Jens Sparschuh: Adieu, mein König Salomo

Im gedruckten Leben sind wir uns begegnet, im wirklichen nie. Am 24. Dezember 1973 stand sein Gedicht „Begegnung in B.“ schräg über meinem „Ablösung“ in der „Jungen Welt“. Er firmierte als Philosophiestudent, der er in Leningrad auch tatsächlich war, ich als Journalistikstudent, der ich nicht mehr werden sollte. Auf Seite 160 der Anthologie mit Schülergedichten „Offene Fenster 5“ steht mein „Apoll“ unter seinem ohne Titel „die engelchen singen“, nach einer Radierung von Michael Emig, Titel „Briefe, abends“, folgt sein „Der alte Yogi“. Er umrahmte mich also gewissermaßen. Mit 15 formulierte er eine „vorahnung“: „schon // der zweite regen // nach meinem tod // wird meine asche // getrunken haben /// doch // in satten // großmündigen pfützen // werden leise schaukeln // die papierschiffchen // meiner enkel.“ Ich habe mit 15 noch nicht an meine Enkel gedacht, dafür dann aber wenigstens Philosophie studiert, wenn auch nur in Berlin und nicht an der Newa. Er wird vermutlich nie über mich schreiben, dafür ich heute über ihn.

„Adieu, mein König Salomo“ hieß sein zweites Hörspiel, dessen Ursendung am 5. Juni 1980 im Berliner Rundfunk zu hören war, 53 Minuten dauerte es. Wolf Kaiser war Voltaire, Jürgen Holtz Friedrich II., Lissy Tempelhof die Nichte Marie Louise Denis. Sparschuh hat mit beiden Händen in die tatsächliche Geschichte gegriffen, unter den üblichen Verdächtigen darf gelost werden, wer ermittelt, wo er sich Freiheiten erlaubte und wo er dokumentarisch blieb. 1980 glaubten noch ziemlich viele DDR-Menschen, dass mit dem Übergang von der extensiv zur intensiv erweiterten Reproduktion der Volkswirtschaft ein Weg gefunden sei, der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus neuen Schwung zu verleihen. Unter Philosophen waren Zweifel Tagesgeschäft, man kann in Akten über etliche von ihnen, die in Berlin ihrem Diplom entgegen strebten, bis in Diskussionsdetails erhellende Studien treiben. Was man in Leningrad so lernte, weiß ich nicht, was man im Umfeld der Universitätsstraße 3b unweit der S-Bahn Friedrichstraße kaum noch glauben konnte, dafür ziemlich genau.

Das Verhältnis von Macht und Geist war 1980 kein Thema, zu dem unerschrockener Pioniergeist endlich vordrang. Ein Thema unter der Dachmarke freilich brauchte fortgesetzt eine gewisse Unerschrockenheit: dass im Verhältnis von Geist und Macht durch den vermeintlichen Epochenübergang eben keine grundsätzlich neue Konstellation entstanden war, Geist hatte immer noch den zweiten Vornamen Ohnmacht und gar nicht einmal nur dann, wenn es ans Eingemachte ging. Der Blick in diverse Vergangenheiten, die Suche nach exemplarischen Fällen, an denen sich etwas zeigen ließ, was sich an der Gegenwart der Deutschen Demokratischen Republik leicht auch hätte zeigen lassen, nur wäre es halt der nicht vorhandenen Zensur zum Opfer gefallen, was den Fall immer besonders ärgerlich, besonders schmerzlich machte, dieser Blick hatte im Lauf der Jahre einen sehr harten Bohrkern bekommen, vertrackte Humore begleiteten ihn, allzu vordergründige Vordergründigkeiten mussten nicht mehr in sorgsame Erwägung gezogen werden. Sender und Empfänger hatten eine fest installierte gleiche Wellenlänge.

„Adieu, mein König Salomo“ nimmt die berühmte Freundschaft des französischen Multitalents Voltaire mit Friedrich II., Thronfolger und später König von Preußen, zum Stoff. Das Spiel konzentriert sich auf jene Zeit, da der Franzose am Hof zwischen Potsdam und Berlin lebte, es klammert den langen Vorlauf in Briefen weitestgehend aus, es klammert ebenso den Nachlauf aus, der nach Monaten des Schweigens 1753 bis zum Lebensende des Älteren der beiden, Voltaires, im Jahr 1778 reichte. „Bisher hatten die Dichter stets den Königen gehuldigt – nun schmeichelte ein König den Poeten.“ Das lesen wir in „Spiegel Geschichte“, Ausgabe 2/2011, auf Seite 53. Die Autorin heißt Annette Grossbongardt. Das lesen wir bei Jens Sparschuh: „Gewöhnlich sind wir Literaten es, die den Königen schmeicheln, aber dieser König hier pries mich, vom Scheitel bis zur Sohle … Mich: François-Marie Arouet, genannt Voltaire.“ Bei Sparschuh halt dreißig Jahre früher. Sparschuh hat die weniger löblichen Seiten des Aufklärers, der sich später am Genfer See niederließ, ausgespart. Weder zur prozessualen Fehde mit dem Juwelier Hirschl, den einst Hans-Joachim Hanisch sprach (was mochte ich den, egal was er spielte) noch überhaupt zu den niederen, den materiellen Gelüsten des großen Geistes.

Voltaire hatte einen mächtigen Hang zur Spekulation und sein Kommen an den preußischen Hof ließ er sich saftig honorieren, nur ganz große Chefdirigenten ganz großer Klangkörper pokern vermutlich heute noch höher um ihre Jahresgagen, ehe sie sich dann ganz und ausschließlich der reinen Kunst hingeben. Voltaire kassierte die Dotation eines preußischen Staatsministers. Man kann seinen Mut vor dem König auch als Dreistigkeit sehen. Dass er nie ganz außer Verdacht stand, ein gut platzierter Informant der Hofes in Paris zu sein, gehört auch zu den sehr offenen Geheimnissen seines Lebens. Friedrich ließ die Briefe seines Gastes, seines „Kronjuwels“, öffnen und bei Sparschuh bekennt sich Voltaire zur in seinen Briefen offenbarten Doppelzüngigkeit. Auf die Nachfrage seiner Nichte, welche Briefart nun die rechte sein, antwortet er im Hörspiel: „Beide, liebes Kind, beide sind ebenso wahr, wie sie falsch sind.“ Dergleichen nannte man in der DDR Dialektik und es wäre kein Zeichen von Unbelehrbarkeit, es immer noch so zu nennen.

Es steht zu vermuten, dass einer wie Voltaire die Schmeicheleien eines mächtigen Königs so sehr liebte, dass er dafür einen ansehnlichen Preis zu akzeptieren bereit war. Bei Jens Sparschuh akzeptiert es Voltaire, dem königlichen Flötenspiel zu lauschen, auch wenn ihm dabei das eine oder andere Haar zu Berge stand, er akzeptiert des weiteren die lektorierende Lektüre friderizianischer Oden und anderer Dichtungen, obwohl er überzeugt ist: „Dieses unglückliche Naturkind ist partout nicht von dem Wahnwitze zu heilen, sein schwerfälliges deutsches Gedankengut leichtsinnig der federleichten Barke unserer französischen Sprache aufzuladen.“ Obwohl die Überlieferung will, dass Friedrich im Französischen besser war als im Deutschen. Als bei seinem finalen Weggang 1753 Voltaire Dichtungen Friedrichs mit sich führt, ist dieser darüber so wenig begeistert, dass er seinen schwierigen Freund in Frankfurt am Main festsetzen lässt. Das Hörspiel endet mit der Abreise Voltaires von dort, seine Nichte ist an seiner Seite.

Dennoch hätte dieses Spiel allenfalls das Interesse von Romanisten oder Aufklärungsforschern finden dürfen, wäre ihm nicht, wie man heute so gern sagt, etwas eingeschrieben, was in der DDR heraushob aus dem, dem zwar auch etwas eingeschrieben war, aber eben nicht das. Sparschuh spricht Dinge an, die 1980 keine andere Öffentlichkeit gefunden hätten. Sein Friedrich sagt zu Voltaire: „… ich weiß sehr wohl, dass mein Land recht unbedeutend ist; doch wenn man irgendwo leidlich aufgehoben ist, soll man da bleiben. Ich habe natürlich kein Recht, Fremdlinge zurückzuhalten; das wäre Tyrannei...“. Heute muss man das schon wieder erklären, was vor 35 Jahren jeder des Lesens Kundige verstand: Hier ging es um Bleiben oder Gehen. Hier nannte ein König sein eigenes Land unbedeutend, band das Bleiben aber an das leidliche Aufgehobensein. Das war in der DDR in der Tat zu haben. Es posthum zu leugnen, haben nicht sehr viele das Recht. Und ein König nannte es Tyrannei, würde anders verfahren. Das wird vielleicht sogar heute noch ohne Fußnote verstanden. Unter Philosophen zu Berlin ging übrigens gern die Rede von der Negation der Negation. Der zufolge der Sozialismus eben nicht die Wiederkehr der klassenlosen Urgesellschaft auf höherer Ebene, sondern die Wiederkehr des Feudalismus sei, den der Kapitalismus negiert hatte.

Nicht ganz selbstverständlich war 1980 etwas, was heute schlicht überlesen wird, die sehr deutliche Anspielung auf die königliche Homosexualität. Der Hinweis auf Mächte, die Briefe öffnen, war 1980 durchaus zensurgefährdet und klingt heute peinlich aktuell. Mit Tücke, will ich meinen, hat der Philosoph Jens Sparschuh seinem Maupertius (gesprochen von Hans Knötzsch) einen Satz in den Mund gelegt, der in seinem Zynismus kurzatmig macht: „… auf dem Unglück einzelner baut sich das Wohl der Allgemeinheit auf, so dass also das Glück der Gesamtheit um so größer ist, je mehr privates Unglück es gibt.“ Maupertius (28. September 1698 bis 27. Juli 1759) war jener Mann, den Friedrich an die Spitze seiner Akademie geholt hatte, der, über den sich Voltaire in „Diatribe du Docteur Akakia“ fürchterlich lustig machte, im Hörspiel heißt es nur „Doktor Akakia“. Könige mögen es nie und nirgends, wenn ihre Favoriten von irgendwem in den Kakao getunkt werden. Der königliche Ärger führte dazu, dass am 24. Dezember 1752 Scheiterhaufen brannten, denen genau diese Voltaire-Schrift überantwortet wurde. Ein historisches Datum in der Geschichte der Bücherverbrennungen auf dem Weg zu ihrem Gipfel im Mai 1933, dann nicht nur in Berlin.

Humor spricht Jens Sparschuh seinem Friedrich nicht ab, er lässt ihn die Witzfrage stellen und selbst beantworten: „… weshalb hiero die meisten Seelen unsterblich sind? Na? … Weil sie nie gelebt haben.“ Sparschuhs Voltaire mutmaßt über den Zusammenhang von Kartoffelnahrung und deutschem Tiefsinn oder über den tiefen Sinn der Häufigkeit von Kiefern im preußischen Lande: an denen kann man sich schlecht aufhängen, weil die niedrigsten Äste so weit oben sind. Hahaha! 2005 hat ein schreibender Komiker namens Ulrich Simon anlässlich des fünfzigsten Geburtstages von Jens Sparschuh dessen Hang zu Kalauern bemäkelt, wobei die abschreckenden Beispiele, die er anführte, gar nicht abschreckend waren. Simon war vermutlich nur zu sehr mit dem Selbstbild des professionellen Lesers befasst oder hatte einfach im Sinne Voltaires zu viele Kartoffeln gegessen, um Sparschuhs Humor gegenüber aufgeschlossen sein zu können. Zum heutigen 60. Geburtstag Sparschuhs bliebe zu wünschen, dass die Enkel noch lange Zeit haben bis zu den Papierschiffchen.


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