Arthur Eloesser sieht "Emilia Galotti"

Dass Arthur Eloesser die „Emilia Galotti“ auf einer Bühne gesehen hat, darf als sicher gelten. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass er sie mehrfach sah. Man braucht nur zu wissen, wie oft Theodor Fontane, als Theaterkritiker fast unmittelbarer Vorgänger Eloessers bei der „Vossischen Zeitung“, Lessings Trauerspiel sah und immer wieder darüber schrieb, wenn auch nur eine Rolle neu besetzt wurde mit einem Gast, mal ein neuer Marinelli, mal eine neue Emilia und so weiter. Dennoch haben wir keinerlei sicheren Beleg. Vor allem aber haben wir (nach jetzigem Stand der Erschließung, wäre einschränkend zu sagen) keine einzige gedruckte Kritik, die einen Theaterbesuch unwiderleglich bestätigt hätte. Es fällt im Gegenteil auf, dass Eloesser, gemessen an der Gesamtmenge der von ihm besprochenen Bühnenwerke und Inszenierungen, auffällig selten zu Lessing schrieb. Dreimal zu „Minna von Barnhelm“, je einmal zu „Miss Sara Sampson“, zu „Der junge Gelehrte“, zu „Die Witwe von Ephesus“. Auch „Nathan der Weise“ kommt nur einmal vor, fast eine Fehlstelle. Woran das lag, ob hauptsächlich an einer uns unbekannten Vergabe-Reihenfolge der Aufträge oder anderen Gründen (also Alfred Klaar vor Eloesser, Monty Jacobs vor Eloesser), bleibt reine Spekulation.

An Materialmangel leiden wir aus einem sehr einfachen Grund dennoch nicht. Eloessers Buch „Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“, 1898 bei Wilhelm Hertz in Berlin erschienen, bei dem auch Fontane Autor war, kommt mehrfach und in vielen Details auf die „Emilia Galotti“ zurück. Die große zweibändige Literaturgeschichte „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ (bei Bruno Cassirer 1930 und 1931) bringt im Band I ein neunzig Seiten starkes Kapitel zu Gotthold Ephraim Lessing, worin, wie könnte es anders sein, auch die „Emilia Galotti“ eine gewichtige Rolle spielt. Es lässt sich zeigen, dass Eloesser dort zum Teil bis in die Formulierungen hinein auf sein frühes Buch zurückgriff, was bedeuten könnte, es war ihm nichts Neues eingefallen, oder aber: er fand seine alten Sätze so gut, dass er sie nicht umformulieren wollte ohne Not. Er zitierte lieber, ohne das ausdrücklich zu kennzeichnen, wozu ihn auch niemand verpflichten konnte. „In der „Emilia Galotti“ herrscht die drückende Atmosphäre der engsten Kleinstaaterei. In allen Beziehungen des Lebens ist die Gegenwart einer fürstlichen Persönlichkeit in ihrem übermächtigen Einfluss fühlbar.“ So Eloesser anno 1898. 1930 geht er deutlich weiter.

„Das bürgerliche Trauerspiel ist ein eminent historisches, obgleich es keine Historie bearbeitet, ist im höchsten Grade politisch, obgleich es irgendwie machtverlangende Tendenzen nicht vertritt. Lessing hat sich zu keiner unwahren poetischen Rache hinreißen lassen. Aber die erstickende Schwüle des Duodezfürstentums, die ihm selbst die Luft zum Atmen nahm, ist hier für alle Zeiten konserviert worden.“ Eloesser stellt auch die Frage, an die ich mich aus meinem Deutsch-Unterricht an der Goethe-Schule Ilmenau gut erinnere: „Man hat sich gefragt, warum Lessing nicht gewagt habe, auf der deutschen Bühne eine Revolution darzustellen oder, wie es das Gerechtigkeitsgefühl verlangen würde, statt der Emilia den Prinzen ermorden zu lassen. Allerdings hat er es nicht gewagt, aber aus Gründen der Wahrhaftigkeit. Ein ermordeter Prinz wäre auf der deutschen Bühne eine Unwahrhaftigkeit gewesen.“ Eine überzeugend einfache Antwort, die in ganz andere Richtung weiter führt: „Die „Emilia Galotti“ hat eine doppelte Art von Nachkommenschaft. Die jungen litterarischen Revolutionäre folgten Lessing nach Italien … und es beginnt die lange Reihe von Dramen, die den Standesunterschied zum Vorwurf nehmen.“ So 1898. 30 Jahre später ähnlich.

„Die Emilia Galotti zeugte eine andere Art von Nachkommenschaft; die so gedachte und kühle Tragödie, die dem kritischen Verfasser im Lauf der Arbeit immer weniger gefiel, lockte die ihm folgende Generation auf einen Schauplatz, auf dem sich ihr Genietum, unbeengt von heimischen Zuständen, pathetisch ausschwelgen konnte.“ Der neue Schauplatz Italien ist als Gewinn für die nachfolgenden Dramatiker zu sehen, nicht als Fluchtpunkt für furchtsame Herzen oder für kampfunwillige Schreibpult-Revolutionäre. So darf man Eloesser wohl verstehen. Es ist immer eine unbillige Forderung an Autoren, sie mögen Revolutionäre sein oder vernichtende Kritik an ihrer Feigheit erleiden. Lessing war für seine Zeit ungeheuer mutig, aber auch einsichtig genug, die Wirkungslosigkeit seines Treibens einzukalkulieren. „Zeichen setzen“ war damals noch keine Ideologie des Dennoch und Trotzdem. Er war mit seinen großen Dramen ein Neuerer wie vor ihm und nach ihm selten einer. Eloesser charakterisiert die „Emilia“ wie vorher die „Sara“ und die „Minna“ und nachher den „Nathan“ als Musterstücke, denen Lessing selbst keine Nachfolger oder „Anwender“ folgen ließ. Neue Ziele reizten ihn entschieden mehr als noch die größten Erfolge.

„…und die Bedeutung des Dramas ist nicht in der einzelnen Katastrophe enthalten, sondern in der Gesinnung, dass hier ein durch die Verhältnisse begründeter Gegensatz, ein dauernder Protest, ein Kriegszustand zwischen unversöhnlichen Feinden verkündet wird. „Emilia Galotti“ ist ein hartes Werk, das erste bürgerliche Produkt, das seiner Art nach auf alle moralische Rührung verzichten muss, weil es sich hier nicht mehr um die Herzen sondern um die Ehre handelt. Und der Anspruch auf Ehre und Menschenwürde ist schon die erste keimende Opposition, die den Kämpfen um politische Rechte vorangeht.“ Damit ist für Eloesser die Frage, inwieweit es sich bei Lessings Trauerspiel um politisches Theater handelt oder nicht, schon beantwortet, ehe sie explizit gestellt wird. Er beantwortet sie damit auch für andere, spätere Stücke und nicht nur für Lessing. Und schon 1898 ist ihm dies klar: „Die Person des Fürsten in ihrer Mischnatur erscheint uns heute interessanter als die reinlichen Vertreter der rauhen Tugend.“ Und weiterführend: „Der Prinz ist kein Tyrann; er regiert, weil er muss, ohne von seiner Hoheit berauscht zu sein.“ Solche Sicht korrespondiert auf spezielle Weise mit der vier Jahre früher gedruckten Einschätzung des Marxisten Franz Mehring.

„Der Prinz ist der erste moderne Fürst, den ein deutscher Bühnendichter zu zeichnen gewagt hat, und er ist auch der letzte geblieben.“ Heißt es bei ihm. Als eben solches Unikat verdient er das von Eloesser gemeinte Interesse. „Hier ist das Laster nicht mehr in der schulmäßigen Auffassung eine Verdunklung der Vernunft, hier ist es in den menschlichen Einrichtungen begründet.“ Folglich hilft nicht Aufklärung, mehr Licht, es hilft nur Veränderung der menschlichen Einrichtungen, man kann auch Verhältnisse sagen. In der „Emilia“ ist, so Eloesser schon 1898, „zugleich die besonnenste und vernichtendste Kritik des Absolutismus ausgesprochen.“ Woraus man schließen darf, der Kritiker hätte nicht mit einer vernichtenden Kritik ein Problem, wohl aber mit einer unbesonnenen. Zugleich wirft er einen Blick auf die Mutter im Spiel: „Damit wird auch die Mutter in ihre natürlichen Rechte eingesetzt. Auch hier ist die Familie Galotti für alle Nachfolger zum Vorbild geworden: Der Vater, ein starrer Vertreter seines Standes, bald rauh und edel, bald polternd und humoristisch, die Mutter mit laxerer Auffassung, gutmütiger oder leichtsinniger; sie begünstigt zuweilen den Liebhaber oder sie erkennt die drohende Gefahr nicht, gewöhnlich trägt sie einen kleinen Teil der Schuld.“

Das liest sich, als wäre es für Schillers Musikus Miller und seine Gattin gleich mitgeschrieben. Die „Emilia“ ist auch innerhalb der Werkfolge Lessings als Fortschritt zu sehen: „Das Böse ist hier nicht mehr in abstrakter Weise der Gegensatz zum Guten, nicht mehr eine Verdunklung der Erkenntnis und eine Art seelischer Krankheit, sondern es geht aus dem Zusammenstoß zweier Stände hervor, es ergiebt sich aus der sozialen Übermacht des einen, die notwendig missbraucht werden muss.“ Und dennoch, so Eloesser 1898: „Die „Emilia“ genoss mehr kühle Hochachtung als wirkliche Beliebtheit.“ Das mag mit der Heldin selbst zu tun haben, deren Tugend schon in den Jahren nach der Uraufführung in Braunschweig am 13. März 1772 kaum nachvollziehbar war. Und Folgen für die Darstellung nach sich zog. Zugespitzt ließe sich sagen, dass alle anderen Figuren des Spiels interessanter waren und bis heute sind. So scheint folgerichtig und als indirekte Bestätigung der Befunde Eloessers, dass Monty Jacobs, sein unmittelbarer Vorgesetzter im Feuilleton der „Vossischen Zeitung“, in „Deutsche Schauspielkunst. Zeugnisse zur Bühnengeschichte klassischer Rollen“ Vater Odoardo, die Orsina, den Prinzen und Marinelli hat, nicht aber die Titelfigur Emilia.

1930 heißt es dann im ersten Band der Literaturgeschichte: „Weil er kein römisches Revolutionsstück schrieb, wurde Emilia das erste mögliche politische Drama in Deutschland.“ Und: „Bei Lessing sind keine Parteien, keine politischen Gegensätze, keine Straßenszenen mit aufgerührten Mengen. Da sind ruhige, ehrgeizlose Untertanen, die für sich leben wollen“. Das ist zu wenig für Revolutionsromantiker, die wohl wissen, dass erst eine revolutionäre Situation unter Umständen, nicht automatisch, zu einer Revolution führt, die aber als geborene Wunschdenker der durch nichts bewiesenen Theorie anhängen, man könne revolutionäre Situationen erst künstlich herbeiführen und dann zügig beschleunigen. Die Geschichte spielt dummerweise nicht mit, weshalb die Literaturgeschichte deutlich mehr enttäuschte Revolutionäre vorweist als Sieger der Geschichte. „Lessing hat sich zu keiner unwahren poetischen Rache hinreißen lassen.“ Auch das will Eloesser festgehalten wissen. Denn die Küchenpsychologie künstlerischen Schaffens meint unverdrossen, die private Wolfenbüttel-Misere Lessings hätte direkt in die „Emilia“ fließen können und gar müssen. Dabei hatte Lessing das Spiel bereits in fortgeschrittenem Stadium im Gepäck, als er dort ankam.

1930 bringt Eloesser auch Diderot ins Spiel: „Hier hat Lessing seinen allzu bewunderten Diderot übertroffen; die Wechselwirkung zwischen Stand und Charakter wird mit einer feinen Wissenschaft vom Menschen ausgewogen.“ Und er verschweigt nicht eine unabweisliche Kritik an Goethe: „Emilia fürchtet weniger die Gewalt als die Verführung in der sinnlich schwülen Atmosphäre des Hofes. Goethe hätte sie deshalb nicht ein Luderchen nennen sollen.“ Er tat es aber und es verrät mehr über den Hofmann Goethe als über seine Urteilsfähigkeit im Detail. 1930 zögerte Arthur Eloesser nicht, der Bühnenwirkung der „Emilia“ glänzende Aussichten zu bescheinigen: „Aber die Emilia blieb bis heute eine lohnende Aufgabe für jede Bühne, die ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen den Ehrgeiz hat. Nicht die allzu bewusste Heldin, wohl aber Odoardo Galotti, Marinelli, der Prinz, auch der Mörder Angelo, vor allem die Orsina sind begehrte Rollen geblieben, haben den Instinkt der Schauspieler immer noch gerechtfertigt.“ Auch hier wieder auffallend: die Titelrolle selbst ist ausgeklammert. „Lessing bleibt der einzige deutsche Dramatiker, der fortschreitend von der Bühne für die Bühne gelernt hat“. Das darf und soll man auch gegen alle anderen gezielt lesen.

Ob Eloesser eine Kritik seines Kollegen und späteren Freundes Siegfried Jacobsohn kannte, in der dieser 1913 eine Reinhardt-Inszenierung mit Starensemble mit einem Stoßseufzer beendete, ist nicht überliefert, aber sehr wahrscheinlich. Im Wortlaut: „Gebt doch mit solchem Künstler, solchen Künstlern Stücke, die uns angehen, weil sie unter Menschen spielen!“ Noch später wird bei manchem Kritiker die Distanz noch größer, was nicht gegen eine 1930 vorgetragene Prognose zu wenden ist. Denn auch da war nicht nur Eloesser bekannt, was andere Zeiten für die Sicht auf ein Werk bedeuten können: „Der achtzigjährige Goethe ließ es auf dem nunmehrigen höheren Grade der Kultur nicht mehr als wirksam gelten, gewährte ihm nur seinen Respekt wie vor einer Mumie, die von alter hoher Würde des Aufbewahrten Zeugnis gibt.“ Der sechzigjährige Arthur Eloesser, das soll hier nicht verschwiegen werden, weil es eine hübsche Pointe, liefert, produzierte in seiner Literaturgeschichte diesen klassischen „Freudschen“ Verschreiber: „Die Emilia kommt als Luise Millerin zurück, die Orsina als Lady Milwood.“ Die es bei Schiller gar nicht gibt, wohl aber Lady Milford. Bei Lessing gab es Lady Marwood in der „Sara Sampson“, die wiederum von einer Lady Milwood bei George Lillo herkommt aus dessen „Merchant of London“ (Kaufmann von London).


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