Puschkin und ich

Was für eine anmaßliche Überschrift! Als hätte Puschkin in meinem Leben eine auch nur irgend nennenswerte Rolle gespielt. Es gibt, äußerlich gesehen, ganze zwei Berührungspunkte, einer ist komisch, einer seltsam. Ich überlasse es meinen sechs verständnisvollsten Lesern zu entscheiden, welche Charakteristik wofür gilt. In jener Akte, die das Ministerium für Staatssicherheit über mich führte, knapp hundert Blatt nur und Deckel ohne Inhalt dazu bei meiner Akteneinsicht 1993, bin ich doppelt oder gar dreifach ausgewiesen als jemand, der Puschkins „Dubrowski“ dramatisierte. Ich hätte dies vollkommen vergessen gehabt, wenn ich nicht zu Suhl im Lesesaal der Außenstelle der damals noch nach Gauck benannten Behörde daran erinnert worden wäre.

„Dubrowski“ war Schullektüre in der siebenten Klasse, ich las das Exemplar aus der Schulbücherei im Februar 1966. Welche Lehren uns und mir dabei vermittelt wurden, habe ich vergessen, erinnerlich jedoch ist mir, dass ich während einer Krankheit, die mich zu Bettruhe zwang, auf lose Zettel Dialoge aus der Puschkin-Novelle schrieb und die meiner damaligen (heute noch lebenden) Deutschlehrerin während eines Hausbesuches vorwies, um meinen Eifer am Stoff zu demonstrieren. Später bei Formulierung einer günstiges Licht auf mich werfenden Darstellung meiner Entwicklung oder eines Lebenslaufes zu Bewerbungszwecken zählte ich auch dies mit auf und in dieser Formulierung schrieb es wieder später einer vom anderen ab in der Aktenanlagemanufaktur Schlossmauer Ilmenau beziehungsweise Bezirksdienststelle Suhl.

Wieder später, als ich den Antrag auf Akteneinsicht noch nicht gestellt, darüber aber bereits Debatten mit Freunden geführt hatte, die mir zurieten, arbeitete ich in Eisenach in der Alexanderstraße. Diese trug bis zum Bildersturm zu Füßen der Wartburg den Namen Alexander-Puschkin-Straße, wobei die Kappung des Familiennamens immerhin noch zu einem realen Alexander führte, wie ich mittlerweile sah. Damals aber konnte ich mich aus einschlägigen Erfahrungen heraus des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die übliche Üblichkeit blinden Nachvollzug gefunden hatte und ausgerechnet Puschkin, der nun wirklich weder für den Gulag verantwortlich zu machen war noch den Aufstand vom 17. Juni 1953 niedergeschlagen hatte, zum Opfer wurde, welches man später dann auch Kollateralschaden des Mauerfalls hätte nennen können.

Und Puschkin ist aus meiner Sicht bis heute Opfer geblieben. Das fängt an mit der oktroyierten Namensschreibweise westlicher Umlautschreibungsdiktate, die einen allseits bekannten Tschechow in ein unbekanntes Wesen verwandeln und manche Namen aus dem kyrillischen Sprachraum so maximal verunstalten, dass kein Suchprogramm eines Normalcomputers die einschlägigen Fundstellen findet, falls man diesen Philologenblödsinn nachvollzieht. Dann schreibt der eine Kritiker, es sei eine neue sehr gut lesbare Puschkin-Biografie erschienen und der andere erklärt zu genau dieser, dass sie nicht Neues enthalte. Es kursieren mindestens drei Todesdaten in der einschlägigen Literatur, wobei sich die entsprechenden Publikationen nicht einmal die Mühe machen, auf die Unterschiede zwischen julianischem und gregorianischem Kalender hinzuweisen, die schon uns in der Schule irritierten, weil die Oktoberrevolution im November stattfand. Wir lernten das ungefragt, weil unsere Lehrer damals noch keinen schriftlichen Antrag bei unseren Eltern einreichen mussten, ob diese erlauben, dass diese Lehrer uns, konfrontativ vor uns stehend, etwas beibringen dürften.

Ansonsten war Puschkin natürlich schon zu Lebzeiten fast so etwas in Personalunion wie hierzulande das Doppelwesen GoetheSchiller. Als er am 29. Januar 1838 verblutet war infolge seiner Duell-Schussverletzung vom 27. Januar, wollten so viele Menschen den aufgebahrten Leichnam des Dichters sehen und sich von ihm verabschieden, dass in seinem Haus eine Wand herausgerissen werden musste, um allen den einigermaßen freien Zutritt zu ermöglichen. Dem Zaren, ist nachzulesen, gefiel das Totenkleid nicht, er hätte Puschkin lieber in einer Uniform gewusst. Als ob Uniformen aus Dichtern Uniformierte je machen würden.

Mein Exemplar von „Mozart und Salieri“, ich las die vier kleinen Tragödien in der Übersetzung von Fritz Mierau zuerst im August 1978, ist voller kleiner Ausrufezeichen und Anstreichungen. Daniil Granin ist in dieser vorbildlichen Ausgabe mit dem langen Essay „Die hohe Gabe“ vertreten, jener Granin, dessen kurze Erzählung „Die eigene Meinung“ mir in DDR-Zeiten halbe Bibliotheken systemkritischer Dünnbrettbohrerei ersetzte. Er zitiert Puschkin: „Man fordert, die Kritik solle sich ausschließlich mit Werken von offensichtlichem Rang befassen; ich bin nicht der Meinung. Es gibt Bücher, die an sich unbedeutend sind, aber bemerkenswert werden können wegen ihres Erfolgs oder Einflusses, und in diesem Fall sind dann ethische Beobachtungen wichtiger als literarische.“ Ja, im Angesicht eines solchen Diktums ist meine anmaßliche Überschrift dann doch wieder in etwas freundlicherem Licht zu sehen. Denn Puschkin provoziert mich mit einer solchen Aussage zur Selbstrevision. Ich sehe nicht nur ausnahmsweise die literarische Beobachtung vor der ethischen, mehrere Texte gerade zu erfolg- und einflussreichen Autoren, die ich ins Netz stellte, belegen das. Puschkin hat natürlich nicht nur seine Autorität für sich, es ist einfach richtig, was er schrieb. Der Witz liegt nur darin, dass das eine das andere nicht ausschließt.

Ich will, ehe ich schließe, noch einen heranziehen, der 1925 ein Vorwort zu einer englischen Puschkinausgabe begann und damit zu keinem Ende kam. „Was das Ausmaß von Puschkins Schaffen betrifft, so kommt er Goethe am nächsten“, lese ich dort, „wenn man jedoch von den wissenschaftlichen Interessen und Hypothesen des letzteren absieht, zeigt sich, daß das Schaffen Puschkins die Gesamtleistung des deutschen Olympiers an Vielfalt und Breite übertraf.“ Das wird nicht jedem Freund des deutschen Olympiers gleichermaßen schmecken, auch wenn er bei dem abschließenden Satz des Vorworts dann wieder neutral nicken kann. Der lautet: „Für den Literaturhistoriker gibt es kein bedeutenderes und märchenhafteres Thema als das Leben und Schaffen Puschkins.“ Es wäre eine gesonderte Erörterung Wert, in dieses Ineinander von Bedeutsamkeit und Märchenhaftigkeit tiefer einzudringen. Der dies alles schrieb und behauptete, ist unter dem Namen Maxim Gorki bis heute weltberühmt. Wenn, dies endgültig zum Schluss, 1989 die DDR nicht ihre finale Verpuffung erlebt hätte, hätte ich mich zum Zwecke einer Buchbesprechung durch Juri Lotmans große Puschkin-Biographie gewühlt, die noch bei Reclam Leipzig erschien. Dann aber rief schon bald die Alexanderstraße. Was am heutigen 175. Todestag Puschkins wenigstens erwähnt werden darf.


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