Arthur Adamov: Professor Taranne

Professor Taranne hat keinen Vornamen. Er hat nur den Titel: wie einst mein Feldwebel Vettin, der dafür blond war und blauäugig. Welches Fach Professor Taranne vertritt an welcher Universität, bleibt offen in Arthur Adamovs 1951 an nur zwei Tagen geschriebenem Stück, das aus zwei Bildern besteht, die es dennoch erlauben, das Werk als Einakter zu sehen, wie es von einem Mitarbeiter des literarischen Ordnungsamtes bescheinigt wurde. Professor Taranne hat Ärger. Er habe sich in der Öffentlichkeit ausgezogen, wird ihm vorgeworfen. Wobei die Öffentlichkeit ein Badestrand war. Es scheint sich demzufolge um eine Erregung öffentlichen Ärgernisses zu handeln, Tatbestand Exhibitionismus. Wobei sich ausziehen an Badestränden eher weniger ungewöhnlich ist, nur wo man es genau wie tut, wäre die Frage. Nämlicher öffentlicher Badestrand hat Kabinen, in denen man sich aus- und umziehen kann. Nämliche Kabinen haben, was im Einakter aber keine Rolle spielt, nicht selten Löcher, durch die ebenfalls Erregung erzeugt werden kann. Professor Taranne ist mit dem einen Vorwurf kaum richtig konfrontiert, ringt noch um seine Reputation, als ihn ein weiterer Vorwurf ereilt: er habe in den Kabinen Papier herumliegen lassen, diese verunreinigend.
 
Er verteidigt sich gegen den zweiten Vorwurf, indem er den ersten indirekt bestätigt: Er habe sich in keiner Kabine umgezogen, was automatisch heißt: Er tat es außerhalb. „Es ist schon so eine Geschichte, die Hose herunterzulassen, nachdem man sein Hemd schnell um die Hüften gebunden hat, es könnte herunterrutschen, man muss höllisch aufpassen.“ Die Kabine habe er gar nicht benutzen können, weil er kein Geld bei sich gehabt habe. In Rechtssystemen, die im Zweifel zu Ungunsten des Beschuldigten plädieren, könnte die Vermutung auftauchen, er habe absichtlich kein Geld mit sich geführt, um vor sich selbst eine plausible Entschuldigung zu haben, warum er sich außerhalb und in Sichtweite von Mädchen umziehen müsse. Vielleicht aber haben die Mädchen auch nur zu wenig gesehen und den Professor deshalb angeschwärzt, Adamov lässt es wie vieles einfach offen in seinem Stück. Später hat er, kann man nachlesen, „Professor Taranne“ als einziges von seinen frühen Bühnenwerken gelten lassen, „da an diesem Stück nichts Konstruiertes sei, denn es stelle die einfache Niederschrift eines Traumes dar.“ (Konrad Schoell: Das französische Drama seit dem zweiten Weltkrieg) Er hat sich, liest man ebenfalls, selbst in diesem Professor gespiegelt.
 
Es gibt im Stück nur noch eine weitere Person, die einen Namen trägt, es ist Jeanne, laut Dialog seine Schwester. Deshalb bleibt es rätselhaft, wie der Experte für „Das Theater des Absurden“ (Rowohlts Enzyklopädie, re 55684), Martin Esslin, auf die Idee kommen konnte, in dieser Jeanne nur „eine Verwandte oder Sekretärin“ zu sehen. Esslin ist dennoch bis heute derjenige, der sich am umfangreichsten zu Arthur Adamov äußerte, bezogen auf jene bescheidene Kleingruppe von Autoren, von denen überhaupt deutschsprachige Äußerungen vorliegen. Unter ihnen sind auch zwei, neben dem genannten Konrad Schoell noch Winfried Engler, die sich unter dem Deckmantel von Fachliteratur darin gefallen, französische Zitate unübersetzt zu lassen, was die Breitenwirkung ihrer Bücher, ob sie es wollen oder nicht, unnötig einschränkt. Aber auch Professor Taranne im Stück nimmt keinerlei Rücksicht auf seine Hörer, er hält Vorlesungen von epische Länge und Breite, Hörer verlassen zwischenzeitlich den Hörsaal, neue kommen hinzu und er rühmt sich noch, die Stimme nicht ein einziges Mal zu senken. Der Theaterzuschauer oder Leser erlebt das freilich nicht, er bekommt es zu hören aus dem Munde dessen, der es verantwortet und den es auch trifft.
 
Die Schwester Jeanne kommt zu ihm mit einem Brief, der aus Belgien stammt. Belgien ist das Land, in dem Taranne Vorlesungen hielt, das Land, das er nennt, um vor den Polizisten am Beginn sein Renommee zu untermauern. Denn während er meint, man müsse ihn und seinen Namen ganz selbstverständlich kennen, kennt ihn im Stück bis auf Jeanne tatsächlich niemand. Nur eine Frau scheint ihn zu kennen, begrüßt ihn freudig, doch erweist es sich rasch als Verwechslung. Tückisch im Stück, unglücklich für den Titelhelden: sie verwechselt ihn ausgerechnet mit jenem Professor Ménard, dem er sich offenbar absichtlich ähnlich macht, äußerlich und, was schwerer wiegt, durch die Übernahme seiner Gedanken für seine Vorlesungen, was man guten Gewissens Plagiat nennen dürfte. Just dieser Vorwurf ist auch in dem Brief aus Belgien formuliert, verbunden mit der Absage an jede weitere Zusammenarbeit mit Professor Taranne. Und dann gibt es da noch eine besonders seltsame Sache: den Sitzplan des großen Speisesaales auf einem großen Schiff, auf dem Taranne eine Überfahrt gebucht haben soll. „Du sitzt an der Ehrentafel und dazu noch in der Mitte!“, sagt Schwester Jeanne und am Ende muss der Zuschauer sehen, dass der Plan keiner ist: leeres Papier.
 
Arthur Adamov ist armenischer Abstammung, geboren am 23. August 1908 in Kislowodsk im Kaukasus, wo 69 Jahre später Oswald Ullrich eine Kur absolvierte, dessen 100. Geburtstag ich am 7. Mai 2021 zu begehen beabsichtige. Den Namen Adamov hat er weder damals noch sonst je erwähnt. Adamovs Vater besaß Ölquellen und war demzufolge reich. Das wiederum verhalf ihm zur Bekanntschaft mit dem König von Württemberg, der der Familie die Ausreise in die Schweiz ermöglichte noch vor dem ersten Weltkrieg. Adamov ist heute so gnadenlos vergessen, dass das ZEIT-Lexikon Literatur schon ganz auf seinen Namen verzichtet. Die westdeutsche Öffentlichkeit wurde nach der Veröffentlichung von vier Stücken Adamovs im Jahr 1959 im Verlag Hermann Luchterhand von diesem Autor ferngehalten. Es gab nie irgendwelche Nachfolge-Publikationen. Die ungewöhnlich wenigen Theaterkritiken, die sich in meinen wahrlich ansehnlichen Beständen finden, entstammen den Jahren 1952, 1955 und 1962. Die Theater, die Adamov spielten, waren das Stadttheater Pforzheim, das Schlossparktheater Berlin und das Theater in der Josefstadt Wien. In Frankreich spielte man „Professor Taranne“ zuerst in Lyon, Regie Roger Planchon (12. September 1931 – 12. Mai 2009), der, so Konrad Schoell, zum Vorkämpfer Adamovs in Frankreich wurde.
 
Adamov war von den namhaften Autoren des „Theaters des Absurden“, die nie eine homogene Gruppe darstellten und ihre auffälligste Gemeinsamkeit darin hatten, dass alle einen, wie man heute sagen würde, Migrationshintergrund besaßen, der erste, der sich abwandte. Übereinstimmung besteht in der spärlichen Literatur, die sich immer auf Adamov selbst beruft, dessen einschlägige Äußerungen nie übersetzt wurden, dahingehend, dass das Schlüsselerlebnis für ihn die beiden Gastspiele des Berliners Ensembles in den Jahren 1954 und 1955 waren, somit Brecht und sein „episches Theater“. Später kam das Erlebnis Sean O’Casey hinzu, kamen Bekenntnisse, die ihren Autor im Westen höchst verdächtig machten: Brecht war ein Autor, der lange regelrecht boykottiert wurde, über den Boykott in Österreich gibt es ein ganzes Buch zu lesen. So nimmt es nicht Wunder, dass auf der einen Seite der Mauer weitestgehende Funkstille eintrat, bis 1972 Klaus Michael Grüber in Düsseldorf das Vietnam-Stück „Off Limits“ auf die Bühne brachte, während in der DDR 1965 sogar ein Interview in „Sinn und Form“ gedruckt wurde, man aber über die frühen „absurden“ Stücke eilig hinwegging, um sich dem Werk über die Pariser Kommune zuwenden zu können, was zugleich die Gelegenheit gab, den Bezug zu Brechts „Tage der Kommune“ mit zu verhandeln.
 
Auf der zuletzt am 9. März 2020 bearbeiteten WIKIPEDIA-Seite zu Adamov fehlt unter der Literatur immer noch Konrad Schoell, ebenso auch Franz Norbert Mennemeier, der in seinem Buch „Das moderne Drama des Auslandes“ (1976) ein gutes Dutzend Seiten zu Adamov füllte. Keine einzige Theaterkritik ist genannt. Immerhin erfährt man, dass Adamov Georg Büchner und Anton Tschechow übersetzte, auch Gorki, dass Adamovs Vater 1933 Selbstmord beging. Und somit seinem Sohn voranschritt, der am 15. März 1970, heute vor 50 Jahren also, an den Folgen einer Überdosis Schlaftabletten starb. Sein Professor Taranne beginnt am Ende des Stückes übrigens, mit dem Rücken zum Publikum und vor sich den leeren Sitzplan, sich auszuziehen. Man hat das als Eingeständnis gedeutet. Der aber ist ein schlechter Exhibitionist, meine ich, der sich mit dem Rücken zu potentiellen Zuschauern entblößt. Vielleicht war Taranne ja verschämter Exhibitionist. „Ich weiß nur zu gut, dass man mich beobachtet, dass man hinter mir herspioniert, dass alle mich anstarren.“ Das sagt er sehr zeitig im Stück. Später: „Die Dinge geschehen immer serienweise. Es ist merkwürdig, aber ... es ist eine Tatsache.“ Man darf darüber nachdenken. Adamov stellt Fallen.
 
Letztlich sollte es niemanden überraschen, wenn ein Stück des absurden Theaters absurde Situationen, absurde Dialoge und womöglich sogar absurde Bühnenbilder vorführt. Falls es denn überhaupt auf eine Bühne kommt. So ist sich im Stück ein Polizist sicher: „Der Verfasser eines Textes muss aber das, was er geschrieben hat, ergänzen können, wenn er seine eigene Handschrift kaum noch entziffern kann.“ Adamov konfrontiert einen Menschen, den man früher noch ungestraft normalen Menschen nennen durfte, mit dem absurden Professor Taranne, der seinen eigenen Text keineswegs noch ergänzen kann. Wenn sich Adamov in ihm spiegelte, könnte das heißen, er selbst sah sich außerstande zu solchen Ergänzungen, in welchem weiten Sinne auch immer. Wenn Martin Esslin meint, Adamov habe „den Mut aufgebracht, einen Schimmer der realen Welt durchscheinen zu lassen“, dann klingt das heute höchst merkwürdig. Musste man 1951 Mut wirklich zur Realität aufbringen? Wer zwang dazu, als Tat erscheinen zu lassen, was, nüchtern betrachtet, einfach keine ist? War, wie Mennemeier glaubte, „Professor Taranne“ ein „reißerischer Einakter“? Wer den Band „Theaterstücke“ von Arthur Adamov nachlesen möchte, findet nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround