Barbara Bronnen: Fliegen mit gestutzten Flügeln

Auch das passiert: Man hat ein Buch gelesen, man will darüber schreiben und weiß sogar schon ungefähr, was man darüber schreiben will und plötzlich stolpert man über ein einzelnes Faktum. Im vorliegenden Fall betrifft es ein Datum aus dem Leben der 82 Jahre alten Ricarda Huch. Sie habe, liest man an vielen Stellen, am 24. Januar 1946 als Alterspräsidentin zur Eröffnung des Thüringischen Landtages gesprochen. Der Redetext nimmt nicht mehr als zwei Druckseiten in Anspruch, es geht, wenig überraschend, um Demokratie. „Demokratie ist eine Sache der Gesinnung.“ heißt es da beispielsweise. Man könnte sofort mit der Überlegung anheben, was an dieser Stelle wohl das vorbelastete Wort Gesinnung bedeute. Man wäre beim neuen Wein in alten Schläuchen oder ähnlichen Metaphern. Nur eine einfache Sache wird von allen, die das Datum und die mit ihm verbundene Tatsache aus dem Leben Ricarda Huchs erwähnen, übersehen. Am 24. Januar 1946 gab es gar keinen Thüringischen Landtag.

Die Wahlen zu ihm fanden am 20. Oktober 1946 statt, die konstituierende Sitzung, auf der Ricarda Huch hätte reden können als Alterspräsidentin, war am 21. November 1946. Um Alterspräsidentin zu werden, hätte sie gewählt sein müssen. Niemand erwähnt jedoch jemals, sie habe sich im hohen Alter für eine Partei auf deren Liste nehmen lassen. Schaut man sich die Internetseite des Thüringer Landtages an, dann findet man die Ankündigung einer festlichen Veranstaltung aus Anlass des 150. Geburtstages von Ricarda Huch am 2. Juli mit dem Hinweis, sie habe im März (kein Datum) 1946 die Beratende Landesversammlung eröffnet. Diese Beratende Landesversammlung trat auf der Basis eines Gesetzes vom 12. Juni 1946 zusammen, ihre Zusammensetzung war vorgeschrieben, es gab eine festgelegte Anzahl von Sitzen für Parteien und Organisationen, dazu einige Sitze, die auf Vorschlag der Parteien vom Präsidenten an hervorragende Persönlichkeiten vergeben wurden. Die Konstituierung dieses Gremiums war am 26. Juni 1946, dort sprach Ricarda Huch ihren bekannten Text und das richtige Datum hat, Überraschung für alle Gegner des ach so unseriösen Internets, nur eine relativ neue Internetseite www.ricarda-huch.com.

„Es ist zu hoffen“, sagte Ricarda Huch damals, „daß unser Unglück die Grundlage des Entstehens einer wahren Demokratie wird, in der jeder sich als belastetes und tragendes Glied fühlt, in der jeder den andern über die Parteien hinaus als Menschen in seiner Freiheit ehrt und zu verstehen sucht.“ Das ist ein durchaus passabler Ansatz. Es ist zu hoffen, füge ich an, wenn sich schon niemand mehr  mit dem Werk von Ricarda Huch selbst richtig befassen will, dass dann wenigstens die Fakten aus ihrem Leben nicht ungeprüft voneinander abgeschrieben werden. Das 2007 im Arche-Verlag erschienene Buch von Barbara Bronnen (Jahrgang 1938) über die letzten Lebensjahre von Ricarda Huch wäre ein idealer Ort für präzise Recherche gewesen. Und enthält zum Thema doch nur die bekannten falschen Fakten. Liest man die Passagen des Buches über den Besuch in Jena, dann bekommt man eine eher erschütternde Vorstellung von der Arbeitsweise Barbara Bronnens. Sie umschleicht das Haus im Philosophenweg, findet einen schlafenden jungen Mann, den sie nicht etwa weckt, nutzt dann einfach eine offen stehende Tür vorn, um sich drinnen ein wenig zu setzen, Phantasien zu entfalten, weitere Erkundungen unternimmt sie nicht.

Was gedacht ist als Versuch, Atmosphäre zu vermitteln, könnte vielleicht als Anklage gegen den schlampig-gedankenlosen Umgang des Freistaats Thüringen mit einem Gedenkort gelesen werden, auch dann jedoch und gerade dann wäre weitere Recherche unerlässlich gewesen. Weil Barbara Bronnen lange als Journalistin gearbeitet hat, muss man ihr das vorwerfen, nur reine Dichter dürfen ausschließlich an einer Blüte riechen, um daraus das Lebensbild einer fernen Epoche zu gewinnen. Man nimmt sie dann zwar immer noch nicht ernst, kann aber freundlich über sie lachen. Barbara Bronnens Buch verärgert auch sonst im Faktischen und der Vorwurf trifft gleichermaßen den Verlag, dort hätte jemand darüber stolpern müssen. Die Bücher von Thomas Mann sind eben nicht am 10. Mai 1933 auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung gelandet, das lässt sich seit vielen Jahren vollkommen mühelos ermitteln. Im Jenaer Atheismusstreit von 1798/1999 hat Ludwig Tieck keine auch irgendwie nennenswerte Rolle gespielt, die viele hundert Seiten starke Dokumentation des Geschehens aus dem Hause Reclam hat Tiecks Namen ein einziges Mal in einem Brief von Schlegel an Fichte, mehr nicht. Auch das hätte man durchaus wissen können oder davon schweigen.

Der Hauptvorwurf gegen Barbara Bronnens Buch, den ich erhebe, betrifft aber das Werk Ricarda Huchs. Es führt an keiner Stelle vor, dass die Autorin sich als Streiterin gegen das Vergessen sieht. Sie nennt natürlich das eine oder andere Werk und ist allein dadurch nie ganz auf der falschen Seite, weil das Gros des Huch-Werks tatsächlich vorlag, bevor die Periode in ihrem Leben begann, mit der sich die Biographin befassen will. Eine vergleichsweise ausführliche Besprechung des Buches in der Süddeutschen Zeitung vom 11. März 2008 nennt zwei Interessen, die mit ihm geweckt werden, das erste ist das politische. Tatsächlich aber trägt Barbara Bronnen zum denkbaren Thema des Hinlebens unter zwei totalitären Regimes wenig Prägnantes bei. Sie nutzt das 2007 doch schon arg bemooste Wort von der Ambivalenz, es war in der DDR das importierte Modewort aller Debatten in der ersten Hälfte der 80er Jahre, um das Dasein Ricarda Huchs zu beschreiben. Und meint, es mit eigener Unentschiedenheit in den Aussagen hinreichend abbilden zu können. Nur fehlen ihr für das Huch-Leben in der sowjetischen Besatzungszone die dafür brauchbaren Fakten.

Wer es wichtig findet, Adolf Hitlers Glückwunsch-Telegramm zum 80. Geburtstag der greisen Dichterin zu erwähnen und den mit 30.000 Reichsmark dotierten Wilhelm-Raabe-Preis, das war eine enorme Masse Geld für eine unter keineswegs feudalen Verhältnissen lebenden Frau mit Tochter, Enkel und Faktotum weiblichen Geschlechts in einem dürftigen Haushalt, der sollte, wenn er schon das Wort „Sklavenland“ ohne jedes Bedenken ausschließlich auf die „Zone“ und keineswegs, obwohl es viel eher so gemeint ist, auf ganz Deutschland bezieht, belastbare Fakten auf den Tisch legen. Das Verbleiben in Jena gründet sich, das führt Barbara Bronnen eigentlich ja auch vor, ohne es mit forcierten Zweifeln in Frage zu stellen, auf das gleiche Fundament wie das Bleiben in Deutschland. Ihre Integrität ist, anders als bei anderen Vertretern der so genannten „inneren Emigration“ auch nie ernstlich in Frage gestellt worden. So war letztlich ihre „Flucht“ aus dem Osten über Berlin und Hannover nach Frankfurt am Main auch keine Flucht, das unterstreicht Barbara Bronnen klar. Die Enttäuschung von Johannes R. Becher bleibt trotzdem zutiefst nachvollziehbar.

„In bestimmten Fällen ist es der Öffentlichkeit zu verzeihen, dass sie die Künstlerin interessanter findet als ihre Kunst. Was Ricarda Huch gelebt hat, ist weniger abgetan als das, was sie geschrieben hat. Muß das schlechter sein als der umgekehrte Fall, der so viel häufigere?“ So endet Andreas Droschel in der genannten Besprechung. Leider führt Droschel zum Beleg lediglich die dreibändige  „Deutsche Geschichte“ an, die ja nun doch eher zur Historikerin Huch als zur Künstlerin gehört. Ich bin sehr froh, dass der Manesse Verlag Zürich in seiner wunderbaren Manesse Bibliothek der Weltgeschichte die drei Bände alles andere als abgetan ansah. Die Jahre, in denen die elfbändige Werkausgabe der Ricarda Huch in der alten Bundesrepublik erschien, waren auch nicht Jahre eines neuen Huch-Kultes, eher die Zeit des Revoluzzens auf K-Gruppen-Niveau. Der SPIEGEL, der als Wochenblatt vier Monate schneller war als die Tageszeitung aus München, beendete am 19. November 2007 übrigens seinen anonymen Einspalter zu Barbara Bronnens Buch mit dem Satz: „Die gründliche Vergessenheit einer Figur und Autorin wie Huch ist doch ein Kuriosum, auf das man nicht stolz sein kann.“ Dem wäre kaum etwas hinzuzufügen.

Schaut man sich an, was vor 25 Jahren zum 125. Geburtstag Huchs in der DDR geschrieben wurde, findet man natürlich auch den Unfug mit der Alterspräsidentin des Landtages, aber immerhin spielen die literarischen Werke der Grand Dame noch eine Rolle. Natürlich wird Thomas Mann zitiert mit seinem Gruß zum 60. Geburtstag, der, wenn man ihn komplett liest, fast eher Selma Lagerlöf herabsetzen als Ricarda Huch erhöhen soll. Die DDR hatte eine Reihe schöner Huch-Bände des Leipziger Inselverlags mit allerhand Informationen in den unvermeidlichen Nachworten. Sie hatte eine sehr anständige Gedichtauswahl mit einem Nachwort des leider wirklich extrem peinlichen Dichters Uwe Berger. Was sie nicht hatte, war die umfangreiche „Romantik“, die noch dieser Berger meinte, schlechtreden zu müssen. Sie hatte bei Reclam „Frühling in der Schweiz“. So schlecht war das nicht. Sogar FREIES WORT Suhl druckte am 18. Juli 1989 ein Zweispalterchen, in dem, wen überrascht es noch, auch die Landtagsfalschmeldung nicht fehlt. In der Reihe der Insel-Bücherei, die heute immer noch gesammelt wird in Ost und West, finden sich etliche Titel von Ricarda Huch, sechs allein in meiner bescheidenen Sammlung von fünfeinhalb Regalmetern, wie der Bibliothekar zu sagen pflegt.

Nun die Katze auch vollständig aus dem Sack: ein Buch von Barbara Bronnen hätte ich mir nie gekauft, selbst wenn es eines über ihren Vater Arnolt Bronnen gewesen wäre. Meine Affinität zu den expressionistischen Dramen des Vaters Bronnen endete in meinem ersten Berliner Jahr, ich las nacheinander „Vatermord“, „Die Exzesse“, „Katalaunische Schlacht“, „Die Geburt der Jugend“ und „Rheinische Rebellen“, natürlich auch seine „Tage mit Bertolt Brecht“ in der dialog-Reihe des Henschelverlages. Von „Anarchie in Sillian“ besitze ich die zweite Auflage von 1925, war selbst viel später in Sillian, freilich nur auf der Durchfahrt, ein Zwischenstopp ohne Ehrgeiz, verflogene Atmosphäre zu schnuppern. Nur der Name Ricarda Huch führte mich zu Barbara Bronnen und der nunmehrigen Erkenntnis, der sei es letzthin und letztendlich gar nicht wirklich um Ricarda Huch gegangen. Man muss sich den Kontext des Bronnen-Werkes anschauen und dann ihre Darstellung jener Jahre von 1933 bis 1947. Es geht Barbara Bronnen und das ist ihr nicht vorzuwerfen, immer um sich selbst. Das meint ihre wiederholte Auseinandersetzung mit dem Vater, dem tatsächlichen leiblichen Vater, das meint ihre Darstellung später Mutterschaft und dann von einer bestimmten Zeit an, das Alter mit allen Facetten inklusive Sex.

In Ricarda Huch erkannte sie, als sie selbst knapp vor den 70 stand, eine Frau, die 1933 genau diesen Punkt erreicht hatte. Das ganze schmale Buch widmet sich der Frage, wie die historische Persönlichkeit Ricarda Huch, die bis dahin schon ein exemplarisches Frauenleben gelebt hatte, im Alter mit neuen Situationen umging, die an die Substanz griffen, wie sie sich arrangierte, wie sie sich abkapselte, Freundschaften baute und immer Frau, Mutter blieb ohne den Ehrgeiz, hier Rollenrevolten zu exponieren. Barbara Bronnen hat sich selbst ein Lebenshilfebuch geschrieben. Der für mich schönste Zug ihres Buches ist der, dass sie sich selbst das letzte Wort verbietet, sondern es Alfred Döblin überlässt, der habe das Berührendste zum Tod am 17. November 1947 in seiner Zeitschritt „Das goldene Tor“ hinterlassen. „Sie war, wie es sich für Naturen ihrer Art gehört, viel zu stolz, um nicht mutig zu sein.“ Schön dass Alfred Döblin bis auf weiteres nicht Gefahr läuft, nur noch als Person interessant zu sein. Dem Vernehmen nach jedenfalls. Und, Frau Bronnen, der Satz „Es war ihr großer letzter Auftritt als Mutter der Deutschen, Königin der inneren Emigration.“, der Satz über Huchs Auftritt auf dem 1. Schriftstellerkongress 1947, diskreditiert alles, was besser an Ihrem Buch ist, und das war eigentlich gar nicht so wenig.


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