Kurt Bartsch: Der Bauch und andere Songspiele

Muss man lange DDR-Bürger gewesen sein, um die Sprengkraft zu ermessen, die einem Parteisekretär innewohnt, der sich auf offener Bühne aufhängen will? Man muss. Die Nachfolgenden wissen ja nicht einmal mehr ganz sicher, was ein Parteisekretär war. Sie finden es nicht seltsam, dass ein katholisches Obergremium Zentralkomitee heißt, dass Generalsekretäre nicht nur im Plural vorkommen, sondern auch noch alleweil ausgewechselt werden, je nach Windrichtung und parteiinterner Skandallage. In der DDR gab es keine Skandale, weil es keine Öffentlichkeit gab. Diejenigen Skandale aber, die über Mund-zu-Mund-Propaganda die Runde machten, die prägten sich so heftig ein, dass sie noch Jahre später allgegenwärtig waren. Während heute die schönsten Skandale vom vorigen Dienstag nicht einmal in der Redaktion erinnert werden, die sie aufdeckte.

Kurt Bartsch, der am 10. Juli 1937 in Berlin geboren wurde und am 17. Januar 2010 starb, hat die ganz großen Schlagzeilen nie bekommen. 1976 war er nicht unter den Erstunterzeichnern der Biermann-Petition, er war „nur“ unter denen, die noch am selben Tag ihren Namenszug darunter setzten. 1978, als die Lage wegen einer grenzdebilen Kulturpolitik als Folge einer offenbar doch unkalkulierten Situation nach jenem November weiter eskaliert war, gehörte Bartsch zu den  Verfassern eines Briefes an Erich Honecker, der Besorgnis formulierte über eben diese Kulturpolitik, die sich innerhalb ganz weniger Jahre vom beinahe erfrischenden Aufbruch nach dem VIII. Parteitag 1971 in ihr kaum unterbietbares zynisches Gegenteil verwandelt hatte. Dem Schriftstellerverband der DDR wurde befohlen, diese schlimmen Gesellen, neun schließlich an der Zahl, aus seinen Reihen zu weisen, die öffentliche Verlogenheit rundherum schlug Kobolz, dass einem bis heute beim Nachlesen die Spucke wegbleibt.

Liest man im Protokoll jenes inszenierten Ereignisses vom Juni 1979, fällt unter anderem eines auf: Kurt Bartsch ist zwar derjenige, dessen Name als erster aufgerufen wird, als es zur Abstimmung über den Ausschluss kommt, das „Protokoll eines Tribunals“, wie der Buchtitel bei Rowohlt aktuell lautet, der im Januar 1991 alles für die Nachwelt dokumentierte, nennt den Namen aber sonst nur bei Aufzählen von mehreren Namen. Kein Wort inhaltlich, nicht von ihm, nicht über ihn. Dafür wird ein im Januar 1980 in der Monatsschrift „konkret“ publizierter Beitrag deutlicher, den Bartsch gemeinsam mit Klaus Schlesinger verfasste als Antwort auf eines der beispiellos zynischen und bösartig arroganten Interviews, die Hermann Kant gab, 1979 ebenfalls in „konkret“. Doch auch dieser Beitrag dreht sich eher um Stefan Heym als um die beiden Autoren der Replik an den bis heute noch emsigen Gremlitza. Erst ein Blick in Joachim Walthers noch immer und immer wieder nützliches Großwerk „Sicherungsbereich Literatur“ gibt etwas Aufschluss.

Demnach war Kurt Bartsch die Hauptzielscheibe des OV „Ribagera“, den das sattsam bekannte Ministerium an der Normannenstraße zu Berlin führte. Staatsfeindliche Hetze musste als Anfangsverdacht herhalten, die Verschärfung des politischen Strafrechts nach der Biermann-Ausbürgerung bedrohte alles, was laut aktueller Parteilinie bedroht werden musste, den unbotmäßigen Künstler vor allem. Es sei deshalb schon hier darauf verwiesen, wie tief Bartsch mit vermeintlich nebensächlichen Dialogsätzen in seinen Einaktern griff.  „Einem einfachen Arbeiter kann gar nichts passieren im Sozialismus“, sagt die ehemalige Kranführerin in „Der Bauch“. Dieser Satz war mir wie etliche andere im August 1978 das Ankreuzen wert, wie überhaupt mir meine Merkzeichen von damals meine damalige Denkungsart lebendig werden lassen, die sonst wegen des Abstands von fast 35 Jahren ziemlich vergessen ist.

Es gab in der Tat diese Erfahrung: Arbeiter durften wegen des „Kaffeemixes“ sogar streiken, wenngleich das streng geheim gehalten wurde, während ein Student der Philosophie ein Parteiverfahren über sich ergehen lassen musste, weil er Schlangen vor leeren Geschäften in Moskau während seines Studentensommereinsatzes fotografiert hatte. Kurt Bartsch hatte versucht, so lese ich bei Walther, der Vorzensur beim Kabarett „Die Distel“ auszuweichen. Dass er überhaupt für die „Distel“ schrieb, ist beispielsweise dem Sammelband mit „Disteleien“, den der Henschelverlag 1976 herausbrachte, nicht zu entnehmen, da war der OV noch gar nicht gestartet. Das System war brutal und brutal konsequent, selbst wenn es seine Inkonsequenzen zur Dialektik erklärte. Und dennoch waren die Schnüffel-Aktivisten trotz erheblichen IM-Einsatzes, im Falle Bartsch waren Hermann Kant und Werner Neubert persönlich aktiv (Neubert war Autor eines Grundlagenwerkes zur Satire mit dem Titel „Die Wandlung des Juvenal“), nicht perfekt informiert.

Wohl wurde aktenkundig, dass sich Erwin Strittmatter und Hermann Kant über Kurt Bartschs Parodien-Sammlung „Kalte Küche“ empört hatten. Dass jedoch Max Walther Schulz, in die DDR-Literatur-Geschichte eingegangen unter anderem mit dem dämlichsten je gehaltenen Hauptreferat auf einem Schriftsteller-Kongress, es war der sechste Kongress anno 1969, mittels gerichtlicher Verfügung gegen den Band vorgegangen war, erwähnen die Dossier-Experten nicht. In der zweiten Auflage der Parodien fehlt der Text, der dem autoritären Schulz nicht in den Kram passte und der Aufbau-Verlag kennzeichnete diese zweite Auflage keineswegs als eine veränderte, was gegen die elementaren Verlagsregeln in jeder nur denkbaren Hinsicht verstößt und eine von vielen Peinlichkeiten ist, für die die Primärschuld natürlich nicht einem Verlag angelastet werden darf.

Der Operativplan vom 12. Mai 1980 enthält (Walther, Seite 452) diesen bemerkenswerten Satz: „Um zu verhindern, daß Bartsch behaupten kann, daß gegen ihn Berufsverbot besteht, ist zu prüfen, welche Möglichkeiten es gibt, Stücke von ihm in Annaberg und Schwerin aufzuführen.“ Das hat dann nicht mehr so ganz geklappt, denn Bartsch ist mit Ehefrau Irene Böhme zunächst von Ost- nach West-Berlin, später nach Schleswig-Holstein gewechselt. Die drei Einakter, die im heute hier in Erinnerung zu rufenden Bändchen versammelt waren, hatten ihre Uraufführungen an der Volksbühne Berlin (1974: „Der Bauch“), in Schwerin (1976 „Die Goldgräber“) und Budapest (1977 „Der Strick“). 1982 brachte Schwerin noch die Aristophanes-Adaption „Der private Frieden“, danach folgten nur noch Uraufführungen im „Westen“ (Tübingen, Westberlin, Celle). Ob freilich heute dort mit dem Namen Kurt Bartsch noch irgendjemand etwas anderes verbindet als 70 Folgen „Unser Lehrer Dr. Specht“ und ein paar Peter-Strohm-Krimis, ist fraglich. Bartsch jedenfalls hatte mit diesen Fernseharbeiten für sich eine plätschernde Geldquelle gefunden.

In den drei Songspielen jedoch, die der Aufbau-Verlag in seiner Reihe „Edition Neue Texte“ 1977 vorlegte, steckt der Sprengstoff fast auf jeder Seite. Kurt Bartsch greift sehr bewusst auf Sujets zurück, die zur DDR-Literatur gehörten wie das Transparent zur Betriebsfassade. Er nimmt den Bau, genauer, den Großbau, der seit Stalins Zeiten in besonders musterhafter Weise den sozialistischen, den neuen Fortschritt verkörpern muss. Hier agieren die neuen Helden, hier herrscht freilich auch eine in ihrer Stereotypie fast an die Commedia dell'Arte gemahnende Personal-Einfalt. Es fehlt eigentlich nur der sowjetische Genosse, der in allen Zweifelsfällen als deus ex machina oder Teufelchen aus der Schachtel schnippt. Bartsch aber demontiert das Herkommen. Der positive Held hat bei ihm Dreck am Stecken. Der positive Held ist unmoralisch nach den herrschenden Moralvorstellungen, er geht fremd, er betrügt, er behandelt Frauen wie Dreck. Gleichzeitig drischt er Phrasen, dass sich die Balken biegen. Immer wieder formuliert Bartsch für seine Figuren Sätze, die die seltsamsten Überzeugungen mit „Kommunist“ und „Kommunismus“ in Verbindung bringen.

Nimmt man das Bändchen als nicht nur zufällige Komposition dreier Bühnentexte, dann steckt in der Abfolge sogar eine tückische Steigerung. Zunächst ist der Kaderleiter der moralische Schweinehund, dann im zweiten Stück der Brigadier und erst in „Der Strick“ wagt sich Kurt Bartsch, einen Parteisekretär persönlich in den satirischen Kakao zu tunken. Und er weiß natürlich, was er tut. Und er weiß natürlich, welche Reaktionen das bewirkt. Parteisekretär Erwin sagt: „Ich mache nur darauf aufmerksam, daß ich der letzte bin, der es sich leisten kann, daß man über ihn lacht. Vergiß nicht, ich bin eine Art Vorbild. Wenn man auf mich mit Fingern zeigt, zeigt man nicht nur auf mich mit Fingern.“ Die Partei selbst, so heißt das natürlich ganz unmissverständlich, ist es, auf die mit Fingern gezeigt wird. Die abgelutschte Phrase „Wo ein Genosse ist, ist die Partei“ geht plötzlich wie ein Rohrkrepierer nach hinten los: Wo solche Genossen sind, ist die Partei eben auch und sie zeigt, was und wie sie mindestens auch, wahrscheinlich sogar im Innersten ist.

Hätte Kurt Bartsch versucht, aus diesen Stoffen Dramen, Tragödien zu formen, dann hätte er sicher nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Preise damit gewonnen. Heute hat jeder Jung-Lyriker schon vor seiner Erstveröffentlichung mehr Preise und Stipendien in seiner Internet-Vita verzeichnet, als Kurt Bartsch in seinem ganzen Leben bekam. Ich weiß nicht, ob ihn das grämte. Am Ende seiner literarischen Laufbahn hat er doch noch einen richtigen Roman veröffentlicht, den  dann gleich sogar der SPIEGEL las. Ich kenne diesen Roman nicht. Die drei Spiele aber, in denen jeweils eine Anna sehr lebendig, sehr selbstbewusst und sehr aktiv ist, die kenne ich gut. Es ist ein Vergnügen, sie zu lesen. Und das Gedicht „Sozialistischer Biedermeier“, noch jetzt im eben doch nie perfekten Internet gehandelt als eines, das in der DDR angeblich subversiv verbreitet und vorgelesen wurde, das stand doch ganz und gar ungeheim in Bartschs erstem Buch „Zugluft“ auf den Seiten 83 und 84. Die vier Zeilen der vorletzten Strophe sollten sich alle an den Spiegel kleben, die in der Endphase der DDR jedes Problem mit dem Wort FRIEDEN erschlugen:

 Immer glauben, nur nicht denken
 und das Mäntelchen im Wind.
 Wozu noch den Kopf verrenken,
 wenn wir für den Frieden sind?

1968 wurde das gedruckt, kurioserweise in der DDR. Da muss ein Zensor geschlafen haben.


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