Herausgabe der „Fabrikation der Fiktionen“ zur Notwendigkeit, eines unerlässlichen Buches für jeden, den die brandaktuelle Frage des Verhältnisses von Intelligenz und Ideologie interessiert? Noch einmal also: das ist ein Buch, das war ein Mann!
Zuerst veröffentlicht in „Junge Welt“ Nr. 137 Seite 12 vom 13. Juni 1989 unter der Überschrift „ Der zweite Einstein“, nach dem Typoskript


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