Weihnachten mit Fontane

Das ist zwar nur der Untertitel des Büchleins, von dem hier die Rede sein soll, der ist jedoch entscheidend. Man muss nicht Marketing-Chef eines renommierten Verlagshauses sein, um zu wissen, dass im großen Fontane-Jahr 2019 „Weihnachten mit Fontane“ bessere Verkaufsaussichten hat als etwa „Fontane als Historiker des deutsch-dänischen Krieges von 1864“. „Weihnachten mit Fontane“ hat folgerichtig auch „Weihnachten bei Fontanes“ zu ertragen, mit Blick auf umsatzstarke Wochen im deutschen hohen Norden konzipiert, in Husum. Dort lautet der Untertitel „Weihnachts- und Wintergeschichten“. Husum, wo Fontane auf dem Heimweg von seiner zweiten Dänemark-Reise am 28. September 1864 Theodor Strom besuchte, hat keineswegs nur an den Haaren herbeigezogene Gründe für ein solches „Husum Taschenbuch“. Und wird dennoch im Rennen um Lesergunst wohl nur zweiter Sieger werden können, denn der Wettbewerber ist der Insel-Verlag, das Büchlein, obwohl kleineren Formates, ist der traditionsreichen Insel-Bücherei zugeordnet als Nummer 2524, was man freilich erst innen erkennt, Alt-Sammler wie mich eher irritierend.

Der poetische Haupttitel über dem Untertitel lautet „Das Herz bleibt ein Kind“. Entnommen ist er dem IV. Band der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, Titel „Spreeland“. Dort heißt es im Kapitel „Die wendische Spree“ gleich auf der ersten Seite des ersten Abschnitts im Anschluss an ein vorbereitendes Briefzitat: „Diese Zeilen versetzten mich in eine Aufregung, als ob es sich um ein Vordringen bis zu den See- und Quellgebieten des Nils gehandelt hätte. Und so wird es immer sein. Die Erfüllung eines Lieblingswunsches, sei der Wunsch selber, wie er wolle, berührt uns wie Weihnachtsfreude. Das Herz bleibt ein Kind.“ Mit sicherem Griff hat der Herausgeber davon nicht nur den Titel, sondern auch das Motto genommen. Sicher nicht zuletzt deshalb, weil Fontane selbst diese Tour mit dem Boot von Köpenick bis Teupitz am 7. Juli 1874 noch nachträglich in eine Relation zu seiner ersten Italienreise brachte. An Hermann Kletke („Vossische Zeitung“), schrieb er am 22. Oktober 1874: „Man muss diese Sachen kennen, aber man muss es aufgeben, sich darüber vor versammeltem Volk vernehmen lassen zu wollen. Nach dieser Seite hin war eine kleine Fahrt, die ich vier Wochen vor meiner Reise von Köpenick nach Teupitz spreeaufwärts machte, unendlich ergiebiger als Venedig, Florenz und Rom zusammengenommen.“ Das klingt sehr überraschend.

Herausgeber ist Matthias Reiner, Jahrgang 1961, bei Suhrkamp Leiter der Bildredaktion und auch der Werbeabteilung. Der wohl weiß, dass ein Zitat wie das eben immer dann herangezogen wird, wenn begründet werden soll, warum Fontane nie ein Italien-Buch zusammenstellte aus eigenem Fundus. Das war nämlich keineswegs, um Gotthard Erler, dem viel späteren ersten Fontane-Preisträger, eine hübsche Aufgabe als Herausgeber zu überlassen („Eine Sehnsucht im Herzen. Impressionen aus Italien“, Aufbau-Taschenbuch 5289), sondern aus genau diesem Grund: er wollte „hundertfältig Gesagtes“ nicht noch einmal sagen. Hielte sich die Fontane-Philologie wie jede andere gleich geartete an solche Maxime, es gebe weniger überflüssige Bücher. Hier aber ist aus Freude am hübschen Buch und in der Hoffnung, im Jubiläums-Jahr vielleicht wenigstens in einer Sammelrezension zu Fontane-Neuerscheinung Erwähnung zu finden, etwas entstanden, was man nicht nur in die Hand nehmen kann. Man kann es mit Gewinn lesen, wobei der Gewinn sich sehr viel weniger an Titel und Untertitel bindet als an den Charakter der versammelten Texte.

Matthias Reiner stellte für knapp hundert kleinformatige, gut und schnell lesbare Seiten Auszüge zusammen. Sie entstammen Fontanes Roman-Erstling „Vor dem Sturm“, der frühen Erzählung „Grete Minde“, den späten Romanen „Unwiederbringlich“ und „Die Poggenpuhls“, dem Über-Klassiker „Effi Briest“ und dem Nachlass-Roman „Mathilde Möhring“. Hinzu treten ein Auszug aus der ersten Autobiographie „Meine Kinderjahre“ und einer aus dem schon genannten vierten Wanderungs-Band „Spreeland“. Eingerahmt alles von Versen aus dem Gedicht „Zum 24. Dezember 1890). Illustriert alles von Selda Marlin Soganci. Die Homepage der Illustratorin verzeichnet dieses Buch noch gar nicht, das letzte dort aufgeführte stammt von 2016, sie selbst ist Jahrgang 1973 und in Münster ansässig. Würde ich sagen, dass die Illustrationen eher in ein Kinderbuch passen, führte das womöglich in die Irre, denn sie sind sehr hübsch, sehr märchenhaft, sehr weihnachtlich, lassen wir also das schubladige Sortieren und blättern die Seiten, wie es dem Buch gebührt: lesend und anschauend. Und mit dem schon genannten Gewinn: jeder einzelne Auszug weckt Neugier auf das Ganze. Man will einfach wissen, um wen es da geht, von wem erzählt wird: Namen, Orte, Zeiten.

Den Gewinn davon kann, noch vor den verwendeten Romanen und Erzählungen, beispielsweise Christian Grawes „Führer durch Fontanes Romane“ ziehen, der es erlaubt, nach einzelnen Personen und Orten zu suchen, was für Eilige vorteilhafter ist als die Lektüre in diesem oder jenem Roman-Führer, der womöglich noch vornehm bis arrogant auf dieses oder jenes „Neben“-Werk verzichtet. Es ist ratsam, für dieses Insel-Büchlein gar nicht erst lange nach gemeinsamen Nennern, thematischen Schnittmengen, Einflüssen, Parallelstellen zu gieren, das übliche Besteck also beiseite zu lassen. Der gemeinsame Nenner heißt sehr schlicht Fontane, die sehr äußerliche Klammer ist eben Weihnachten. Mehr nicht. Mal ist es einfach nur die Zeit, zu der das Erzählte geschieht, mal nicht einmal das wie beispielsweise im Auszug „Weihnachtswanderung“, zu dem ich mich eben erst separat ausgelassen habe (Theodor Fontane: Malchow. Eine Weihnachtswanderung). Fontanes ganz persönlicher Bezug zu Weihnachten, zu Heiligabend ist am ehesten noch in dem Auszug aus „Meine Kinderjahre“ zu finden. Fontane erzählt dort rückblickend von den beinahe rituellen, jedenfalls wie unverrückbar traditionellen vorweihnachtlichen Abläufen im Haushalt seiner Eltern in Swinemünde.

Das Fest selbst kommt nicht mehr vor. Anders in „Grete Minde“. Dort ist das Erleben der jungen Heldin geschildert, die von ihrer Schwägerin Trud ein Gesangbuch geschenkt bekommt, von dem sie schon Exemplare besitzt. Der Auszug aus „Mathilde Möhring“ führt vor, wie Thilde, die Titel-Heldin, sich ihren Wunschmann Hugo Großmann erobert hat, die Verlobung soll offiziell am Heiligabend sein. Im Auszug aus „Unwiederbringlich“ erscheint Holk bei seiner Gattin Christine am 23. Dezember, um die Trennung von ihr zu besprechen. „Heiligabend“, der Auszug aus „Vor dem Sturm“, erzählt vom Heiligabend 1812, ein Schlitten kommt vom Gasthof „Zum grünen Baum“ und hält gegenüber. Der Kutscher des Schlittens, Krist, ist der Kutscher des alten Vitzewitz und holt nun den jungen Vitzewitz ab nach Hause. Unterwegs liefert ein Gasthof quasi das lebende Bild einer heiligen Familie, am Ziel freut sich ein riesiger Neufundländer über den Ankömmling. Das ist Idylle, Fontaneschem Schaffen alles andere als fremd, Cordula Kahrmann veröffentlichte vor inzwischen fast vierzig Jahren ihr Buch „Idyll im Roman: Theodor Fontane“ (München 1973).

Der Auszug aus „Effi Briest“ ist überschrieben „Ich werde vielleicht noch tanzen“, er stammt aus dem zwölften Kapitel. (Solch allgemeine Angaben hätte dem Quellenverzeichnis hinten gut getan, denn es gibt von allem Romanen diverse Ausgaben und nur wenige Leser können auf die Bände der beiden großen Werkausgaben zurückgreifen, die zum Teil noch nicht einmal vollständig ediert sind, ein Kapitel in einem Roman zu finden ist dagegen leicht zu bewerkstelligen) Für Effi ist Weihnachten nicht zuerst Freude, sondern Ablenkung: „Es galt nachsinnen, fragen, anschaffen, und das alles ließ trübe Gedanken nicht aufkommen.“ Das Insel-Buch 2524 führt also, wenn man schon auf solch ein Fazit aus ist, Facetten dessen vor, was Weihnachten sein kann für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen, wobei keinerlei Art von gar kulturhistorischer Vollständigkeit angestrebt sein kann, die gibt es zum Thema bei Theodor Fontane nicht. Da fiele es leichter, die Erwähnungen des Klassikers Walter Scott übers Werk hin zu verfolgen, Weihnachten ist hier wie sonst bestenfalls die äußerlich allgemeine Klammer für Separates. Interessant aber allemal.

Der Auszug aus „Meine Kinderjahre“, in dem das Schlachten von Gänsen, von Schweinen, das Zerlegen eines aufgehängten Hirsches eine Rolle spielen, die Backstube mit der Backwoche, Suppe aus Gänseblut, endet mit einem Satz, dem im zitierten Kapitels noch weitere folgen. Er lautet: „Mir war denn auch, um Weihnachten herum, immer sehr weinerlich zumute.“ Das ist nun eine wirklich autobiographische Aussage. Wer nachlesen und vergleichen mag: es handelt sich um das neunte Kapitel des „autobiographischen Romans“. Bleibt der Auszug aus „Die Poggenpuhls“, betitelt „Weinachten war es nichts“, entnommen dem zweiten Kapitel. Hier bekommt die Mutter den Brief des Sohnes vorgelesen, der zu Weihnachten nicht zu Besuch kam, nun aber zu ihrem Geburtstag doch kommen möchte: „Denn gerade in der Weihnachtszeit wurde immer geschlachtet, und ich konnte das Gequietsche der armen Biester mitunter gar nicht mehr mit anhören“ heißt es in diesem Brief und es klingt, als spräche der Schreiber Leo von Fontanes eigenen Kindheitserinnerungen. Er rechtfertigt sein Ausbleiben auch mit dem Satz: „Also Heiligabend war es nichts. Indessen das Jahr hat auch noch andre große Tage.“ Eben Mutter Albertine von Poggenpuhls Geburtstag am 4. Januar.

Ganz anders als der späte Fontane sieht der junge von Poggenpuhl die Zukunft: „Auch der Adel kommt wieder auf, und ganz zuoberst der arme Adel, das heißt also die Poggenpuhls. Denn dass wir diesen in einer Art Vollendung, oder sag ich Reinkultur, darstellen, darüber kann kein Zweifel sein.“ Wieder ein Fingerzeig in Kerngebiete von Fontanes Denken und Empfinden, das Wecken von Neugier auf ein schmales, rasch lesbares Buch. Das Gedicht „Zum 24. Dezember 1890“ enthält, kaum überraschend, Altersmelancholie: „Noch einmal ein Weihnachtsfest, / Immer kleiner wird der Rest … Rechnet sich aus all dem Braus / Doch ein richtig Leben raus. / Und dies können ist das Beste / Wohl bei diesem Weihnachtsfeste.“ Vier Verszeilen hat der Herausgeber für den Schluss aufgespart: „Ruhig sein, nicht ärgern, nicht kränken, / Ist das allerbeste Schenken; / Aber mit diesem Pfefferkuchen / Will ich es noch mal versuchen.“ Das ist fast ein bisschen Heine, Heine würde diese dreiste Behauptung vermutlich sogar tolerieren. Für den wirklichen, den lebendigen Theodor Fontane, folgte auf jedes Weihnachten immer bald sein Geburtstag, der 30. Dezember.


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