Albert Paris Gütersloh 125

In diesen Breiten gab es Zeiten, da es Bücher gab, die es nicht gab. Man suchte sie, man rannte nach ihnen, man schaute an Stellen nach, die das größere Publikum nicht kannte oder aus Gründen mied. So gab es zu Berlin, Hauptstadt der DDR, einen Ort nahe der Botschaft der UdSSR Unter den Linden, da man sich mit verschiedenen Broschüren und Büchern versorgen konnte. Vieles durfte man sich einfach mitnehmen, manches musste auch bezahlt werden. Und dort fiel mir eines Tages ein graugrüner Band in die Hände ohne Schutzumschlag und innen mit dem charakteristischen Papier des Bruderlandes wie auch dem ebenso charakteristischen Schrifttyp. Das Buch verhieß „Stichproben der österreichischen Erzählkunst des 20. Jahrhunderts“ und enthielt gleich in Serie Autoren, die ich immer suchte, weil ich sie mochte oder neugierig auf sie war, ohne sie noch zu kennen, da ich manches über sie gelesen hatte.

Das Buch mit dem Titel „Österreichisches Erlebnis“, im Moskauer Verlag Progress erschienen, musste zunächst eine charakteristische Zweckentfremdung über sich ergehen lassen. Da der Band nicht für deutsche Leser gemacht war, sondern für sowjetische, enthielt er zwar alle literarischen Texte in deutscher Sprache, doch vorn stand ein Vorwort in russischer und hinten gab es ein Glossar zur Erläuterung solcher Wörter, die im österreichischen Gebrauch vom deutschen abweichen oder gar unbekannt sind. Ich unternahm für meinen Pflichtkurs Russisch, der zum Studium gehörte, den verzweifelten Versuch, das Vorwort ins Deutsche zu übersetzen, womit ich letztlich kläglich scheiterte, was ich natürlich nicht mir, sondern dem Buch ankreidete, das ich fortan durch Missachtung und einen schlechten Platz im Regal bestrafte.

Sehr viel später dann las ich in einer zweibändigen Ausgabe mit österreichischen Erzählungen eine kurze, die den Titel trug „Österreichisches Erlebnis“ und mir, sie eröffnete den ersten Band, das Gefühl gab, die Herausgeber hätten einen mehr als nur guten Griff getan, genau diese wenigen Seiten an den Anfang der Sammlung zu stellen. Noch heute meine ich, man könne kaum besser die Urdifferenz zwischen Preußen und Österreich zu Literatur machen als in dieser Geschichte aus dem Krieg von 1866. Und jetzt sagte mir, wenngleich noch immer höchst vage, auch der Name des Verfassers etwas: Albert Paris Gütersloh. Denn er gehörte zu einem Geburtsjahrgang, nämlich 1887, dem ich aus verschiedenen Gründen besondere Zuneigung entgegenbrachte, war also Altersgefährte meines langjährigen Lieblingsautors Arnold Zweig, Altersgefährte auch von Bruno Frank, den ich viel später schätzen lernte als Zweig, dann aber sehr.

Und jetzt fiel mir auch wieder auf, dass jener graugrüne Band ja eben diesen Titel getragen hatte, ich schaute nach und natürlich bezog er sich auf die kurze Geschichte von Albert Paris Gütersloh. Hatten die mir unbekannten Herausgeber des Progress-Verlages diese spezielle Bedeutung ebenfalls so gesehen, es wären ja ohne weiteres auch andere Titel denkbar gewesen von deutlich bekannteren, auch populäreren Österreichern? Die Kehrseite fiel mir bald auf: Zwar schrieben Kenner dem Roman „Die tanzende Törin“ von Gütersloh Pionierleistungen des literarischen Expressionismus zu, gleich mehrere Standardwerke zu dieser Periode aber enthielten nicht einmal den Namen im Personenregister, geschweige eine irgend substantielle Darstellung dieser seiner Urbedeutung. Sein Freund Franz Blei, der Güterloh in seinem „Das große Bestiarium der Modernen Literatur“ ein schräges Kurzporträt widmete, hat zwar in seinen Erinnerungen „Erzählung eines Lebens“ ein kurzes Kapitel mit der betreffenden Überschrift, wer darin jedoch auch nur ein halbes Faktum sucht, findet nicht mehr als in einem seiner „Porträts“.

In Wien geboren, in Melk und Bozen Gymnasiast, Berufswunsch Priester, tatsächlich aber Schauspielunterricht und Malerei, Schüler von Gustav Klimt, Bühnenbildner bei Max Reinhardt, Sanitäter im Krieg ( wie der zwei Tage ältere Georg Trakl auch), Regisseur in München, Professur nach dem Krieg und nach dem Berufsverbot ab 1938, und zwar für Fresko und Gobelindesign. Das allein reicht normalerweise für jede Neugier. Gütersloh starb in Baden bei Wien am 16. Mai 1973, da hatte ich gerade 18 Monate Nationale Volksarmee hinter mir und begann langsam wieder, ein Mensch zu werden. Als solcher las ich eines schönes Tages den „Fabian“ von Erich Kästner. Und als ich mir das zuerst 1932 am 27. November in der Prager Presse erschienene „Gespräch im Wasser“ von Gütersloh vornahm, hatte ich plötzlich das sichere Gefühl, dass der Wiener dem Dresdner eine Botschaft gesandt hatte. Eine groteske Botschaft, in der der Lebensretter anders als bei Kästner schwimmen kann, dafür aber den Selbstmörder schließlich auch ertrinken lässt.

In dieser kurzen Geschichte steht diese Charakteristik eines weiblichen Körpers, es ist der der Dame, die den Retter rettet: „Seine Schlankheit ging eben zur Dürre ein, das heißt, sie balancierte genau auf dem Punkte, von wo aus sie noch zurückschwellen könnte, wenn es bald Regen gäbe.“ Muss man das Herz eines Sätzefreunds haben, um bei solchen nicht weich zu werden wie das Butterflöckchen am Kamin? Ansonsten hat Albert Paris Gütersloh in Österreich an Preisen alles bekommen, was es gab. Eine Recherche, was Elfriede Jelinek über ihn denkt, habe ich mir erspart wie den damit verbundenen Textflächenkoller. Ich habe mir noch ein Gedicht herausgesucht, in dem Gütersloh unter dem Titel „Klage in der Campagna“ sich eine Zeitrückkehr wünscht: „Dann glaub ich, wagten wir nie mehr ein Versäumnis, // nie mehr ein liebloses Wort, // nie mehr ein Bündnis mit dem Feind.“ Heute ist Sonntag, 125. Geburtstag von Albert Paris Gütersloh.


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