Christian Milz: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller

Erst auf der allerletzten Seite des laufenden Textes verrät Autor Christian Milz (Jahrgang 1952), worin sein Ehrgeiz recht eigentlich besteht. Er möchte die Büchner-Forschung auf der Höhe der Zeit, die Büchner-Forschung des 21. Jahrhunderts, verkörpern. Unbescheiden gewollt ist das nicht und ich will gleich eingangs verraten, worin mein Ehrgeiz nicht besteht. Ich möchte nicht anhand der dreißig Festmeter-Büchner-Literatur überprüfen, bei welchem Semikolon Christian Milz irrt. Auch bekenne ich prinzipielle Schwächen meiner Kritiker-Persönlichkeit gleich eingangs, damit der am Ende vielleicht arg von mir enttäuschte Autor weiß, in welche Schublade des Bösen ich gehöre. Ich neige zu Urteilen aus dem Bauch heraus, was mich eher der Büchner-Forschung des 20. Jahrhunderts nähert, wie Milz sie sieht und ich halte Pluralismus für kein Teufelszeug, wofür Milz ihn zumindest an einer Stelle seines Buches indirekt erklärt.

„Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller“ ist im Wiener Passagen-Verlag erschienen, dessen Gründer Peter Engelmann in diesem Büchner-Jahr anlässlich des 25-jährigen Verlagsjubiläums allerlei forciertes Lob einstreichen konnte. Ob und wenn ja, bei welchen Verlagen innerhalb der Landesgrenzen Christian Milz es mit seinem Manuskript vorher versucht hat, entzieht sich meiner Kenntnis, auch hat der Autor in einer Hinsicht im Stich gelassen, die in wissenschaftlichen Büchern oft ganz nett in Vorworten bedient wird: Man erfährt nicht von der Initialzündung, die sein Interesse am Stoff und die vor allem seine Kernthesen auslöste. Dafür verrät das hinten gedruckte Literaturverzeichnis, dass es vor diesem Buch offenbar keine einzige Publikation zu Georg Büchner von Christian Milz gab. Im akademischen Verständnis ist er also kein „ausgewiesener“ Autor und vermutlich nicht nur einmal von den Ausgewiesenen als solcher behandelt worden. Mir jedenfalls erklärt sich ein durchgehender Zug des Buches, seine latente Aggressivität gegen alle bisherige Büchner-Forschung, genau daraus.

Drastisch formuliert könnte man meinen, Milz kriminalisiere gar einen Teil der Büchner-Forschung,   in dem er ihr fortgesetzt und an zahlreichen Stellen seines Buches Unterschlagung vorwirft. Man kann an den Stellen, wo er von ihm fixierte Defizite anspricht und andere Verben als sein „unterschlagen“ verwendet, indirekt ablesen, wo sein aufgestauter Ärger (und gegen wen) geringer war während der Arbeit am Manuskript. Als langjähriger Gerichtsberichterstatter weiß ich freilich, dass bei Staatsanwaltschaft und Richtern eines immer ungut auffällt, das, was in der Amtspraxis Belastungseifer genannt wird. Am glaubhaftesten wirken Zeugen, um es positiv zu formulieren, immer dann, wenn sie keinerlei Belastungseifer erkennen lassen, sondern sachlich eine Faktenlage nach bestem Wissen und Gewissen abhandeln. Wegen des wiederholten Unterschlagungsvorwurfs ist mein Vergleich vielleicht weniger an den Haaren herbeigezogen als es scheinen mag.

Das Buch ist nach wohl zehn und mehr Jahren Arbeit (diverse Daten vor allem im Anmerkungsteil legen diese Vermutung zum getätigten Zeitaufwand nahe) zunächst einmal ein Zeugnis enormen Fleißes. Man muss schon sehr in ein Thema verliebt sein, wenn man ihm so lange treu bleibt. Und man muss von seiner wissenschaftlichen Mission, so will ich es absichtsvoll einmal nennen, ebenfalls sehr überzeugt sein. Es gilt zwar in der herkömmlichen Philologie der Grundsatz vom größten Haufen, auf den der Teufel und so weiter, indem also nicht etwa dort, wo noch kaum etwas vorliegt, sondern genau dort, wo schon ganze Berge vorliegen, weiter „geforscht“ und geschrieben wird. Die Anführungszeichen setze ich, weil ich mit dem Begriff Forschung im Zusammenhang mit einer Tätigkeit, die man auch Interpretieren nennt, so meine Schwierigkeiten habe. Ich las seinerzeit „Against Interpretation“ von Susan Sontag mit anhaltenden Langzeitfolgen.

Christian Milz vertritt die These, dass man Georg Büchner wirklich und in tiefer Tiefe nur verstehen kann, wenn man ihn aus der Sicht der „Woyzeck“-Deutung deutet, man bliebe sonst an der Oberfläche oder ziemlich oberflächennah. Das ist eine durchaus passable These, man muss freilich, um sie zu vertreten, der vorhergehenden Büchner-Forschung wie auch der Büchner-Ehrung in der Doppeljubiläumszeit deshalb nicht gleich Weichspülerei und Blindheit nachsagen. Der Weichspülvorwurf der Einleitung wird übrigens nirgends im Buch wieder aufgegriffen, ist also eher als Provokation für jene potentiellen Leser (und Kritiker) gedacht, die sich ihre Meinung nach den ersten und einigen beliebigen weiteren Seiten des Textes fertig bilden. „Woyzeck“ hat den Vorteil, dass er ein Fragment ist, ein unbeendetes Werk, um nicht unvollendet zu sagen, von solchen Werken wimmelt die Welt. Mit diesem Charakter von überliefertem Text-Material, aus dem nie ein konsistenter Textkörper wurde, ist Deutern ein Freibrief ausgestellt. Niemand weiß, wie der „Woyzeck“ aussähe, wenn Büchner länger gelebt hätte. Es darf nicht einmal als wirklich sicher gelten, ob er ihn überhaupt zu einem ihn selbst ruhig stellenden Ende geführt hätte.

Seit es die Faksimile-Aussage der Handschriften gibt, auf die sich Christian Milz immer wieder bezieht, muss niemand mehr zwingend die weißen Archivhandschuhe anziehen in Weimar. Inwieweit andere Regeln des klassischen akademischen Wissenschaftsbetriebes im Felde der Philologie damit auch außer Geltung gesetzt sind, wage ich nicht abzuschätzen. Ich habe jedenfalls selten so viele Binnen-Zitate in einem Anmerkungsteil gefunden wie bei Christian Milz, während doch der klassische Philologe eigentlich alles, was nicht historisch-kritische Gesamtausgabe ist, wenigstens bei den Klassikern, für suspekt hält, was auf den Umgang mit allen anderen Zitierquellen immerhin insofern sich auswirkt, dass noch die entlegenste neuseeländische Geburtstagsfestschrift in Maori-Sprache bei Strafe des Anscheins von Unseriösität aus dem Original zitiert werden muss. Eine Handschrift, die schon früh in bester Absicht verdorben wurde, ist alles andere als eine gute Quelle für Drucktext. Die Existenz von mehreren Handschriften zum gleichen Stoff/Stück machen alles keineswegs leichter.

Es ist aus der Tatsache, dass einige Szenen aus der frühesten Handschrift umgearbeitet oder benutzt in späteren Niederschriften auftauchen, andere nicht, eben keineswegs zu folgern, dass die letzteren von Büchner als keiner Bearbeitung mehr würdig, weil in sich vollendet, angesehen wurden. Es fehlte möglicherweise nur die Zeit. Auch diese Anmerkung will ich gleichmachen: Ich halte es bei einem Autor, der 23 Jahre alt wurde, für glatt verfehlt, mit Sätzen, in denen die Worte bereits oder schon vorkommen, zu suggerieren, hier wäre ernsthaft von Phasen seiner Entwicklung oder seiner Weltsicht zu reden. Ein in so kurzer Zeit bei einem so jungen Mann entstandenes Werk verdient, im Status leicht erweiterter Gleichzeitigkeit behandelt zu werden. Die zeitliche Folge der drei Bühnentexte legt (für mich) keinerlei Prioritätsverschiebungen etwa zwischen Tragödie, Komödie oder Drama nahe, hier probiert sich ein sehr junger Mann sehr nachvollziehbar einfach aus. Ob Büchner je wieder an „Dantons Tod“, an „Leonce und Lena“ oder eben an „Woyzeck“ angeknüpft hätte oder vielleicht zu seiner eigenen Überraschung ein gefeierter Hochschullehrer geworden wäre, der den Beruf als Lust und nicht als Last empfunden hätte, wir wissen es nicht. Freilich weiß ich, dass Dichtungsdeuter gar nicht anders können, als nichtdichterische Tätigkeiten von Dichtern als Verlustzeiten zu verbuchen. Beim größten von allen, bei Goethe, geht so etwas am beispielhaftesten krachend daneben.

Es gibt eine Seite im Buch (und die dies bestätigende im Anmerkungsteil), die mir den Atem stocken ließ. Auf Seite 136 zitiert Christian Milz das Autorenpaar Friedrich Nicolai und Wolfgang Albrecht mit einer Aussage aus dem Jahr 1799 und weist das auf Seite 218 auch noch genau so nach. Der MML (Maximal Möglicher Lapsus) besteht darin, dass 1799 noch nicht einmal der Urgroßvater von Wolfgang Albrecht geboren war, geschweige denn Albrecht selbst. Stattdessen war Albrecht der Herausgeber einer Sammlung von Schriften des gern verlachten und noch lieber verkannten Berliner Spätaufklärers Nicolai im Rahmen eines ost-westlichen Verlagsprojektes mit dem Namen „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“, deren gediegene Bände noch heute mehr als nur empfehlenswert sind. In der DDR erschien das Buch 1987 im Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar, gleichzeitig auch in München. Man muss als Leser sehr tapfer sein, um hier nicht eine Entwertung aller Attacken gegen Unterschlagung (oder des Vorwurfs gegen Georg Büchners Schwester Luise wegen eines kleinen Lapsus in ihrem unvollendeten Roman) zu sehen.

Halten wir es ausnahmsweise mit Lenin, von dem die Rede, nur der mache keine Fehler, der nicht arbeite, gern zitiert wird, weniger gern freilich mit Quellenangabe. Nehmen wir den Lapsus auf die Kappe des forcierten Eifers, mit dem Christian Milz seine eigentliche Hauptthese verfolgt, was ihm freilich den Tunnelblick unterstellen würde, den er seinen angenommenen und tatsächlichen Widersachern nachsagt. Die Hauptthese lautet: „Woyzeck“ vor allem, genauer genommen aber sein Gesamtwerk, seien hoch- bis höchstverschlüsselte Beiträge zum Inzestdiskurs um 1800. Es gibt am Ende des Buches von Milz keine Auflösung des Rätsels. Man kann seinen zahlreichen Belegversuchen folgen oder nicht, so zwingend, wie er selbst meint, sind die Belege meist nicht. Ich greife das für mich gravierendste Beispiel heraus: Aus „die Woyzecke“ will Milz unabweislich behaupten, es sei und könne nur von einer Frau die Rede sein, obwohl auch die Büchner-Zeit durchaus noch für weibliche Namensträger ein -in hintan setzte. Warum aber klammert er die Möglichkeit eines Plurals so rabiat aus?? Unterschlägt er sie gar??

Es würde jeden hier gegebenen Rahmen sprengen, den einzelnen Belegen zu folgen. Stattdessen frage ich aus dem Bauch heraus: Gesetzt, alle Belege würden genau das belegen, was Milz mit ihnen belegen will, was um alles in der Welt treibt einen jungen Erwachsenen, der eben dabei ist, seine akademischen Erstsporen zu verdienen, der eben dabei ist, mit seiner Liebsten, die ihm sicher ist, ein gemeinsames Leben zu beginnen, der sogar damit rechnet, bald nach Deutschland zurückkehren zu können, ohne Verfolgung fürchten zu müssen, was treibt einen solchen Mann zu einer so exzessiven sexuellen, näherhin sexuell Perverses meinenden Metaphorik, Allegorik, Bildhaftigkeit? Christian Milz deutet nicht einmal an, was dazu getrieben haben könnte, wenn er nicht ernsthaft das fallende Taschentuch seiner Großmutter für den Enkel Georg Büchner dafür rekrutieren will, wie es allerdings auf arg fragwürdige Weise im letzten Abschnitt des Buches tatsächlich der Fall zu sein scheint. Wenn alles stimmt, was Christian Milz in den „Woyzeck“ hinein- und aus ihn herausliest, dann war Georg Büchner weniger das Genie als ein infantiler Bengel. Was Genialität natürlich nicht  vollkommen ausschließt.

Wie weit sich Christian Milz hinreißen lässt, um seine Inzest-These so vielfältig wie möglich abzustützen, belegt eine geschilderte Szene zwischen Enkel Georg und der Großmutter aus der „Beletage“. Der kleine Georg sei stolz gewesen, wenn man ihn fragte, ob die Großmutter an seiner Seite seine Braut sei. Dies bedeute Vermählung im Inzest in der Familienüberlieferung? Nach dieser Logik werde ich von Bekannten im Inzest vermählt mit meiner Tochter, wenn sie an meinem Arm die Ilmenauer Fußgängerzone durchschreitet und jemand fragt, ob das meine „Neue“ sei. Ein harmloser Scherz einem Kinde gegenüber wird in einer Weise mit Bedeutung überfrachtet, die, tut mir leid, haarsträubend ist. Auch alles, was über die Sonne gesagt wird von Milz, obwohl es sehr viel evidenter scheint, ist mir Überfrachtung, das betrifft die im „Woyzeck“ gesungenen Volksliedfragmente und viele andere Einzelaussagen. In dieser, nur in dieser Hinsicht, begibt sich Christian Milz zurück auf den längst überwundenen Stand der Freudschen und Nachfreudschen Literaturlesarten, die im Ansatz enorm fruchtbar waren, bei Überdosierung aber zeitig einfach nur lächerlich wirkten.

Viel Sympathie flößt mir eine im Kontext des Buches fast nebensächliche These ein: Büchner habe mit dem „Hessischen Landboten“ einen Plan B verfolgt, den nämlich, mit familienkompatibler Begründung zu seiner Minna nach Straßburg zu gelangen. Sympathisch ist mir auch alles, was auf eine wesentliche stärkere Beachtung der Bezüge Georg Büchners zur deutschen und fast noch mehr zur französischen Romantik dringt. In der Tat ist die Einbeziehung der beiden Victor-Hugo-Übersetzungen Büchners ja bisher keineswegs als überbelichtet zu betrachten, verglichen mit der Unzahl der „Woyzeck“- Deutungen kann man es halbwegs getrost ein Desiderat nennen. Und noch die Bezüge zum „Hamlet“, die Christian Milz für mich überzeugend vorträgt, sind, wie ein zitiertes Antwortschreiben an Milz im Anmerkungsteil belegt, durchaus geeignet, Meidbewegungen in der akademischen Forschung zu provozieren. Trotz einer Riesenmenge von Anmerkungen ist der Text lesbar und appetitlich gegliedert, als Extrem des Gegenteils fällt mir sofort Adam Soboczynski mit seinen beiden Kleist-Büchern ein, die man im günstigen Fall als unfreiwillige Parodie deutscher akademischer Wissenschaftssprache der Gegenwart lesen kann, wo sie am widerlichsten ist, sprich, sie sind ungenießbar. Milz liest sich und man kann sich, wie auch immer, an seinen Sätzen trefflich festhaken. Wobei ich sehr viel Widersprechendes formulieren würde.

Zur Seite 120 etwa die Frage: Dürfen Huren keine Gewissensbisse haben? Zu Seite 121: Wieso ist, was nicht beabsichtigt ist in einem Text, Zufall? Ebenfalls Seite 121: Was belegt das Vorkommen eines Wortes in einer deutschen Shakespeare-Übersetzung gegen seine hessische Herkunft? Zu Seite 112: Warum darf Büchner sich in einem Rohmanuskript nicht einmal ungeschickt ausgedrückt haben? Zu Seite 98: Könnte es sein, dass Michel Foucault dem Sexuellen generell eine andere Wertigkeit zuordnet, weil ihn, ob er will oder nicht, seine eigene Andersartigkeit dazu zwingt? Zu Seite 94: Soll man ein Schreiben, um Freunde der Allegorie an der Nase herumzuführen, tatsächlich als denkbar annehmen bei einem Mann von Büchners Format? Auf Seite 86 finde ich diesen für mich verräterischen Satz über einen Herrn Ludwig Adolf Christian von Grolman (1741 bis 1809): „Grolmans propagandistisches Instrument war die Verschwörungstheorie, damit projizierte er seine eigene Vorgehensweise auf die Gegner...“. Ist die wenige Seiten zuvor suggerierte Nicht-Übersetzung des Büchner-Buches von John Reddick nicht selbst pure Verschwörungstheorie?

Bleibt, um diese Besprechung nicht ausufern zu lassen, die Frage nach dem Adressaten eines solchen Buches. Christian Milz ist sich vollkommen klar darüber, dass er jedem Büchnerfreund die Freude an Georg Büchner verleidet, sollten dessen Texte in der Tat eines solchen Extremaufwandes an Deutung und Interpretation von jeweils unbekanntem Subtext, Praetext, der sogar Realie sein kann, bedürfen, wie er es selbst vorführt. Man müsste, streng genommen, spätestens nach jedem zweiten Wort in den Handschriften des „Woyzeck“ einen Lesesaal mit allen bisherigen Deutungen, allen zeitgeschichtlichen Abhandlungen, allen Diskursanalysen, selbst den verrücktesten, aufsuchen, und hätte spätestens nach dem dritten Gang die Nase voll. Ich läse jedenfalls unendlich viel lieber eine fundierte Darstellung zu „Woyzeck“ auf der Bühne. Damit könnte man die Katheder-Forscher wirklich auf dem linken Bein erwischen, so selten lassen sie erkennen, dass sie auch einmal ihre Text-Objekte im Theater besuchen.


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