Hermann Harry Schmitz: Reisen und andere Katastrophen

Die Geschichte ist ein Pointendieb. Nicht immer, nicht einmal immer öfter, aber immerhin oft genug. Als Matthias Biskupek vor einem Vierteljahrhundert sich hinreißen ließ, gegen ein geringes Entgelt selbstredend, den 1987 im Eulenspiegel Verlag erschienenen Band „Wie ich mich entschloß auf Händen zu gehen“, 30 Katastrophengeschichten enthaltend, endunterzeichnend einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, rechnete er, ein guter, wenngleich parteiloser Bürger, mit der Fortexistenz seines sozialistischen Vaterlandes. Deshalb leistete er sich den Scherz, dass eine dritte DDR-Schmitz-Ausgabe, zwanzig Jahre später, die erste erschien 1965 ebenfalls im Eulenspiegel Verlag, wohl wieder auf das schon traditionell bewährte Nachwort von Alice und Karl Heinz Berger zurückgreifen wird – und natürlich wiederum ohne Quellenangabe. Mangels DDR blieb der Nachweis hellseherischer Fähigkeiten des Literatouristikers aber ungeführt.

Ich habe seinerzeit weder die erste noch die zweite Schmitz-Ausgabe erworben und gelesen, was mich einigermaßen wundert, zumal es Nachauflagen gab, vielleicht lag es an den Illustrationen von Horst Hussel, die mich immer irgendwie bei Kaufentscheidungen negativ beeinflussten, obwohl er, wie ich verschmitzt anmerke, natürlich ein Bedeutender war. Nachdem ich so den kaum vermeidlichen Kalauer halbwegs geschickt platziert habe, halte ich noch fest, dass Fritz Woehlert, den ich im Gegensatz zu Matthias Biskupek nicht kenne, vor einem Vierteljahrhundert ebenfalls die Ausgabe mit dem wiederverwendeten Nachwort von Alice und Karl Heinz las. Für eine Besprechung der Woehlertschen Länge in „Junge Welt“ gab es, wie ich aus Erfahrung weiß, neunzig Ostmark. Nach Woehlert schrieb sich Schmitz Mief und Muff des kaiserlichen Deutschands von der Seele. Und der erste Weltkrieg, immer noch nach Woehlert, bestätigte, wieviel Vorahnung in Schmitz steckte.

Wir können, meine ich, noch heute froh sein über den Ausbruch dieses Krieges, sonst würden uns die Düsseldorfer Katastrophen des im Jahr 1880 geborenen Hermann Harry irgendwie nicht richtig bedeutungsschwanger erscheinen. 1880 erblickten, um neben dem Kalauer auch das Element der Fortbildung unauffällig zu platzieren, unter anderem noch diese in deutscher Sprache Schreibenden das Licht der Mief-und-Muff-Welt: Julius Bab, Waldemar Bonsels, Paul Fechter, Otto Flake, Friedrich Gundolf, Franz Hessel, Herrmann Kesser, Victor Kraft, Theodor Litt, Walter von Molo, Robert Musil, Oswald Spengler, Otto Weininger. Um Vergebung, ich habe von allen diesen mehr oder minder viel gelesen, ehe ich die allererste Zeile von Hermann Harry Schmitz las. Was ich mit dem heutigen Tag öffentlich und beknirscht bedaure. „Der Untergang des Abendlandes“, um nur den Spengler herauszugreifen, ist schwerstverdaulich, „Der Wiener Kreis“ von Victor Kraft leitet zum Ursprung des Neopositivismus, was heute, jugendlich gesprochen, auch nicht mehr der ganz große Brüller ist. Bei Flake und bei Musil ist es wie mit Klopstock bei Lessing, falls das noch jemandem etwas sagt. Und Bonsels ohne die Biene Maja?

Jedenfalls erwarb ich eines schönes Tages als Sonderangebot drei Bände Hermann Harry Schmitz, es handelt sich um die Taschenbuch-Fassung der vollständigen Ausgabe des Züricher Haffmanns-Verlages, die bei Econ in Düsseldorf erschien und, kommt uns das nicht bekannt vor, 1996 immer noch das 87er Nachwort enthält. Herausgeber der drei Bände waren Bruno Kehrein und Michael Matzigkeit, der eine zwei Jahre älter als ich, der andere zwei Jahre jünger. Matzigkeit ist, soweit ich sehe, der beste Kenner seines Gegenstandes Hermann Harry Schmitz, 248 Seiten stark ist sein Buch „Hermann Harry Schmitz – Der Dandy vom Rhein“ (Düsseldorf, Droste). Seit 1990 gibt es in Düsseldorf eine „Societät“, die als Jahresbeitrag 42,42 Euro nimmt und nach Kräften dafür sorgt, dass Hermann Harry nicht vergessen wird. Sechsundzwanzig Quadratmeter Ausstellungsfläche im Uhrturm gelten ihm seit September 2007 und in diesem Jahr 2013 ist, für seine Freunde und Fans, eben das Hermann-Harry-Schmitz-Jahr. Das freilich vom Wagner-Jahr, vom Büchner-Jahr, vom Hebbel-Jahr und vom Otto-Ludwig-Jahr doch einigermaßen schnöde überlagert wird.

Die Rheinische Post, welche Zeitung auch sonst, hat an Hermann Harry gedacht. Dass es nicht landauf, landab eine Welle von Jubiläumsartikeln gibt zum heutigen hundertsten Todestag, hat auch damit zu tun, dass die immer genannten Gewährsmänner für die Qualitäten Schmitz', also Hanns Heinz Ewers und Herbert Eulenberg, nun auch nicht gerade die Namen sind, die einem breiteren Publikum ein Ah und ein Oh entlocken. Ewers hat seinen Freund Schmitz in seinem „Führer durch die moderne Literatur“ noch nicht einmal erwähnt, weil der 1906 erschien und da hatte Schmitz mal eben gerade seinen ersten Text im „Simplicissimus“ untergebracht. Schlimm ist das freilich nicht, denn es gibt einen Effekt, der unweigerlich funktioniert: Man muss einen Schmitz probehalber lesen. Wie sich die Katastrophen aufschaukeln! Wer je Loriot beobachtet hat an einem schief hängenden Bild und nicht lange später steht der Weltuntergang drohend ins Haus, der weiß nach der Lektüre von Schmitz Original und, nennen wir es: schöpferische Aneignung, zu unterscheiden. Zu „Reisen und andere Katastrophen“, dem mittleren der drei Schmitz-Bände, habe ich gegriffen, weil ich auf seine Reisen neugierig war. Das war eine schlechte Idee und wurde eine gute.

Spätestens in Ventimiglia hatte mich Hermann Harry Schmitz gefangen: „Es ist ein satanisches Vergnügen, als Unbeteiligter einer Zollrevision zuzuschauen.“ Wer kann das besser nachfühlen, als ein aktueller oder ehemaliger DDR-Bürger, der wachsbleich im Achter-Abteil der Deutschen Reichsbahn, II. Klasse, sitzt, während sich dieser Vindobona-Express der Grenze nähert und im Gepäck befindet sich ein in der Budapester Váci utca illegal erworbener Westschmöker, und die Zollwalküre des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates lässt den Nebenmann seine Zahnpastatuben ausdrücken vor aller Augen. „Wenn die Russen erscheinen, bekommt man das Fürchten.“ Das kennen nun wieder alle Altbundesbürger aus ihren traditionellen Urlaubsgebieten an diversen Costas, diese letztlich von Gorbatschow verursachte Flutung des Westens mit neureichen Russen. Bei Schmitz waren es freilich noch bärtige Revolutionäre, die halbe Hotelfoyers das Fürchten lehrten. „Den Tee bestellen sie mit der tragischen Gebärde, als ob der Untergang Rußlands  durch diese Handlung besiegelt würde.“

„Man soll nach Florenz auf Rom verzichten, oder aber ohne jede Erwartung auf eine außergewöhnliche Sensation an den Tiber kommen.“ Wer freilich mit gewöhnlichen Sensationen zufrieden ist wie der, dass man in Rom eine Küche erleben kann, die so schlecht ist, dass man sich gar nicht in Italien glaubt, außerdem ist die Bedienung offenbar berufsfremd und ahnt nur ansatzweise, dass Touristen in einem Gasthaus gemeinhin etwas essen und/oder trinken wollen, der sollte durchaus Rom nicht meiden. Doch darum ging es weiland Hermann Harry natürlich nicht. Ihm fiel, als er das Urbild der Rom besuchenden deutschen Kleinstädterin sah, Sangerhausen ein. Was wird man wohl in Düsseldorf vor dem Kriege über Sangerhausen gewusst haben? Ich zumindest bin auf Fahrten zwischen dem Norden und dem heute zur Mitte gewordenen Süden bisweilen durch Sangerhausen gefahren, was fahrplantechnische Gründe hatte. Mitten in meiner intensivsten Fahrzeit erschien „Das Erdbeben bei Sangerhausen und andere Geschichten“. Das war aber von Helga Schütz, von der ich nicht weiß, ob sie Hermann Harry kannte.

„Ich möchte auf Capri keine alte Frau und kein Pferd sein.“ Schmitz beobachtete Lastenträgerinnen, die schwerste Koffer auf dem Kopf transportierten. Seine Folgerung: „Die Legende vom schwachen Geschlecht wird auf Capri ad absurdum gefährt.“ In Italien ist Schmitz auch Como begegnet: „Como sieht am Bahnhof aus wie Oberbilk. Außerdem hat Como eine elektrische Bahn, die gerade so wie bei uns nie kommt, wenn man sie braucht, oder aber besetzt ist, oder nach Chiasso fährt, wo man nicht hin will.“ In Oberbilk heißt heute was nach Hermann Harry, so weit ich weiß und nach Como kann man auch prima mit dem Schiff kommen. Freilich nicht direkt aus Düsseldorf, wohl aber aus Dongo, was ich probiert habe. Schmitz jedoch beharrt darauf: „Ich rate jedem, der einen guten Eindruck von Como haben will, überhaupt nicht hinzugehen, oder wenigstens in Como nicht zuerst den geweihten Boden Italiens zu betreten, es überhaupt in allen Dingen nicht so zu machen wie ich.“ Mein Erstkontakt mit Como vermittelte den Eindruck einer sich auflösenden Mai-Demonstration, was für einen Samstagnachmittag einigermaßen erstaunlich wirkte. Dafür hatte Schmitz keine Spiegelreflex bei sich, die wegen eines Elektronik-Defekts den Dienst verweigerte.

Nun habe ich immer noch nichts vom Holzbein geschrieben, aus dem man sich Zahnstocher schnitzen kann. Nichts vom verschluckten Augapfel, der den Weg bis zum Arsch nimmt und unterwegs dem Kopf eines Bandwurms begegnet, mit dem er ein artiges Gespräch führt. Den Thüringer Leser mache ich immerhin neugierig, indem ich den Satz „Eines Tages saß ich im Zug nach Jena.“ zitiere. „Im Santorium“ verdiente eine vergleichende Studie mit den bisweilen noch heute Briefkästen füllenden Werbeprospekten für bestimmte medizinische Wundermittel. Schmitz hat die volle Absurdität jener frei erfundenen zufriedenen Patienten schon vor hundert Jahren so aufgespießt, dass normalerweise nie wieder dergleichen geschrieben worden sein dürfte. Aber Satire hat eben neben der Belustigung eine uralte Hauptwirkung: sie bleibt wirkungslos. Nur vollidiotische Diktaturen jeglicher Farbnuancierung glauben das Gegenteil und verschaffen so den gefolterten Satirikern wenigstens Nachruhm im jeweils nachfolgenden System, den schönen Opferruhm.

Um noch einmal auf Loriot zu kommen, Schmitz: „Man gibt mit Spinat an der Backe keine besonders glückliche Figur ab.“ Mit Nudel am Kinn auch nicht, wobei selbst die Nudel, freilich unterm Tisch, auch bei Hermann Harry schon eine erquickliche Hauptrolle spielte. Als er sich umtat, wohin er in die Sommerfrische fahren könnte, überlegte er schriftlich: „Nach Thüringen – da sind mir zu viele Berliner.“ Und: „In die Schweiz – da geht jetzt jeder hin, außerdem hat man die Schererei mit dem fremden Geld und der Verzollung.“ Das soll so stehen bleiben. Die beiden anderen Bände heißen „Die Bluse und andere Grotesken“ und „Der Ästhet und andere Tragikomödien“. Von denen sage ich hier nichts. Zu Lebzeiten erschien, immerhin bei Rowohlt und dann bei Kurt Wolff, nur ein einziges Buch von Hermann Harry Schmitz. Als er nach vielen langen und schmerzhaften Krankheiten wähnte, eventuell verrückt zu werden, es gab noch keine Patientenverfügung, wollte er auf keinen Fall in irgendeiner Anstalt wie ein Gepäckstück verwahrt werden. Er erschoss sich. Genau heute vor hundert Jahren. Es muss eine ziemliche Sauerei gewesen sein, die er mit dem Kopfschuss hinterließ.


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