Arthur Eloesser und Alfons Paquet (2)

„Es ist denkbar, dass Eloesser sein Urteil aus ihm vertrauter, aber nicht preisgegebener Quelle bezog, ohne zusätzliche Informationen bleibt es Spekulation.“ So schrieb ich vor Jahresfrist und bin inzwischen belehrt. Denn genau drei Tage vor seinem Beitrag in der „Literarischen Umschau“ der Vossischen Zeitung publizierte „Das literarische Echo“ seine Arbeit „Alfons Paquet“. Die von Josef Ettlinger (22. Oktober 1869 – 2. Februar 1912) begründete, nach Ettlingers frühem Tod von Ernst Heilborn (10. Juni 1867 – 16. Mai 1942) weitergeführte „Halbmonatsschrift für Literaturfreunde“, wie sie sich im Untertitel nannte, gab Eloesser seit 1906 immer wieder Gelegenheit, gedruckt an die Öffentlichkeit zu treten. Das umso mehr, seit er 1908, genauer: seit dem 15. Oktober 1908, in der Rubrik „Echo der Bühnen“ von Aufführungen Berliner Theater berichtete. Das letzte derartige Referat von ihm erschien am 1. April 1913. Am 1. Oktober 1912 aber konnten Literaturfreunde lesen, was er über den Roman „Kamerad Fleming“ sowie über drei Gedichtbände Paquets zu sagen hatte: es war nicht wenig. Und, auffallend, gar nichts von dem, was dann am 4. Oktober in der Vossischen Zeitung zu lesen war. Heute haben Autoren keine Hemmung, eine einsame Theaterkritik als Nachtkritik und dann noch in zwei bis drei Zeitungen wortgleich erscheinen zu lassen. Weil die jeweiligen Redaktionen das tolerieren. Den Schaden haben Buch oder Theater: Vielfalt war gestern.

Dass Arthur Eloesser Alfons Paquet auch als Romanschriftsteller schätzte, wissen wir aus der Vossischen Zeitung vom 4. Oktober 1912. „Alfons Paquet hat auch einen der interessantesten Romane geschrieben, die in den letzten Jahren erschienen sind. Im „Kamerad Flemming“ begräbt er gewisse jugendliche Schwärmereien, aber man ist sicher, dass auch seine Reise schwärmerisch bleiben wird, dass sie als eine fruchtbare männliche Kraft zu verwerten bleibt.“ So hieß es dort, der Titel des Romans war dummerweise falsch geschrieben. Dass der Kritiker mit damals schon langjährigen Erfahrungen beim Auswählen von Fortsetzungsromanen für die Vossische Zeitung das Angebot oft besser kannte, als ihm lieb war, darf man aus dem Beginn seines Beitrags zu Paquet in „Das literarische Echo“ zwanglos folgern: „Unter vielen wilden oder melancholischen, eleganten oder athletischen, unter buhlerischen und gleisnerischen Büchern schmückender Eitelkeit und protzig gebrüsteter Einzigkeit, die den Leser kitzeln oder erschrecken, den Kritiker herausfordern und die Antwort nicht abwarten können, fand ich einen Roman, der einfach da war, der in seinem Eigenwuchs gar keiner Zustimmung zu bedürfen schien.“ Dass „Kamerad Fleming“ am Ende ein Unikat in Paquets Gesamtwerk blieb, konnte Eloesser 1912 natürlich nicht ahnen. So weit bisher bekannt, ist er bis zu seiner Literaturgeschichte auch nicht wieder auf ihn zurückgekommen.

Zwar gab es 1923 noch „Die Prophezeiungen“, die im zweiten Band von „Gesammelte Werke“ (Die Nyland-Bücher) als Roman bezeichnet sind und „Fluggast über Europa“, im Untertitel „Ein Roman der langen Strecken“. Das im engeren Sinne Epische war aber, überblickt man die lange Liste seiner Bücher, tatsächlich nicht seine Sache. Aber es kam, Eloesser sah das klar, auch diesen Büchern natürlich erkennbar zugute. „Ich sonderte ihn von der lärmenden Gesellschaft, tat ihn in eine Reisetasche, las ihn noch einmal am Meer in einer ruhigen Stunde und weiß heute noch nicht, ob das ein guter oder schlechter Roman, ob das überhaupt ein Roman ist.“ Die ruhige Stunde am Meer muss an der Ostsee gewesen sein. Nach einem Aufenthalt in Schweden 1912 hielt er sich dort auf, genauere Reisedaten sind wie so vieles aus Eloessers Leben nicht bekannt. „Kamerad Fleming“ umfasste in der Original-Ausgabe von 1911, Verlag Rütten & Loening, 280 Seiten, eine Ausgabe der Deutschen Buch-Gemeinschaft 1926 brachte es auf 386 Seiten, der Neudruck von 2004 hat 214 Seiten. 1926 schrieb schon jener Hanns Martin Elster ein Geleitwort, der 1970 die drei Bände „Gesammelte Werke“ einleitete mit „Alfons Paquet. Leben und Werk“, immerhin 26 Seiten lang. Elster war am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten, was nach 1945 nur in der Sowjetischen Zone und dann in der DDR Wirkungen zeigte, im Westen lebte und wirkte er, als wäre nie etwas gewesen.

Eloesser referiert den Inhalt des Buches, in dem ein junger Deutscher nach Paris kommt. Das allein macht zweifellos den Roman für den Paris-Kenner schon interessant. Der Mann kommt dorthin, weil er sich angelockt sieht durch die Unruhen, die nach der Hinrichtung des Spaniers Ferrer ausbrachen. Es handelte sich um Francisco Ferrer y Guardia (14. Januar 1859 – 13. Oktober 1909), von Hause aus Lehrer, dem eine Führungsrolle in der so genannten Semana Tragica in Barcelona und Umgebung zugeschrieben wurde. Von 15.000 Demonstranten ist zu lesen, die sich aus Protest vor der spanischen Botschaft versammelten, die dann auch gestürmt wurde. Es war auch ein frühes europäisches Medienereignis. Im Wikipedia-Eintrag zu Ferrer ist Paquets Roman als Literatur genannt, allerdings nur der schon genannte Neudruck (Edition AV) mit einem Essay von Oliver M. Piecha, der auch eine seltsamerweise nirgends lieferbare Paquet-Biographie verfasste. Ferrer war 15 Jahre lang im Pariser Exil. Der Kritiker Eloesser zweifelt nicht nur, dass der Roman einer sei, er sieht in dem jungen Deutschen auch keinen eigentlichen Romanhelden. „Er kam auch nicht nach Paris wegen der Venus von Milo, oder um auf dem Boulevard zu flanieren. Der junge Deutsche will Priester werden … Dieser kühne zarte Phantast voll abstrakter Liebe und sehnender unentwickelter Fruchtbarkeit hat also gar keine Anlage zum Romanhelden.“ Wird aber unterm Strich doch einer.

Es lohnt sich, genau hinzuhören, was Eloesser über diesen Nicht-Helden sagt: „In seiner Bescheidenheit versäumt er sogar, uns einen bestimmten Inhalt seiner Ideen anzuvertrauen. - Aber dieser junge Deutsche hat statt der Programme eine Seele wie aus dem Mittelalter.“ Der junge Mann in Paris erschießt einen angreifenden Polizeihund: „Am andern Tage ist er ein Held der sozialistischen Zeitungen … müsste man die humoristisch gestaltende Ironie bewundern, die auf das pathetische Erfindungs- und Vortragstalent der nach Melodramen unersättlichen Franzosen angewandt wird. Aber die Heiligen haben selten Humor und die Ironie setzt Überheblichkeit voraus.“ Was für ein lapidarer Satz: Ironie setzt Überheblichkeit voraus. Will Arthur Eloesser en passant einen neuen Gesichtspunkt in die Bewertung der Romantik einführen oder war deren Ironie eine andere? „… ich finde es nicht nur nach Romangesetzen, sondern auch aus innerlichen Gründen unbillig, dass der junge Deutsche schon beseitigt wird, nachdem er kaum angefangen hat sich zu klären und aufzuklären. … Die Wurzeln seiner Entwicklung liegen nicht alle in dem knappen Bezirk des Romans, aber man spürt, dass sie echt und fruchtbar vorhanden sind in dem Autor selbst“. Und weiter: „Denn wir sind einem Schriftsteller von Rang begegnet, der über seine Feder genau verfügt und der an dieser Stelle nicht mehr sagen wollte.“ Was fehlt, fehlt also voller Absicht.

Ein Fazit zum Roman führt zum Einstieg zurück: „Das Buch bläst keinen Sturm, wirkt nicht für interessante Unreife“. Und damit kann der Kritiker zu den Gedichten übergehen. „Paquet hat drei Bände Gedichte geschrieben; wir werden ihn also schon zu fassen bekommen. In der Lyrik erzählt man doch vom eigenen Ich, vom Liebchen, das man fand, vom Gott, mit dem man haderte, von seinen ersten Verzweiflungen und von seinen letzten Hoffnungen. … einer von den neuen Wanderern, die zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt sind. … Aber Paquet lässt uns wieder im Stich, weil er ein neuer Mensch ist, und der hat noch keine Form und keine Geschichte. Es ist einer von den wenigen Fällen, die mich an den neuen Menschen glauben machen“. Was ja zugleich auch bedeutet, dass Eloesser in der Mehrzahl aller Fälle mit dem neuen Menschen, mehr noch mit dem Reden vom neuen Menschen, nicht viel anfangen kann. Und wieder legt er einen Satz nach mit deutlicher Sprengkraft: „Ohne konservative Instinkte lässt sich eine Künstlerschaft kaum denken.“ Hat sich da etwas grundlegend geändert inzwischen oder lag der Kritiker schon damals fundamental falsch? „Was Paquet vorschwebt, ist eine unpersönliche Lyrik, eine Selbstdarstellung allgemein ausgeteilten menschlichen Schicksals, eine Art chorischer Poesie, die der Einzelne, der Dichter führt, die aber die Gesamtheit trägt.“ Eloesser zieht eine Linie vor allem zu Walt Whitman.

„Wer eine Strophe baut, zerschneidet schon die Unendlichkeit des Rhythmus. Paquet hat von Walt Whitman die langen Zeilen übernommen, die an unendlich sich abwickelnde Telegraphenbänder erinnern. Wie Whitman sucht er die Schicksalslosigkeit, die Universalität des Unpersönlichen und das Gedicht soll dahingehen in langem Zuge mit unendlichem Atem, wie der Wind durch die Prärie.“ Was nicht ausschloss, dass Paquet auch anders dichten konnte. „Paquet hat auch Gedichte im alten Sinn geschrieben mit Strophen und Reimen, die das Muster Verhaeren wohl ermutigt hat, aber auch sie haben einen neuen Ton, ein unabhängigeres Wesen. Der Reim kommt wie unversehens, er maßt sich nicht an, die Gedanken nach dem Gleichklang zu richten und die Strophe fügt sich nicht der besonderen aristokratischen Syntax, die mit der Prosa keine Gemeinsamkeit haben möchte. Aber das Entscheidende bei ihm sind die freien, die amerikanischen von allen Energien und Bewegungen vollgesaugten Rhythmen, die sich in fortgesetzten Explosionen entladen.“ Beiden Arten zollt Eloesser Lob, das er sofort wieder einschränkt. „Sie sind grandios bei Paquet … aber ich vermag das gesetzmäßige, das Notwendige dieser neuen Freiheit nicht zu erkennen. Ich glaube nicht an ihre Zukunft, weil das Gedicht aus innerlichem Formtrieb sich doch wieder absondern, verhärten, vereinzeln muss, unnahbar und selig in sich selbst ruhen will.“

Noch mehr glaubt der Kritiker: „Die Natur macht keine Punkte, aber die Kunst; die Unendlichkeit beschreibt sich nicht durch die Länge der ineinander verfließenden Zeilen.“ Es ist die bis heute nicht ausgestandene Debatte über strukturelle Analogien: Muss Langeweile langweilen oder darf sie auch spannend über die Bühne gehen? „Paquet fühlt die Notwendigkeit oder die Verpflichtung, eine noch unentdeckte Wirklichkeit neu zu redigieren, den Dingen statt der alten Symbole neue exakte Namen zu geben.“ Dagegen ist nichts einzuwenden. „Die Dichter sollen die Einheit schaffen, das Gemeinsame verkünden und dazu ihre Seele an die Brüder verlieren. Es wird ihnen nicht gelingen, weder Paquet noch einem anderen, der gerade durch diese Mission sehr literarisch geworden ist.“ Und genau dort widerspricht ihm der Kritiker: „Es ist dem Dichter nicht beschieden, schicksalslos zu sein, und er wird sein Reich um so breiter gründen, je stärker er sein Selbst bewahrt mit den souveränen Ansprüchen, die jeden tributpflichtig machen. Die Künstler … eignen sich nur zu Königen, nicht zu Präsidenten.“ Es scheint, als wolle Eloesser dem Dichter die ewige Wiederkehr des Gleichen als seine Welt zuordnen: „Der Dichter ist zu alt und zu weise, um neue Verhältnisse zu erleben, wenn auch der Mensch von heute fliegt oder auf Ätherwellen schreibt.“ Es bleibt für mich die Frage, ob die Gedichte Alfons Paquets tatsächlich solche Schlüsse nach sich ziehen, oder nicht.


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