Caragiale: Eine stürmische Nacht

Es gibt Bücher, die hat man, weil man sie irgendwann kaufte, um sie zu lesen. Und es gibt Bücher, die hat man, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie je gelesen werden, gering ist. Zu letzteren gehören die, die Bestandteil einer Sammlung sind. Insel-Bücher zum Beispiel. In jüngeren Jahren war ich ein so emsiger Sammler, dass ich Träume hatte, in denen ich an verborgenen Orten Bestände gut erhaltener Bändchen entdeckte und sie dann mit nahezu rituellen Handbewegungen in meine Reihen einordnete, der Nummerierung nach, die bei solchen Sammlungen das einzig sinnvolle Ordnungsprinzip darstellt. Nummer 617 ist Ion Luca Caragiales Lustspiel „Eine stürmische Nacht“. Sie steht in meiner 1989 aus Protest gegen die Preisexplosion abgebrochenen Sammelreihe zwischen Michelangelo: Sibyllen und Propheten (616) und E.T.A. Hoffmann: Klein Zaches (618). Das ist nicht der schlechteste Platz.

Beim Blättern in „Reclams Literatur Kalender 2012“ stieß ich auf das Datum 9. Juni 1912 „Ion Luca Caragiale 100. Todestag“. Nun muss ich auf den neunten Juni nie eigens aufmerksam gemacht werden und zwar nicht nur, weil ich an diesem Tag im Abstand von fünf Jahren in Venedig weile, sondern weil der Grund dieses Weilens ins Jahr 1976 zurückreicht in Standesamt Berlin-Lichtenberg. Also hat der angeblich größte Dramatiker rumänischer Zunge an meinem Hochzeitstag seinen Todestag. Grund für eine gewisse Neugier, Grund für die Erinnerung an die Reihe, die in meinen Buchbeständen immer noch einen Ehrenplatz beanspruchen darf und hat. Griff zum Buch, Insel-Bücher lesen sich im Normalfall rasch wegen ihres schieren Umfangs, der begrenzt ist. Und Lustspiele sind dem Theatergänger keineswegs ein Grauen, selbst wenn sie „nur“ fürs Sommertheater taugen sollten, was weder gegen solche Stücke noch gegen Sommertheater spräche.

Ion Luca Caragiale, nun kommt es dicker, hat die letzten Jahre seines Lebens in Berlin verbracht, er kam 1904 und starb 1912 in Berlin. Eine Tafel soll am Hohenzollerndamm 201 hängen, Wilmersdorf, wo icke, wenn in Berlin, ja janz nahe imma nächtige. Und in Pankow, wo ich nie nächtige, steht eine Stele. Caragiale soll in Berlin Zuflucht gefunden haben, nachdem ihn in seiner Heimat ein hinterhältiger Kollege mit einer falschen Plagiatsanschuldigung verfolgte, die vor Gericht als falsch erwiesen wurde, dem Beschuldigten aber den Spaß verdarb. „Seine Übersiedlung nach Berlin war in gewisser Weise eine Flucht vor einer ausweglos scheinenden rumänischen Realität, in der er zu ersticken drohte.“ schrieb Klaus Bochmann 1970. Es sei. Ausweglosigkeit ist ein Begriff mit geringem Verkehrswert, Berlin noch heute oder heute wieder dagegen ein sehr präsentables Ziel für Fluchten aller Art und Preisklasse.

„Eine stürmische Nacht“ hat manches aus der Zeit der italienischen Renaissance-Novellen, in denen der Gehörnte meist den komischen August abgibt. Dumitrake heißt er hier, ist Ehemann von Veta, Schwager von Sitza, Typ auch wie bei Gogol in der hintersten Provinz. Er ist Hauptmann der Bürgergarde, Holzhändler, Mann von Ehre, den es zur verbalen Weißglut treibt, dass ein Vagabund, ein Beamter, nicht nur während des Besuchs der „Union“, wo Possen vorgeführt werden, mit den Damen äugelt, sondern der auch, dreist wie ein läufiger Dackel, die Heimkehrenden verfolgt. Dumitrake hat einen Speichellecker, der ihm zum Munde redet, Nae ist sein Vorname, und alles scheint darauf hinauszulaufen, dass der Vagabund ordentlich war zwischen die Ohren bekommen muss, damit er Ruhe gebe. Dass der Vagabund auch ein Zeitungsautor ist für ein patriotisches Blatt, das von den beiden Spezis gelesen wird wie die Offenbarung, das ahnen beide nicht. Und Dumitrake wandelt seine Meinung, als er es erfährt, um die üblichen 180 Grad.

Ein Lustspiel lebt von Verwechslungen zu guten Teilen. Bei Caragiale richtet der Gehörnte den Verdacht auf jenen schreibenden Beamten, den jedoch nicht Veta, sondern Sitza reizt und während das Stück mit einem zufriedenen Dumitrake endigt: „So blind wird der Mensch durch Ärger!“, kann der Zuschauer hämisch aus dem Theater schleichen, weil er etwas weiß, was der Held nie erfährt. Kiriac, der Freund und Helfer Dumitrakes, ist es, der sich seiner Veta bemächtigt hat. Während in der stürmischen Nacht der Hauptmann der Bürgergarde auf Postenkontrolle ist, geschieht, was wohl in anderen stürmischen Nächten mit Postenkontrollgängen auch schon geschehen ist. Caragiale, Jahrgang 1852, rafft sich freilich nicht einmal zu den drei Punkten auf, die solche Stellen kennzeichnen, drei Punkte spielen sich auch nicht so gut auf offener Bühne.

In den frühen fünfziger Jahren gab es einen Band mit gesammelten Dramen von Caragiale in der DDR, Georg Maurer hatte seine Hand im Spiel. Das war die Zeit, als die so genannten „Volksdemokratien“ den DDR-Menschen auch als Kultur-Nationen nahe gebracht werden sollten. Man erfuhr, dass auch andere Länder Klassiker hatten nach ihren Begriffen, Wasow war einer der Bulgaren und Caragiale eben einer der Rumänen. Das wäre ein eigenes Thema, denn hier ist auch Pionierarbeit geleistet worden, die im „Westen“ schlicht übersehen wurde und wird bis heute. Dort hüpft man wie Rumpelstilz, wenn eine neue Übersetzung von Dostojewskis „Der Jüngling“ jetzt „Der grüne Junge“ heißt, womit nichts gegen Swetlana Geier gesagt sein soll.

Ion Luca Caragiale, jetzt kommt der Tropfen, ist leider nicht am 9. Juni 1912 gestorben. Genauer, er ist für uns, die wir in der Kulturtradition des gregorianischen Kalenders leben, am 22. Juni 1912 gestorben. Nur im julianischen Kalender ist der neunte Juni der neunte Juni. Schade für das Traditionsverständnis meines Hochzeitstages, die Affinität des Reclam-Verlages Stuttgart zu julianischen Daten hat sich mir nicht erschlossen. Dafür verstehe ich den Diener Spiridon, der nicht versteht, warum ihn sein Herr Dumitrake prügelt, was immer er tut. Schläft er, wird er geprügelt, weil er schläft, ist er munter, wird er geprügelt, weil er nicht schläft. Man kann das als sozialkritische Note des Lustspiels sehen. Man kann es aber auch bleiben lassen.

Besonders gelungen sollen, las ich bei Klaus Bochmann, Caragiales prosaische Schilderungen des Journalisten sein in seinen Skizzen. Das hebe ich mir auf. Journalisten kenne ich zuhauf. Wenn ich aber Ende Juni wieder in Berlin bin, dann will ich wohl mit Kamera und flinken Fußes den Hohenzollerndamm anpeilen. Wäre ich Briefmarkensammler, wüsste ich, dass Caragiale auch in Moldawien eine hat. Wäre ich Banknotenkenner, wüsste ich, dass Caragiale den 100-Lei-Schein ziert. Und am 22. Juni, das steht fest, schreibe ich nicht wieder über Caragiale. Obwohl es von ihm als Theaterdirektor, als Kneipier, als Lehrer, Schauspieler und Schulbeamter noch dies und das zu sagen gäbe. Schweigen soll Neugier wecken. Also.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround