Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, Schillers Schwager

Edward M. Batley, Jahrgang 1935, Professor aus London, hat 1984 eine Konferenz der Friedrich-Schiller-Universität in Jena aus Anlass des 225. Geburtstages von Schiller dazu genutzt, sich dem Thema „Zur Problematik der Glaubwürdigkeit der Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Marquis-Posa-Figur in Schillers „Don Carlos“ und der „Maltheser“ - Fragmente“ zuzuwenden. Gleich mit dem ersten Satz hat er seine eigene Glaubwürdigkeit fraglich gemacht. Der Satz lautet: „Am 9. Dezember 1782 bat Schiller seinen jungen Freund Reinwald um die Zusendung einiger Bücher.“ Ob Herausgeber, Korrektoren und Lektoren, die mit der in der DDR üblichen Verspätung von Jahren die Materialien 1987 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschienen ließen, auf besonders subtile Weise auf englische Schlamperei hinweisen wollten, indem sie den Fehler stehen ließen, oder ob sie, in all den Jahren, diesen Fehler schlicht übersahen, weiß ich nicht. Tatsache ist und bleibt, dass Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, geboren am 11. August 1737 in Wasungen, reichlich 22 Jahre älter als Schiller war und auch bis an sein Lebensende blieb.

Kaum ein Schiller-Buch, in dem sein Name nicht auftaucht, wenn auch manchmal nur als Adressat von Schiller-Briefen. Überliefert sind 57 davon, 61 bezeugt, vier also verloren. Der genannte Brief war der zweite, der erste eher ein Billett. Die Statistik insgesamt: 4 für 1782, 20 für 1783, 1 für 1784, 3 für 1786, 1 für 1787, 3 für 1788, 2 für 1789, 4 für 1793, 5 für 1794, 6 für 1796, 1 für 1797, 2 für 1798, 1 für 1799, 1 für 1800, 1 für 1801, 1 für 1802, 1 für 1804. Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, dem am Ende fünf Tage zum Erreichen des 78. Geburtstages fehlten, er starb am 6. August 1815, hat einmal eine kurze und einmal eine deutliche längere Rolle in Schillers Leben gespielt. Ohne die kurze hätte es die längere nie gegeben. Reinwald war Schillers Mann in Bauerbach. Das Dörfchen nahe Meiningen gehörte Henriette von Wolzogen, die dem Flüchtling Schiller Obdach gewährte in ihrem Fachwerkhaus, der Bibliothekar Reinwald, wie er meist verkürzend genannt wird, hatte von ihr den ausdrücklichen Auftrag, sich um den als Dr. Ritter inkognito reisenden Schiller zu kümmern. Er tat das nach Kräften, er sorgte für Bücher, für Papier, für Schnupftabak, auch für Geld und Ordnung. Er war phasenweise die einzige echte Kontaktperson für den Dichter, man korrespondierte und man traf sich auch. Den Schnupftabak ließen die feineren Schiller-Biographen früher gern weg, heute steht er fast an erster Stelle.

Einmal besuchte ihn Schiller in Meiningen in seiner Junggesellen-Wohnung und weil der Hausherr nicht da war, so die Überlieferung, überbrückte Schiller die Zeit mit dem Lesen von Briefen, die er bei sich führte. Just diese Briefe ließ er dann liegen, der Bibliothekar Reinwald fand sie und las sie und besonders das, was Schillers Schwester Christophine an ihren Bruder geschrieben hatte, erregte mehr als nur seine Aufmerksamkeit. Wohl machte er aus seiner seltsamen Indiskretion kein Geheimnis, als er seinerseits einen Brief an Christophine zu Papier brachte, dass daraus am Ende aber ein Ehebund werden würde, war da noch nicht abzusehen. Der Helfer des Flüchtlings Friedrich Schiller verwandelte sich in einem überschaubaren Zeitraum in den Schwager des Klassikers, man übertreibt nicht einmal sehr, wenn man hinzufügt, aus dem Helfer wurde auch ein Mitarbeiter. Wenn auch in der Schiller-Literatur gern und dezidiert darauf hingewiesen wird, dass Reinwalds eigene Dichtungen wenig bedeutend waren, zwei separate Sammlungen waren schon erschienen, ehe sich beide kennen lernten, so war doch nicht, was Reinwald schrieb, so schlecht, als dass es nicht für verschiedene von Schiller immer kurzzeitig, aber in Summe wegen der zu erwartenden Einnahmen ausdauernd, herausgegebenen Periodika verwendbar gewesen wäre.

Reinwalds Unglück, wenn man es ein wenig reißerisch formulieren will, war, dass sich für ihn selbst als Tropfen im Schiller-Meer nie jemand so recht interessieren wollte. Des langen und breiten, öfter des kurzen und knappen, wird sein Charakter geschildert, fast steißtrommlerisch taucht immer dasselbe Vokabular auf, als schriebe einer vom anderen ab oder eine vom anderen, was ebenfalls bisweilen vorkommen soll. Misanthropie, Hypochondrie, Sparsamkeit bis zum Geiz, Ungeselligkeit, Unbeweglichkeit, Pedanterie – jeder, der dem Guten, Schönen und Edlen zugeneigt ist, muss nach Abschilderung dieses Charakters vom Grausen erfasst sein und sofort in volles und ungehemmtes Mitleid für Schillers Schwester fallen, die dies und ihn über viele Jahr, fast drei Jahrzehnte, ertrug. Doch nicht nur vom wissenschaftlichen Standpunkt ist ein Personenporträt mehr als fragwürdig, dass sich fast ausschließlich auf den Charakter der Person fokussiert. Auch alle mehr journalistischen Darstellungen vernachlässigen ihr Berufsethos, wenn sie auf Gegenrecherche verzichten, wenn sie keine Quellenkritik treiben und sich einfach keine Fragen stellen, wo diese Fragen gewissermaßen auf der Hand liegen. Im Falle Reinwalds gibt es verwendbares Material. Im Falle Reinwalds gibt es auch Textvorgaben, die zeigen, dass es geht.

Manchmal aber, und hier soll ein eigentlich über jeden Zweifel erhabener, ein ausgewiesener und viel gelobter Autor als Beispiel dienen, führt schon der gewählte Titel seinen Verfasser in die Irre. Dieter Hildebrandt, nicht zu verwechseln mit Dieter Hildebrandt, was beide bei jeder passenden Gelegenheit betonten, solange noch beide lebten, veröffentlichte 2009 sein Buch „Schillers erste Heldin“. Aus welchem Schiller-Brief er die Anregung für diesen Titel nahm, erfährt der Leser rasch, dann aber hat er einer Darstellung des Lebens der Christophine Schiller, später Reinwald, zu folgen, die offenbar den Ehrgeiz entwickelt, aus ihr auch buchstäblich eine Heldin zu machen. Bei einem stillen Leben im Vaterhaus, später am Meininger Markt in der Ehe und schließlich noch 32 Jahre als Witwe, ist das gar nicht so einfach. Man kann den Vater, der eben auch Friedrich Schillers Vater war, zum Familientyrannen machen, dann wäre passiver Widerstand und Schutz für den kleineren Bruder so etwas wie stilles Heldentum. Nur hat eben Christophine wie parallel und teilweise in Abstimmung mit ihr auch Schillers Witwe einige Energie darauf verwandt, gerade kein schlechtes Licht auf die Familie, insbesondere den Vater, fallen zu lassen. Bliebe die Ehe.

Die muntere, die lebenslustige, die begabte und durchaus vielseitige Christophine muss eine Ehehölle erlebt haben, damit sie Heldin sein darf. Wenn das, was sie erlebte, Hölle war, dann war und ist die Welt voller Höllen mit inkludierten Heldinnen. Und automatisch eine Heldin keine mehr, denn was alle sind, ragt nicht mehr heraus und hebt sich nicht ab. Die unmittelbare Folge bei Hildebrandt ist, dass man in der Taschenbuch-Ausgabe schon an die hundert Seiten gelesen haben muss, ehe man überhaupt etwas über den Mann, die Person Reinwalds erfährt, da ist das negativ-Licht, in dem er steht, kaum noch abzuschalten. Das Merkwürdige nur: dort, wo man nach aller Küchenpsychologie am ehesten authentische Klagen über die Hölle vermuten dürfte, in den Briefen an die beste Freundin Ludovike, dort klagt sie nicht. Man hätte zu untersuchen, wann sie wem gegenüber wie klagt, müsste aber sofort fragen, welchen Gewinn eine wie auch immer geartete Erkenntnis bedeuten würde. Vielleicht wäre es einfacher anzunehmen, dass um 1800 Ehen keineswegs den Lackmustest an Friedrich Schlegels „Lucinde“ zu bestehen hatten, um zu den Guten ins Töpfchen zu gelangen. Ehe war vor allem Versorgung, wurde weithin so verstanden, Liebe war die freilich erwünschte und bei Vorhandensein gepriesene Petersilie auf der Kartoffel.

Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald schlug seine Frau nicht, er machte sie auch nicht zu einer Gebärmaschine bis ins frühe Kindbettgrab. Er verfolgte sie nicht mit Eifersucht, er war ein geistig anspruchsvoller Partner. Er war allerdings vom Leben frustriert, er war allerdings nie ohne Geldsorgen, wenngleich er am Ende mit einem Hauskauf für Christophine sogar noch für Absicherung sorgte. Er war treu, er liebte sie, nur sonderlich gesellig war er nicht. Was aber bei allen abfälligen Charakteristiken, keineswegs nur bei Hildebrandt, großzügig ausgeblendet wird: dieser Reinwald war ein extrem fleißiger Mann, er hasste Geselligkeit nicht unbedingt als solche, er hasste oberflächliches Geplänkel, Small Talk, wie man das später nennen sollte, dafür war ihm seine Zeit zu schade. Schaut man sich die bis heute einzige umfassendere Darstellung dieser Seite Reinwalds an, sie stammt von Max Löwisch, einem am 3. Dezember 1866 in Apolda geborenen Oberrealschuldirektor, dessen Todesdatum unbekannt blieb (nach 1936), dann sieht man den Umfang der Arbeiten, denen sich der Bibliothekar widmete. Löwisch nennt Reinwald noch vor seinem ersten Wort zu Schiller „in der Geschichte der deutschen Sprachforschung unvergessen“. Man kann ihn mit aller Vorsicht zwischen Friedrich Carl Fulda (13. September 1724 bis 11. Dezember 1788) und den Brüdern Grimm einordnen.

Eine irgendwie geartete Rehabilitation Reinwalds ist auch aus Anlass seines 200. Todestages nicht nötig. Auf Auslassungen selbst in neueren Darstellungen darf dennoch hingewiesen werden. Dieter Hildebrandt beispielsweise ist die Kinderlosigkeit des Paares keinen Gedanken wert. Auch Annette Seemann, die mit ihrem Buch „Schillers Schwester Christophine“ ebenfalls 2009, im zweiten großen Schiller-Jahr nach 2005, herauskam, schaut auf Reinwald aus der Ehe-Perspektive seiner Frau. Sie folgt aber so treu der puren Chronologie überlieferter Briefschaften, ihr Buch ist phasenweise eher eine kommentierte Briefausgabe, weil sie eben sehr ausführlich einfach zitiert, dass mehr Aspekte ins Gesichtsfeld geraten. Das hat deutliche Vorteile. Wo nichts überliefert ist, weiß sie auch nichts zu sagen. Die Kapitel über die Jahre zwischen Schillers und Reinwalds Tod sind bei ihr wie bei Hildebrandt Verlegenheitslösungen, letztere ist unglücklicher. Auch Annette Seemann zitiert natürlich den Satz, der bei Hildebrandt den Buchtitel liefert. Und sieht ihn als unterstützenden Beleg für die These, dass Schillers frühe Dramen-Heldinnen nach Christophine gebildet sind. Das freilich kann man auch ohne den geringsten Beleg gut behaupten. Der sehr junge Schiller kannte im Zeitraum seiner frühen Bühnenwerke schlicht keine anderen weiblichen Wesen passenden Alters als seine ältere Schwester. Mit gleichem Recht kann man auch die Eheleute Miller als nach Schillers Eltern gebildet behaupten. Mit gleichem Recht wie mit gleichem Unrecht.

„Er starb den 6. August vormittags halb zehn Uhr, nachdem er vierzehn Tage zuvor an bösem Magen, geschwollenen Füßen und großer Beängstigung viel gelitten hatte. … Ich verliere an ihm einen treuen Gatten, der, seinen körperlichen Leiden unerachtet, mir doch so manche frohe Stunde durch seinen gebildeten Geist und seine vielen Kenntnisse machte, die er bis ans Ende seines Lebens noch zu vermehren suchte, welches mir so achtungswürdig war.“ So schrieb es Christophine am 10. August 1815 der Schwägerin Charlotte von Schiller. Vielleicht ist es nicht vergebens, einen Altvorderen der großen Schiller-Biographik zu zitieren, Reinhard Buchwald: „In der Geschichte der Schillerzeit lebt er gemeinhin fort als der grämliche und pedantische Haustyrann, der er später geworden ist und als der er das Leben seiner Frau unglücklich genug gemacht hat. … Reinwald war in seiner Art ein bedeutender Mensch, an dem das Schicksal alle die Launen ausgelassen hatte, die es in der absolutistischen Zeit üben durfte.“ Melitta Gerhard, die erste Frau, die in Deutschland eine akademische Lehrerlaubnis für Literaturgeschichte erhielt, erhält aus ihrer Schiller-Biographie das letzte Wort: „Ein gewisser Arbeitsernst Reinwalds und eine Empfänglichkeit für geistige Werte, die ihn auch befähigten, Schillers Bedeutung sogleich zu spüren, musste Schiller in seiner damaligen Lage den näheren Umgang mit ihm erwünscht und nutzbar machen.“


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