Hermann Hesse: Franz von Assisi

Über Hermann Hesses berühmte Erzählung „Die Morgenlandfahrt“, zuerst 1932 erschienen, schrieb Sikander Singh 2006: „Die Figur Leos, die als ein literarischer Reflex der Auseinandersetzung des Schriftstellers mit dem Leben des Franz von Assisi und dem christlichen Konzept der dienenden Entsagung gelesen werden kann, das sich in Hesses 1904 veröffentlichten Biographie des heiligen Franz ebenso spiegelt wie in dem Roman „Peter Camenzind“, ist ein wichtiger Beitrag zum dichterischen Selbstverständnis des späten Hesse.“ Und über die zehn Jahre früher, 1922, zuerst als Buch veröffentlichte indische Dichtung „Siddhartha“: „Bereits in der kleinen, 1904 veröffentlichten Franz-von-Assisi-Biographie hat Hesse sich mit der Darstellung transzendenten Heilswirkens und der menschlichen Heilsaneignung befasst.“ Wer das so liest, wird schwerlich alles stehen und liegen lassen, um eilig dieser Biographie habhaftig zu werden, geschweige denn, sie zu lesen. Dabei kann man selbst heute noch, am 55. Todestag Hesses, antiquarisch sogar Ausgaben aus den Jahren 1904 und 1905 bekommen, der „Franz von Assisi“ ist damals in drei Bindequoten zu je 1000 Exemplaren gedruckt worden, die Preise liegen in der ziemlich krassen Spanne zwischen 20 und 145 Euro.

Was damit zu tun hat, dass einige Antiquare noch immer glauben, die Nachfrage nach Erstausgaben sei wie in den guten alten, welche waren das eigentlich? Zeiten. Dass auch Ausgaben aus dem Jahr 1938 vertrieben werden, widerlegt nebenbei die Behauptung, der „Franz von Assisi“ sei seit 1904 erst 1983 wieder gedruckt worden in der von Volker Michels veranstalteten Suhrkamp-Sammlung „Italien“. Wie groß die 1938 vertriebene Menge war, weiß ich nicht. Wer aber nicht nur den Text der Biographie zur Hand haben will, sondern zugleich Umfeld-Material von Hesse selbst und einen Essay dazu, der sollte sich um die hübsche Ausgabe bemühen, die wiederum Volker Michels für die Reihe „Insel Taschenbuch“ veranstaltet hat. Leider ist der beigegebene Essay von Fritz Wagner (14. Juli 1934 – 27. März 2011) und nicht von Michels selbst. Der wäre kaum auf die Idee gekommen, dem an sich schon wenig umfangreichen Hesse-Text einen disproportionalen Versuch beizuordnen, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er mit langen Zitaten wiederholt, was der Leser eben erst las. Echtes Bonus-Material zum Hesse-Text, das Wagner bietet, ist bescheiden, mit unnötigen Fremdwörtern gespickt und bleibt außerdem an wichtigen Stellen Auskünfte dennoch schuldig.

Das wirkt auf den unvoreingenommenen Leser doppelt ärgerlich, weil Fritz Wagner, der den Essay ursprünglich für die Vierteljahresschrift „Franziskanische Studien“ verfasst hatte, die mit einer sechsjährigen Unterbrechung zwischen 1914 und 1993 kontinuierlich erschien (dort wurde sie 1986 gedruckt), die Fassung für das Insel-Taschenbuch noch einmal revidierte. Spätestens da hätte Volker Michels dem Philologen sagen müssen, dass die überlangen und vielen Zitate keinesfalls stehen bleiben dürfen. Denn allzu krass fallen die schöne einfache, keinerlei Erklärungen benötigende Sprache des jungen Hermann Hesse und die bieder-uninspirierten Kommentare des vielfach geehrten Professors auseinander. Und statt gleich eingangs die anderen Texte konkret zu benennen, in denen Rainer Maria Rilke, Carl Zuckmayer, Felix Timmermanns, Gilbert Keith Chesterton oder Reinhold Schneider ebenfalls Umgang mit Franz von Assisi pflegten, ruft er wieder Vokabular wie „Allegorese“ auf, was gerade auf Zuckmayer bezogen arg seltsam wirkt. Den Schweizer Heinrich Federer dagegen scheint Wagner gar nicht zu kennen, elf Jahre älter als Hesse, und beispielsweise Autor von „Das letzte Stündlein des Papstes“, in dem Franz von Assisi, der „Poverello“, eine wichtige Rolle spielt. Da hätte der Redakteur Michels streng auf Nützlichkeit pochen müssen.

Dass Hesse selbst seine kleine Biographie viel später als eine „leichtfertige Arbeit, in jugendlichem Enthusiasmus mit Ahnungslosigkeit und Frechheit geschrieben, in die ich mich nicht mehr zurückzudenken vermag“ beurteilte, spricht weniger gegen das Jugendwerk, als es den Anschein erweckt. Vielleicht ist sogar eine so krasse Sicht auf das eigene Frühwerk noch eine Art von „Dank an Goethe“ (so ein Hesse-Titel aus dem Jahr 1932, für ein anderes, sehr empfehlenswertes Insel-Taschenbuch übernommen, eben „Dank an Goethe“, it 2250), denn auch der ging brachial mit seinen frühen Sachen um und sogar noch den Schritt weiter, alles, was seine späte Sicht auf sich selbst stören könnte, den Flammen, der Vernichtung zu übergeben. Wenn Fritz Wagner in diesem „Franz von Assisi“ Hagiographie erkennt, irrt er sich durchaus nicht, nur wertet er es falsch, so jedenfalls mag ich es sehen. Denn Hagiographie im Sinne ursprünglicher Viten von Heiligen auf einen neuen Text zu beziehen, der genau das und nicht mehr sein will, wäre Tautologie. Es im Sinn einer in der Kirchengeschichtsschreibung lange überwundenen unkritischen Lebensverherrlichung zu deuten, behauptete Zusammenhänge, die nicht bestehen, Hesse war eben kein Historiker.

Er war ein Dichter. Und was viel wichtiger ist: er sah in Franz von Assisi einen Dichter, auch wenn der oder sogar gerade weil der kein Werk hinterlassen hat, wenn man von dem berühmten späten „Sonnengesang“ absieht. Hier erst wird es überhaupt interessant. Wir sind an einer Stelle gelandet, wo sich eine weitere Frage an Fritz Wagner zwingend ergäbe. Gleich mehrfach verweist der auf die alles andere als geheime Tatsache, dass Hesse sich für seine Biographie auf Quellen stützte: auf Henry Thode und Paul Sabatier. Der Witz bei Wagner ist der, dass er Thode zwar zuerst nennt, dann aber vergisst, während er auf Sabatier immer wieder zurückkommt. Henry Thode (13. Januar 1857 – 19. November 1920) war Kunsthistoriker, dessen Buch „Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien“ 1904 bereits in 2. Auflage vorlag, Paul Sabatier (3. August 1858 – 4. März 1928) war Theologe und Historiker, dessen Biographie „Leben des heiligen Franz von Assisi“ zwar 1894 von der römischen Kurie auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt wurde, im laizistischen Frankreich aber nicht weniger als 42 Auflagen erlebte und weltweit übersetzt wurde, darunter ins Deutsche. Fritz Wagner verschweigt das besondere Leben des Sabatier-Buches einfach.

Hermann Hesse hätte die schmale Biographie „Franz von Assisi“ vermutlich nicht geschrieben, wenn es auch einen Brief von ihm gibt, der solche Pläne bereits zu einer Zeit vermuten lässt, die recht weit vor 1904 lag. Aber der Erfolg seines vierten Buches „Peter Camenzind“, indem eben der heilige Franziskus eine Hauptrolle in der inneren Biografie des Titelhelden spielt, brachte den Verlag Schuster & Loeffler Berlin und Leipzig auf die Idee, den Autor Hesse zu fragen, ober er nicht für die Verlagsreihe „Die Dichtung“ über Franz und über Boccaccio schreiben wolle. Das tat Hesse und der „Boccaccio“ erschien als Band VII im April 1904, der „Assisi“ als Band XIII im Herbst 1904. Hesse schrieb beides sehr rasch und war dabei keineswegs nur auf die genannten Bücher von Thode und Sabatier angewiesen. Eigene Italien-Erfahrungen seiner ersten beiden Reisen in den Süden hatten ihn eben auch auf die Spur Franz von Assisis gebracht. Er kannte die Fresken Giottos, die das Insel-Taschenbuch it 1069 dankbarerweise und in guter Qualität als Illustrationen benutzt. Als Hesse sie zuerst sah, war das 1832 bei einem Erdbeben teilweise eingestürzte Gewölbe der Kirche schon seit Jahrzehnten wiederhergestellt, es hatte 6 Jahre gedauert.

Der Berliner TAGESSPIEGEL meldete am 27. Dezember 1999 die Wiedererstehung von Fresken und Gewölben in der Oberkirche in Assisi als Triumph der Denkmalpflege. Die Katastrophe hatte sich am 26. September 1997 ereignet. Ein Erdbeben vom 26. Oktober 2016 erschütterte die Region erneut, verschonte aber die heiligen Stätten in Assisi. Wir können sicher sein, dass für Hesse solche Nachrichten tiefste Erschütterungen bedeutet hätten, denn man darf die eingangs zitierten Worte von Sikander Singh eben auch so deuten, dass Franz von Assisi Hesse ein Leben lang begleitete, nicht nur das Spätwerk, nicht nur das Frühwerk. Und das auf jene spezielle Weise, die ein pietistisch erzogener Schwabe einem katholischen Heiligen und Ordensgründer nur entgegen bringen konnte. Am 12. Dezember kommenden Jahres jährt sich übrigens der Tag zum 200. Male, da 1818 nach Wiederauffindung des Sarges der Leichnams Franzens sich nach Luftkontakt weitgehend in Staub auflöste. In Clemens Jöckles „Lexikon der Heiligen“ lesen wir: „Das franziskanische Apostolat lebt vom eigenen Vorbild, nicht vom Druck auf andere.“ Möge sich jeder selbst überlegen, wie viele „Vorbilder“ heute penetrantesten Druck ausüben, durch Medienmacht und Selbstüberhebung.

Hesse ist mit seiner kurzen Biografie fast am Schluss, als schreibt: „Wenn einer mich fragen wollte. Wie magst du jenen Franz einen gewaltigen Dichter nennen, da er uns doch nichts hinterlassen hat als jene laudes creaturarum? Dem würde ich antworten: er hat uns die unsterblichen Bilder des Giotto und alle die schönen Legenden und die Lieder Jacopone und alle der anderen und tausend köstliche Werke geschenkt, welche alle ohne ihn und ohne die geheime Liebesmacht seiner Seele niemals entstanden wären.“ Man sein, dass einer solchen Bestimmung, was ein Dichter sei, nicht jeder folgen kann. Wer aber alle Stellen der Biografie zusammen nimmt, in denen Franz ein Dichter genannt wird, der findet, was niemanden überraschen kann: der junge Hermann Hesse spricht auch pro domo, nicht sich selbst überhebend, wohl aber sich selbst eine Lebensbahn vorschreibend. „Es gibt in der Geschichte der neueren Kunst vielleicht keine Menschengestalt, von welcher so viele große Meister geträumt und jeder nach der Art seines Traums ein verklärtes Bildnis geschaffen haben wie von Franziskus.“ Auch damit meint Hesse sich selbst: „Vor allem haben ihn die Künstler hoch gefeiert, für welche er ein Erlöser und Erwecker geworden ist.“ Ist das etwas illegitim?

In der Biografie tritt Hesse hinter seinen Gegenstand zurück bis zur Verleugnung eigener Sprache. Die fünf Legenden im Anhang erzählt er in Legenden-Sprache. Die 1919 zuerst veröffentlichte Geschichte „Das Blumenspiel: aus der Kindheit des heiligen Franz von Assisi“ ist auch eine Legende, nur keine, die Hesse der Überlieferung entnahm wie die anderen, sondern eine eigene Erfindung. Nicht zuletzt deshalb hat Volker Michels sie den „Legenden“ zugeordnet, die er in einem Buch dieses knappen Titel zusammenfügte (als suhrkamp taschenbuch 909 leicht zugänglich). Es ist, mit Verlaub, eine herrliche Geschichte, der man nebenbei auch schöne Sätze über die Mutter des kleinen „Cesco“ entnehmen kann, die jeder nicht allzu strenge Biograf auch als Sätze über Hesses eigene Mutter wird lesen können. Wer Hesses Jugendgeschichte kennt, weiß, dass solche Mutter-Sätze Abbitten sind, Söhne haben ihren Müttern immer Abbitte zu tun, weil sie, ob sie es wollten oder nicht, ihnen Schmerz zufügten. Der Mutter legt Hesse den Namen in den Mund als seine Schöpferin, den später alle in den Mund nehmen: Poverello. 1905 besprach Hesse die berühmten „Fioretti di San Franzesco“ gleich mehrfach, neu ins Deutsche übertragen von Otto von Taube.

Von Taube (21. Juni 1879 – 30. Juni 1973) legte in Hesse Lesart die erste genießbare Übertragung vor: „Die Fioretti, trotz ihres frommen Inhalts ein Vorläufer der italienischen Novellenliteratur, sind das schönste und unvergänglichste Denkmal, das je ein großer Mensch in der Literatur seines Volkes gefunden hat.“ Just deshalb, siehe oben, meinte eben Hesse, Franz einen Dichter nennen zu müssen. Otto von Taube, es sei nicht verschwiegen, bekannte sich 1923 zum Nationalsozialismus, sagte sich aber schon nach dem Putsch in München wieder von der Bewegung los. Die Besprechung ist ebenfalls ins Insel-Taschenbuch aufgenommen und bietet wegen ihrer komprimierten Biografie gute Möglichkeiten des Vergleichs. „Diese beiden Grundzüge – das leidenschaftliche Streben zur Höhe und dabei die fröhliche Harmlosigkeit und Herzlichkeit des Kindes – erklären sein ganzes Wesen und Leben.“ Manch früher Brief Hesses ohne jeden äußeren Zusammenhang mit Franz von Assisi macht sichtbar, dass er sich selbst so sah und als der Erfolg von „Peter Camenzind“ ihm nicht nur die Ehe mit Maria Bernoulli, sondern auch das eigene Haus in Gaienhofen am Bodensee ermöglichte, musste er sich bisweilen fast selbst ermahnen, das nicht zu vergessen.

Wie schwer es ist, etwa dem Roman „Peter Camenzind“ deutend näher zu kommen, ohne Hesses Bezug zu Franz von Assisi substantiell einzubeziehen, demonstrierte eine der beiden DDR-Hesse-Biografien schlagend. Fritz Böttger (31. Januar 1909 – 18. Juni 1994) quälte sich nach Kräften mit vorgeblichen „Naturhymnen in Prosa“, schob noch eine Gemüsehändlerin aus Assisi dazwischen, eher er endlich dem Unvermeidlichen ins Auge blicken konnte: Franz von Assisi selbst und seiner Bedeutung für Hesse und das Buch. Es ist natürlich Zufall, dass ausgerechnet die Seite der Böttger-Biografie, die das entwickelt, im Register vergessen wurde. „Der am wenigsten theologische Heilige der katholischen Kirche ist bei Hesse weitgehend säkularisiert; er wird als Gegenbild zum kapitalistischen Bourgeois und Spießbürger begriffen.“ Eike Middell machte es sich etwas leichter, weiß, wie Böttger auch, von Paul Sabatier und schreibt: „Im Zeichen des Franz von Assisi vollzieht sich diese Entwicklung Camenzinds, und sie reproduziert und reflektiert den nachhaltigen Eindruck, den der heilige Franziskus auf Hesse gemacht hatte, übrigens nicht auf Hesse allein.“ Middell nennt immerhin Rilkes „Stundenbuch“. Den Franz von Assisi im Gesamtwerk klammert er aus.


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