Günther Drommer: Erwin Strittmatter und der Krieg unserer Väter

Vorm Fernseher geht es mir oft so. Ich schäme mich für fremde Leute. Bei Büchern ist es selten. Bei Günther Drommer möchte ich versinken. Was reitet einen in Ehren ergrauten Mann des Jahrgangs 1941, solch ein aberwitziges Buch zu publizieren? Was reitet den Verlag Das Neue Berlin, der  immerhin für die Existenz einer ehrenvollen Krimi-Literatur in der verflossenen DDR sorgte und heute offenbar nicht nur von allen guten, sondern von sämtlichen Geistern überhaupt verlassen scheint? Ist es unter normal denkenden Menschen vorstellbar, dass ein Verlag seinem Autor rät, zur Verifizierung einer in sich schon grundalbernen, haltlosen Thesenruine ausgerechnet einen hochrangigen Stasi-Offizier zu befragen und dem volle 13 Seiten des Buches unkommentiert zur Verfügung zu stellen? Der repetiert mühelos zehnstellige Aktenzeichen, kann sich aber an den Inhalt der Akten nicht mehr erinnern. Da lacht nicht nur der Berliner Bär.

Das Fatale an diesen 13 Seiten ist nebenbei, dass man fast wörtlich aus ihnen schon vorher im Autorentext las, was diesen und jenen Verdacht natürlich keineswegs als aus der Luft gegriffen erscheinen lässt. Die Hauptsache aber: Hier wussten offenbar weder Autor noch Verlag, was das für ein Buch werden sollte. Nach vier Dutzend Seiten geht es dem Leser wie dem Betrachter des berühmten Gemäldes „Lenin in Polen“, der seinen Nebenmann fragt: Wo ist denn Lenin, ich sehe ihn nicht? Und der Nebenmann antwortet: Steht doch da, Lenin in Polen. Günther Drommer hat in sich, so wirkt es, sämtliche Frustrationen seit 1990 gären lassen und dann erst einmal einen Leserbrief an den Imperialismus geschrieben, der auf deutschem Boden einen klaren Punktsieg gegen die Diktatur der Arbeiterklasse errungen hat. Es liest sich wie die Endlosfassung jener Schreiben, mit denen frühverrentete Wohngebietsparteisekretäre ihr nicht mehr hundert Prozent koscheres Neues Deutschland und die aus ihrer Sicht übel gewendeten ehemaligen Bezirksorgane befeuern, jede Leserbriefseite ist ein Dokument unverdrossenen Klasseninstinktes.

Es gibt sie nicht, verehrter Günther Drommer, die Mitglieder des imperialistischen Welt-Politbüros, die irgendwo hinter Beton aus ihren Betonköpfen globusumspannende Strategien basteln, das Andenken der DDR in den Schmutz zu ziehen. Die DDR und ihre in sehr vielem eben einfach nur menschenfeindlichen, menschenverachtenden Repräsentanten haben selbst und freilich wohlwollend vom Klassenfeind beobachtet, der sich weniger Mühe geben musste, den Zusammenbruch aktiv herbeizuführen, den Hauptanteil am Ende im Schmutz. Es ist, tut mir leid, das nicht weniger krass sagen zu können, eine abgründige Beleidigung, Erwin Strittmatter posthum zum Repräsentanten zu stilisieren, dessen Ruf nun geschädigt werden soll, um die längst modernde DDR zu treffen. Strittmatter, dem Kulturidioten verbieten wollten, einen Helden sterben zu lassen („Ole Bienkopp“), dem Kulturidioten verbieten wollten, eine deutsche Frau von sowjetischen Soldaten vergewaltigen zu lassen, Abrassimow, oder wie hieß er gleich, höchstselbst mischte sich in Dinge ein, die ihn, mit Verlaub, einen Scheißdreck angingen, Strittmatter hätte sich solche Unterstützung wahrscheinlich verbeten. Höchstwahrscheinlich.

Drommer bastelt eine durchsichtige Verteidigungsstrategie zugunsten Strittmatters, die ihre volle und tiefe Peinlichkeit darin hat, dass eben auch jeder tatsächliche Verbrecher sich ihrer bedienen könnte. Man kennt jene Verfahren aus der westdeutschen Realität zur Genüge, wo Verteidigungen es als entlastend darstellten, dass einer nicht 16.000, sondern wahrscheinlich nur 13.000 Juden in die Gaskammern schickte. Auf diese juristische Ebene sollte sich niemand begeben, der nicht Rechtsanwalt ist und mit seinem Tun Geld verdient. Was aber wird Strittmatter eigentlich vorgeworfen? Er hat wichtige Details seines Dienstes im Krieg verheimlicht, er hat sie nicht zu Literatur gemacht, er hat Peinliches verschwiegen. Natürlich kann aus solchen Feststellungen medialer Honig gesogen werden. Natürlich verwandeln Endredakteure mittels Überschriften Nachrichten in Pseudosensationen. Natürlich freut sich einer wie Werner Liersch, der mal einer war und nun wie fast alle, die einmal etwas waren, keiner mehr ist, wenn einmal noch alle zu ihm schauen. Letztlich und unterm Strich hat er die Wahrheit auf seiner Seite. Joachim Jahns und nun auch Annette Leo haben ihn und nicht Drommer bestätigt. Die Details sind dabei fast sekundär.

Erwin Strittmatter ist kein geeignetes Objekt für „in dubio pro reo“ in der schmerzenden Art, wie Drommer sie vorführt. Er formuliert Thesen, bei denen man geneigt ist, den Arzt zu rufen. Etwa auf Seite 80 oben: „... dennoch dürfen am Ende allein nur wirklich Schuldige auch beschuldigt werden.“ Ein Gerichtsverfahren wird, Klippschule, Günther Drommer, angestrengt, um im Teil Beweisaufnahme Schuld oder Nicht-Schuld des/der Beschuldigten festzustellen. Bleiben Zweifel, dann gilt das rechtsstaatliche Grundprinzip sehr wohl und ist unendlich wichtig. Die Verteidigung hat, Klippschule, sogar noch die Möglichkeit, auf dem Wege der Verfahrensfehlerfeststellung Urteile auszuschließen, die Staatsanwaltschaft kann gegen Verfahrenfehler von Rechtsanwälten, soweit ich sehe, nichts Vergleichbares aufbieten, es bleibt die höhere Instanz.

Ein Verbrechen aber hat niemand nirgends bis jetzt Erwin Strittmatter vorgeworfen, nicht einmal nazistische Gesinnung ist ihm unterstellt worden, aus der heraus er sich freiwillig gemeldet haben könnte. Ob Strittmatter mit seiner Ordnungspolizeieinheit, die eines Tages den SS-Titel erhielt, ohne dass jeder einzelne damit SS-Mitglied wurde, an Verbrechen teilnahm, Zeuge von Verbrechen wurde, ist nahezu vollkommen offen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mehr sah als er je darstellte, erzählte, schrieb, ist ziemlich groß. Doch selbst die einzig passable Darstellung des Buches, die mühsame Rekonstruktion des Wegs der Strittmatter-Einheit durch Europa, belegt nichts. Drommer nutzt das von Historikern erprobte Verfahren, das in der Literaturgeschichte erst jüngst am Beispiel Kleist dazu half, die Periode seines Lebens halbwegs zu klären, aus der es keinerlei direkte Dokumente gibt. Kleist hat übrigens seine Kriegserlebnisse auch nie zu Literatur, nicht einmal zu Briefen, werden lassen.

Günther Drommer hat sein Buch (oder war es der Verlag, der das Agglomerat unpassender Teile irgendwie retten wollte) Streitschrift genannt. Sie wirkt wie in Torschlusspanik geschrieben, als hätte ein Ausverkauf aller noch nicht niedergeschriebenen Gedanken und Überzeugungen des Autors als Zielgröße gedient, vollkommen unabhängig davon, wie oft und wie gut diese Gedanken schon seit Jahren in der Welt sind. Ein Journalist, den ich nicht kenne, hat in einer Zeitung, die ich nicht lese, am 21. Juli Drommer den nützlichen Idioten von Eva Strittmatter genannt. Das habe ich im Internet gefunden. Auch Drommer hat viel im Internet gefunden, schreibt aber darüber, als wäre das ein homogenes Medium a la Frankfurter Allgemeine oder Spiegel oder Süddeutsche. Da hätte er sich dann doch vorher aufklären lassen sollen, so schön es für ihn sein mag, das Angebot noch im Alter zu nutzen, das keineswegs nur für die Jugend in der Welt ist. Sollte, was anhand des Textes zu vermuten ist, Drommer eigentlich mehr vom Nachdenken über den eigenen Vater als von Strittmatter umgetrieben worden sein, dann wäre das kaum ehrenrührig. Sollte die seltsame Aktion mit dem Spielzeug für einen griechischen Kindergarten am Ende gar das Eingeständnis eigenen Zweifels am sonstigen Inhalt des Buches sein, wäre das ebenfalls kaum ehrenrührig. Krude Aussagen, wir müssten dankbar sein, dass uns die Griechen überhaupt in ihr Land lassen, sind mindestens weltfremd. Und warum, um alles in der Welt, gibt es auch noch Mythenkunde für Anfänger im Buch?

Es steht jedem Autor frei, sich öffentlich zu blamieren mit unausgegorenen Druckwerken voller in ihren Konsequenzen nicht durchschauter Gedanken. Eine Nebenwirkung ist Rufschädigung des Mediums Buch, das sich schon etwas mehr Reichweite vornehmen sollte als die Tageszeitung, die morgen so alt ist wie nichts auf der Welt. Wird Günther Drommer all die langfristig vereinbarten PR-Termine für sein nun eigentlich nicht einmal mehr Makulaturwert habendes Pamphlet absagen? Oder reist er, um zu referieren: Ich habe geirrt, ich war voreilig, ich war übereifrig?. Entschuldigt er sich für seine dumpfen Attacken gegen Werner Liersch? Das Buch jedenfalls gehört umgehend vom Markt genommen.


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