Max Dauthendey: Glück
Nüchtern betrachtet, besteht keinerlei Gefahr. Und doch habe ich so etwas wie ein ungutes Gefühl. Zitiere ich diesen Franz Blei gleich eingangs, dann könnte es sein, dass ich mir selbst das Wasser abgrabe. Ich kann mir aber auch einreden, es sei gut, keine falschen Erwartungen zu wecken. Wie viel weniger Unglück wäre in der Welt, wenn weniger falsche Erwartungen an diese gerichtet würden? Fast unmerklich bin ich schon ganz nah dran an diesen vier Szenen eines Zwei-Personen-Stücks aus dem Jahr 1895, von dem ich nicht einmal weiß, ob es je aufgeführt wurde und wenn ja, mit welchem Erfolg. Also nun, ich zitiere Franz Blei: „Er hat etwa ein Dutzend Sachen geschrieben, von denen er auf dem Titel behauptet, es seien Dramen. Es sind Spielereien, alle, nicht nur das eine Stück, das so heißt.“ Man könnte absichernd einwenden, es mache sich hier die enge Sicht eines Mannes geltend, der meint, Dramen dürften keineswegs Spielereien sein, oder, alternativ: Spielereien sind auf gar keinen Fall Dramen, auch wenn sie so aussehen. Wie auch immer: von Franz Blei gibt es zwei teilweise stark übereinstimmende Porträts von Max Dauthendey, in seinem berühmten „Bestiarium literaricum“ aber taucht der Name gar nicht auf. Mit Absicht vergessen?
Eine mir sehr nahe stehende Person weiblichen Geschlechts hat einmal gesagt: „Die guten Sachen sind alle immer traurig.“ Es könnte angesichts eines Stücktitels also, der schlicht und ohne alles „Glück“ lautet, ein Vorverdacht entstehen, hier werde womöglich versucht, was auf geradem Wege im Fehlschlag enden muss. Las ich nicht einst, dass selbst der übergroße Leo Tolstoi mit seinem Romanchen „Eheglück“ scheiterte, weil eben Glück zwar schön, aber für die künstlerische, die literarische Darstellung ungeeignet, weil uninteressant ist. Literatur, zumal die für die Bühne, lebt vom Konflikt, Konfliktlosigkeit langweilte in den frühen fünfziger Jahres sogar die Parteigranden des real an seinem Scheitern arbeitenden Sozialismus, die Sowjetromane und ihre Epigonen waren mehrheitlich sterbenslangweilig, weshalb nach Konflikten gerufen wurde, die freilich auf keinen Fall Konflikte mit Partei und Staat sein durften. „Glück“ also riecht nach einer zu beobachtenden dramatischen Versuchsanordnung, das Unmögliche zu wagen. Als die kanariengelbe Reclam-Reihe aus Stuttgart vor Jahren „Einakter und kleine Dramen des Jugendstils“ publizierte, stellte Herausgeber Michael Winkler Max Dauthendeys „Glück“ an den Anfang, gleich nach dem Vorwort.
Im sechsten Band der „Gesammelten Werke“ (Albert Langen München 1925) ist „Glück“ das vierte der aufgenommenen Dramen, nach „Sun“, „Sehnsucht“ und „Das Kind“. Die von Blei erwähnten Spielereien, die so heißen, heißen „Die Spielereien einer Kaiserin“ (Drama in vier Akten, einem Vorspiel und einem Epilog). Und wurden sein erfolgreichstes Bühnenstück, Uraufführung am 15. Mai 1911 in München, danach im Spielplan auch in Berlin und Hamburg. Die Hauptrollen gaben Tilla Durieux und Albert Steinrück. 1929 folgte sogar eine Verfilmung, in der Lil Dagover die Rolle der Katharina spielte, Regie führte Wladimir Fjodorowitsch Strischewsky (1892 – 1977), der auch am Drehbuch mitwirkte. Da war Max Dauthendey schon mehr als zehn Jahre tot, er starb am 29. August 1918 in Malang auf Java. Wer seinen gestrigen 150. Geburtstag verpasste, kann also sehr bequem im kommenden Jahr am Tag nach Goethes Geburtstag den 100. Todestag des geborenen Würzburgers begehen. Nach einer späten Umbettung im Jahr 1930 in seine Geburtsstadt und einer abermaligen Umbettung nach dem mörderischen Bombardement der Stadt 1945 im März hat der Dichter nun seine letzte Ruhestätte auf dem Hauptfriedhof, Abteilung 1, Feld 2, Nummer 30.
Auf dem Würzburger Hauptfriedhof findet sich übrigens auch die letzte Ruhestätte der Malerin Gertraud Rostosky (7. Januar 1876 – 30. Mai 1959), mit der und deren Familie Dauthendey eng verbunden war. Es heißt, einmal sei er sogar geneigt gewesen, seine schwedische Gattin Annie zugunsten der Malerin zu verlassen, was er dann aber doch nicht tat. WIKIPEDIA erwähnt einen Heiratsantrag Dauthendeys aus dem Jahr 1894. „Glück“ aus dem Jahr danach hat mit großer Sicherheit auch eine autobiographische Seite, einmal wird im Stück sogar davon gesprochen, dass der Protagonist Arnold an einer Reisebeschreibung arbeitet, was Dauthendey im weitesten Sinne fast sein gesamtes Autorenleben über getan hat. Und Eva, die junge Frau, spielt Violine. Die vier Szenen sollen von den Darstellern auf keinen Fall forciert werden: „Es wird sehr langsam und in Pausen gesprochen.“ Fordert Dauthendey. Es wird tatsächlich auch wenig gesprochen, es kommt sehr stark auf Farben an, die die einzelnen Szenen dominieren in Bühnenbild und Kostümen, es gibt keinerlei Zuspitzungen, wohl aber in der zweiten Szene ein unerwartetes und zum Glück singulär bleibendes Kippen in den puren Sprachkitsch. Genau dies macht die Tücken des Versuchs deutlich.
Natürlich darf es sein, dass ein Mann „Darling“ zu seiner Liebsten sagt, in vollem und tiefem Ernst aber mag man es kaum hören, selbst wenn man sich mehr als hundert Jahre zurückdenkt. Man weiß, wie lächerlich auf fremde Menschen jedes Kosewort von Liebesleuten wirken würde, könnten alle mithören. Oder haben wir nicht alle schon gelacht, wenn ein kahlköpfiger dicker Mann mittleren Alters „Mausebärchen“ zu der Dame mit Kittelschürze sagt, die ihm seinen Rollbraten auf den Tisch stellt, den er so liebt und für den er sie so liebt, weil die Liebe und der Magen, jeder mag sich die dazu passenden Sätze selbst aufsagen. Das „Darling“ in der zweiten Szene von „Glück“, genau dreimal zu Eva gesagt, ist ein Fremdkörper im Dialog, basta. Aber, großes Aber, der Versuch, etwas auf die Bühne zu bringen, was auf den ersten bis dritten Blick nicht anders zu formen ist, zumal nicht von einem Mann, dem eine nicht unwichtige Fähigkeit abgeht. Ich zitiere abermals Franz Blei: „Da er so etwas wie überlegenden Verstand nicht nur nicht besaß, sondern auch gar nicht besitzen wollte, konnte er auch keinen Gebrauch davon machen.“ Dieser Satz geht dem über die Dramen, die keine sind, unmittelbar voraus, es ist ein Satz, der verstanden werden will, nicht missverstanden.
Das aristotelische Reden von zwei und mehr Einheiten ist für Max Dauthendey in diesen vier Szenen nicht einmal der Schnee von gestern. Jede Szene hat eine andere Zeit, der Ort wechselt auch, wobei die Zeit, die vergeht zwischen den Szenen, leider im Vagen gehalten wird. Die vierte Szene, gekoppelt mit der Farbe silbern, nach rot und orangegelb, könnte auf fortgeschrittenere Lebenserfahrung deuten, letztlich aber ist es dem Autor gleichgültig gewesen. Er will, wollte, keine 30 Jahre alt, Lebenserfahrung simulieren, reife Erfahrung durchspielen und ich bin mir nicht sicher, ob just das tatsächlich diesseits eines überlegenden Verstandes erfolgte. Dafür ist, was er seine beiden Helden schließlich sagen lässt, zu substantiell. Und etwas wie einen Konflikt baut er schließlich doch, wenngleich der im aktionsfreien Dialog natürlich verbal bleibt. Denn Eva steht an einem Punkt ihrer erwünschten Liebe zu Arnold, an dem sie meint, ihr Glück sei nicht mehr steigerbar. Näheres darüber erfahren wir nicht, aber wir lesen, dass auf ihrem Toilettentischchen eine Flasche mit Blausäure wenigstens darauf wartet, Fragen zu provozieren. Dauthendey arbeitet mit vorausdeutenden Szenenschlüssen, deren Konsequenzen er jedoch kaum zufällig durchbricht.
Ich habe die Gunst der Stunde genutzt, ein seit Ewigkeiten in einem immerhin noch gewussten Stapel nicht restlos überflüssiger Bücher nach dem „Zitatenlexikon“ zu greifen, mit dem Ursula Eichelberger (82) einst in tiefer DDR den „Büchmann“ des Ostens kompilierte, 150.000mal verkauft, wie ich der Eichelberger-Website entnehme. Das Stichwort „Glück“ hat dort reichlich sechs komplette Seiten, hinzu kommen noch in ähnlicher Ausrichtung „Glücklichsein“ und „Glückseligkeit“. Es gibt dort gleich mehrere Zitate, die in eine Beziehung zu Max Dauthendey zu bringen sind. Ich beginne mit Anton Tschechow: „Ich bin der Meinung, ein wirkliches Glück ohne Müßiggang ist unmöglich.“ Das entsprach zwar weder Kantschem Pflicht- noch sozialistischem Arbeitsethos, fundiert jedoch den Müßiggang in „Glück“, wo geredet wird, hie und da Violine gespielt, spazieren gegangen, Wein getrunken wird. Wein ist dabei schon problematisch: „Früher brauchten wir keinen Wein, um glücklich zu sein. Und keine Dunkelheit.“ Sagt Eva bereits in der zweiten Szene. „Glück ist das langweiligste Ding der Welt.“ Meinte George Bernard Shaw. „Ein langes Glück verliert schon bloß durch seine Dauer.“ Schrieb Georg Christoph Lichtenberg.
Max Dauthendey stellt sein Paar vor eine seltsame Konsequenz: „... es liegt immer ein Grauen darin, wenn man sich eingesteht, man ist am höchsten Ende des Glücks angelangt.“ Sagt Arnold und wenig später: „Ich dachte nur, es wäre das Beste, wenn Menschen, die sich lieben, es verstünden, sich zur rechten Zeit zu trennen. Dann blieben sie immer glücklich.“ Das ist vielleicht eine genau solche Stelle, auf die Franz Blei zielte, als er vom überlegenden Denken schrieb. Denn was für ein Glück sollte, um Gottes willen, das sein? Jeder für sich, ohne den anderen? Vielleicht könnte man sich solches Sologlück vorstellen, das Bild wird immerhin erheblich gestört von einer auch bei Blei festgehaltenen Anekdote, derzufolge Gattin Annie für Max eine Verhandlung führte und gefragt wurde, wieso das nicht der Mann täte. Die Antwort ist für alle Zeiten herrlich: „Dauthendey ist kein Mann. Er ist ein Dichter!“ Von dieser Annie heißt es auch, sie sei bei sich bietender Gelegenheit im Rinnstein gelaufen, um den Größenunterschied zu Max geringer wirken zu lassen. Der angeblich zwei Köpfe betrug. Gerhart Hauptmann behauptete: „Es bleibt ein Wesenszug des Glücks, dass es immer noch höheres Glück erstrebt, dem Unglück darin sogar überlegen.“
Dauthendeys Eva fürchtet sich vor der Zukunft, weil sie meint, ihr Glück könne nicht mehr größer werden als es ist. Unter allen denkbaren Gründen für Zukunftsangst ist das vielleicht einer, der mit dem wirklichen Leben am wenigsten zu tun hat. Dennoch kann man ihn auf die Bühne zu bringen versuchen. Die deutsch-europäische Profan-Variante davon wird heute gern „Jammern auf höchstem Niveau“ genannt. In der dritten Szene wohnt das Paar in der Stadt, es hat keine Kinder und hegt auch darüber seltsame Gedanken: „Ja, es wäre gut, aber es wäre doch nicht dasselbe Glück, das war wie eine Riesenblüte; wir glaubten, wir könnten es unerschöpflich jung erhalten.“ Damals hielt man Kinderhaben immerhin noch für ein anderes Glück, heute gehen Paare allen Ernstes sämtliche Gerichtsinstanzen durch in dem wirklich lächerlichen Meinen, man habe eine Leistung für den Staat erbracht, die jener zu honorieren habe. Da verzeiht man Jugendstil-Paaren glatt die albernsten Denk-Kapriolen. „Das Glück kann nicht wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, es muss empfunden werden, wenn es dasein soll.“ Schrieb Heinrich von Kleist am 12. November 1799 an Ulrike, seine geliebte Halbschwester. Passend für Arnold und Eva.
Die nun immerhin schon ahnen, was Arnold so ausdrückt: „Wir haben beide keine Schuld an dieser Qual. Es ist Notwendigkeit, dass jedes Glück vergehen muss“. Die vierte Szene hat beide wieder in ihr ursprüngliches Haus geführt und jetzt formuliert ein knapper Dialog sogar etwas wie Weisheit. Erst Arnold: „Wir haben zu viel vom Glück verlangt. Es sollte immer lauter und lebhafter werden.“ Eva danach: „Ja, wir haben zu viel verlangt, das macht bang und unglücklich.“ Und noch einmal Arnold: „Nein, wir konnten nicht verstehen, dass das Glück mit der Zeit leise und friedlich wird. Jetzt verstehen wir es.“ Und Eva spricht, als kurz danach der Vorhang fällt, was bei Lyrikern als eines von sechs Gedichten gelten könnte, die angeblich ein Lebenswerk lohnen: „Ja, es ist alles milde und silbern geworden. Kein rotes, aber ein mildes, silbernes Glück, wie die Sterne.“ Das silberne Glück wird sicher keine Aufnahme ins Wörterbuch des Hedonismus finden, aber es ist eine schöne Findung. Dieser seltsame Mann Max Dauthendey, den Ruhelosigkeit trieb wie Heimatsehnsucht, wo immer er war, der weinen konnte, wenn man ihm widersprach und nicht etwa den Spieß einfach umdrehte, liegt bei den Akten an der falschen Stelle. Er war ein fränkisches Sonnenscheinchen.