Franz Fühmann: Barlach in Güstrow

Zum 75. Todestag von Ernst Barlach mit „Die echten Sedemunds“ zu beginnen, wäre eine Option. Immerhin hat Walter Muschg 1958 dieses Drama als möglichen Einstieg in das Bühnenwerk Barlachs empfohlen, neben der „Sündflut“, neben „Der arme Vetter“. Zeitgemäßer aber bietet sich mir ein streng genommen skurriler Beitrag von Tilman Krause in „Die literarische Welt“ vom 15. Dezember 2012 an. Ausgerechnet der alle Medien bis zur Erschöpfung beschäftigende so genannte Suhrkamp-Streit wird dort zum Anlass, Ernst Barlach, den Großvater von Hans Barlach,  Frontmann des einen Streitlagers, in seiner Tauglichkeit als Galionsfigur abzuklopfen. Tilman Krause nimmt sein Fazit schon in die Überschrift: „Ernst Barlach taugt nicht als Galionsfigur“. Was im gestreckten Zweispalter im Detail über Barlach steht, darüber ließe sich trefflich streiten, als Barlach-Fan outet sich Krause auf alle Fälle nicht und mit Vokabeln wie „dräut“, bezogen auf den „Geistkämpfer“ in der Kieler Nikolai-Kirche,  ruft er sicher sehr zielstrebig ganz bestimmte Assoziationen auf. Die Barlach verfehlen.

Es wäre auch eine Frage, ob man den Dramatiker Barlach mit seinen sieben Stücken tatsächlich summarisch abhandeln kann über die Erwähnung zweier Kritiker aus der Zeit vor 1933. DER Knaller war Barlach auf deutschen Bühnen um 1930 todsicher nicht. Gegen Legendenbildungen gerichtet sind die Verweise auf eine Werkhilfe aus 1937, noch mehr aber auf eine Unterschrift aus 1934 unter einem Aufruf von Kulturschaffenden, der Hitler Vertrauen aussprach. Ohne eine Einbettung in den überwältigenden Rest von Barlachs Leben in den Jahren 1933 bis 1938, wie sie etwa Peter Paret in seinem Buch „Ein Künstler im Dritten Reich. Ernst Barlach 1933 – 1938“ (Wolf Jobst Siedler jr.) unternahm, führen solche punktuellen Verweise in die Irre. In einem DDR-Kontext hätten sie möglicherweise noch die Chance gehabt, falsche Vereinnahmungen zu konterkarieren, 2012 aber ganz sicher nicht mehr. Auf Parets schmales Buch machte übrigens die Süddeutsche Zeitung schon 2004 aufmerksam, als es noch nicht in deutscher Übersetzung vorlag. Bleibt die Frage, wer denn überhaupt eine Galionsfigur, und wenn ja, wofür, nötig hat.

Für den 1984 viel zu früh verstorbenen DDR-Schriftsteller Franz Fühmann dagegen wurde Ernst Barlach zwar auch zu keiner Galionsfigur, wohl aber zu einer sehr besonderen Identifikationsfigur. In der kulturpolitisch alles andere als leichten Zeit des so genannten „Bitterfelder Weges“, auf den gescheucht zu werden manchem und mancher heutiger Roman-Fließlinie, die von Buchmesse zu Buchmesse ihre Produkte vom Band rollen lassen, sehr gut täte, in dieser Zeit am Beginn der sechziger Jahre, hatte Franz Fühmann mit „Kabelkran und Blauer Peter“ seine schriftstellerische Pflicht durchaus tapfer erfüllt und griff nach dem ihm grundfremden Stoff Ernst Barlach zwar sicher nicht wie nach einem Strohhalm, aber nach einem ihm auf alle Fälle näheren Gegenstand. Überliefert ist, dass Fühmanns Lektor mit dem Titel „Barlach in Güstrow“ seine Schwierigkeiten hatte, weil der angeblich zu sehr an „Goethe in Weimar“ erinnerte, was bezeichnend wäre für den gemeinten Kurt Batt, der ebenfalls viel zu früh starb. Ursprünglich war der Barlach-Text als Begleittext für eine Ausstellung gedacht und hieß da auch noch „Ernst Barlach. Das schlimme Jahr“. Er ging dann unter dem späteren Titel in die Sammlung „König Ödipus“ ein und erschien separat 1973 und 1977 als Reclamband 487. Die 32 Bildtafeln machen beide Auflagen wertvoll, wegen des Engelkopfes mit den Zügen von Käthe Kollwitz ist die zweite Auflage einfach schöner.

Ich las in den Jahren 1977 bis 1979 von Franz Fühmann alles, was ich in die Hände bekommen konnte, auch die heute extrem seltenen Titel „Die Literatur der Kesselrings“ oder „Spuk“, die Kinderbücher, das Shakespeare-Märchen „Ein Sommernachtstraum“, vor allem aber die Sammlung „Erfahrung und Widerspruch“, die Mut machend wirkte, weil sie Mut dokumentierte, der sich von Dummdreistigkeit, die nach der Biermann-Ausbürgerung bei kritischen Köpfen leider auch um sich griff, so wohltuend unterschied. Und beim jetzigen Wiederlesen von „Barlach in Güstrow“ traf ich natürlich meine Pünktchen an der Seite, die mir das Wiederfinden für zitierfähig gehaltener Stellen zu erleichtern hatten. Kurz und knapp: Für mich war „Barlach in Güstrow“ im Dezember 1979 vor allem ein DDR-kritisches Buch. Heute stört mich, mich selbst etwas überraschend, der Stil, den Fühmann bemühte. Das Kunstvolle rutscht zu rasch und zu häufig ins Künstliche, die Manier droht, und alles in allem fehlt, meine ich heute, dem Büchlein jener Humor noch im Ansatz, den Fühmanns Gegenstand Barlach in reichem Maß zur Verfügung hatte. Humor und Barlach aber passten offenbar noch 1988 in der DDR-Wahrnehmung wenig zusammen. Die diversen Beiträge zu seinem fünfzigsten Todestag im Oktober 1988 fühlen nur einmal in diese Richtung und dann ist verkürzend lediglich von Heiterkeit die Rede. Ich nenne mal für Nostalgiker Namen, die damals den Jubiläumsanlass aufgriffen: Horst-Jörg Ludwig (Berliner Zeitung), Reinhart Grahl (Tribüne), Peter H. Feist (Neues Deutschland), Gerhard Ebert (Neues Deutschland), letzterer mit einem Kleintext noch heute zum Fremdschämen.

Immerhin ist es, weil die DDR war, wie sie war, besonders bemerkenswert, wenn zum fünfzigsten Todestag Barlachs das Leitmedium wie nebenher festhielt: „Einige seiner Stücke entziehen sich gewiß auch künftig einer Aufführung. Unsere Bühnen zauderten jedenfalls nicht zufällig sehr lange.“ Als wären Spielpläne zu DDR-Zeiten Sachen zwischen Zögern und Zugriff seitens der Theater selbst gewesen. Immerhin, das Volkstheater Rostock hatte schon 1965 (schon !!) „Der arme Vetter“, das Deutsche Theater Berlin ließ sehr viel später „Der blaue Boll“ und „Die echten Sedemunds“ folgen. Aber die Dramenauswahl des Leipziger Reclam-Verlages fand in den Tageszeitungen dennoch nur spärlichstes Echo unbekannter oder unter Pseudonym schreibender Autoren (Christoph Winkel, Simon Hensel). Barlachs eigenes Land war die DDR nicht und ich will meinen, jene Berliner Freunde meiner Studienzeit (und späterer Zeiten), bei denen selbst teure Bildbände umherlagen und alles, was sonst irgendwie greifbar war inklusive Plakate, sahen Barlach, wie ihn Franz Fühmann früh sah und wie er, dem folgend, dann wohl verbreitet gesehen wurde.

Lese ich heute in der dicken Fühmann-Biographie von Hans Richter, so habe ich das Gefühl, dass noch 1992 dem hochverdienten (und von mir durchaus verehrten) Jenaer Germanisten über die hier gemeinte Seite des Fühmann-Buches beschwichtigende Erklärungen nötig schienen. „Die weitgehende Identifikation mit Barlach“, schrieb Richter, „hat aber auch eine ganz aktuelle Seite: Fühmann ist zwar weit davon entfernt, das Nazireich und seinen eigenen Staat gleichzusetzen; aber als sensibler Künstler, der mit kulturpolitischen Postulaten und Dogmen der Herrschenden in Konflikt kommt, entdeckt er in den Gefühlen und Gedanken Barlachs vieles, was ihn selbst als Schaffenden unmittelbar betrifft.“ Verkniffener kann man es kaum ausdrücken. Franz Fühmann hat, als er sich mit Ernst Barlach auseinandersetzte, ganz offensichtlich, über alle Maßen offensichtlich, eben Parallelen zwischen dem Erleben Barlachs unter der braunen Diktatur und seinem eigenen Erleben gefunden. Nur ganz zu Beginn spielte die Hauptrolle für Fühmann sicher die Erkenntnis, dass auch Barlach eine Wandlung erlebt hatte, wie sie Fühmann für sich selbst in Anspruch nahm und in seinem Werk immer wieder in neuen Anläufen auch gestaltete: vom, vereinfacht gesagt, euphorischen Bejaher eines Systems, das er später als verbrecherisch oder wenigstens menschheitsverderblich erkannte. Fühmann durchlief das letztlich sogar zweimal.

Es ist heute längst kein Geheimnis mehr, wie gerade jene, die sich nach 1945 in Abkehr von ihren eigenen braunen Jugendidolen einem neuen Idol im vermeintlich besseren Deutschland zuwandten, viel heftiger und viel nachhaltiger enttäuscht wurden als jene, die fortan mit Idolen gar nichts mehr zu tun haben wollten. Parallelen zwischen dem, was jetzt immer eilig „zwei Diktaturen“ genannt wird, sind eben keine Gleichsetzungen, werden freilich von interessierter Seite geradezu liebend gern als solche denunziert, um den bohrenden Fragen nach diesen Identitäten mit reinerem Gewissen aus dem Weg gehen zu können. Fühmann merkte am Beispiel Barlach, dass es jenem unter Hitler in deprimierend deutlicher Weise als Künstler sehr ähnlich ging wie dem Künstler der DDR, der bis zum Hinscheiden des Staates 1989/1990 immer in der Bedrohung stand, irgendeiner ideologischen, weit mehr als zwanzig Jahre lang sogar noch ungeprüft aus der Sowjetunion importierten Kampagne zum exemplarischen Opfer zu fallen. Wie viele landeten zwischen 1949 und 1989 wegen welcher haarsträubender Dinge in Gefängnissen, erlebten den Verlust ihrer Arbeitsplätze, erlebten Auftragsentzug, um ein Harmloses zu nennen, das aber nur scheinbar harmlos ist. Ich behaupte, das machte 1979 Fühmanns „Barlach in Güstrow“ mehr als interessant.

Die Geschichte, die Fühmann kunstvoll, fast zu kunstvoll, gebaut hat, um in wenige Stunden des 24. August 1937 tendenziell die ganze Barlach-Biographie zu verpacken, weist nicht zwingend nach, dass sie einer „reinen“ Biographie überlegen wäre. Fühmann hat Zitate aus Barlach in den Text integriert, ohne sie als Zitate kenntlich zu machen, das mag den Detektiv unter den Lesern animieren. Aber allein die fast ununterbrochene Folge althochsprachlich nachgestellter Genitive nervt. Den offenbar zwischendurch unabweislich werdenden Drang, rhythmisierte Prosa durch Auslassen von Vokalen zu erzielen, als drohe im laufenden Text ein Verstoß gegen ein Silbenmaß, kann man kunstvoll finden, muss man aber nicht. Im Kern scheint mir erkennbar, dass Fühmann wohl stofflich zu Ende kam für seinen Text, bis zur inneren souveränen Distanz zu seinem Gegenstand aber nicht. Das Bild von der Garotte, jenem grausamen Hinrichtungsinstrument der Spanier keineswegs nur in Zeiten der Inquisition, wie vorschnell behauptet wurde, trägt eine Weile Fühmanns Erzählung, kommt aber dann an den Punkt, wo es überstrapaziert wirkt. Ich würde wetten, dass genau diese Züge des Textes es waren, die Hans Richter davon abhielten, über die rein literarisch-sprachliche Qualität mehr und auch Kritischeres zu sagen, als er tatsächlich sagte.

Auf Seite 53 der Reclam-Ausgabe von 1977 ordnet Fühmann seinem Barlach eine lange Vision zu, wie ein künftiges Deutschland sein müsste, darunter auch dies: „Ein Deutschland der freien Rede, das wahr war und Wahrheit ertrug.“ Und vorher schon: „Ein Deutschland, in dem man leben konnte in jener heiter-dankbaren Arglosigkeit, die ein Grundzug von Barlachs Wesen war...“. Wie heiter und wie arglos waren viele in dieser DDR wie lange und wie klar wurde ihnen der selbstmörderische Charakter dieser Arglosigkeit, als sie später so genannte Akteneinsicht erlangten? Liest man, mit welcher Perfidie eben auch gegen Franz Fühmann jene Behörde aus der Berliner Normannenstraße vorging, kann man dann tatsächlich noch ernstlich glauben, es gäbe grundsätzlich Unterschiede zwischen totalitären Regimen, nur weil sich die Farbe ihrer Fahnen unterscheidet? Fühmann hatte, als er sich mit Barlach befasste, instinktiv und dann auch mit vollem Bewusstsein den wunden Punkt erfasst. In seiner Darstellung gewinnt Barlach Züge, die dem jungen Heinrich Böll überraschend ähneln, bei dem dafür Leon Bloy eine Hauptrolle spielte.

Der Schweizer Walter Muschg (1898 bis 1965) hat zwei wunderschöne Essays über Ernst Barlach als Briefschreiber und über Barlach als Dichter hinterlassen, neu nachzulesen in dem dicken Diogenes-Buch „Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays“ (Zürich 2009). Zum 75. Todestag Barlachs ist das mehr als nur ein kleiner Tipp. Die Lektüre des Fühmannschen Barlach-Büchleins ist nebenbei auch eine Vorbereitung für das tiefere Verständnis seines Georg-Trakl-Buches, dem ich an dieser Stelle spätestens dann viel Aufmerksamkeit widmen werde, wenn Trakls Kriegstod 1914 sich zum hundertsten Male jährt


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