Henry David Thoreau: Vom Gehen

Schriebe man über Henry David Thoreau (12. Juli 1817 – 6. Mai 1862) wie Henry David Thoreau über das Gehen schrieb (im amerikanischen Original schlicht: On Walking), hätte man in jeder funktionierenden Redaktion größte Schwierigkeiten, seinen Text durchzubekommen. Denn „Vom Gehen“ handelt fast nicht vom Gehen, nimmt man alles in allem. Man kann an diesem Text aber, und das allein ist wichtig, ziemlich genau ablesen, wie der Mann seine Essays formte. Denn formlos sind sie nicht. Vermutlich würde man, wenn man seine Tagebücher heranzöge, die gedruckten und die im Manuskript überlieferten, sogar eine Stadienfolge feststellen, von einer ersten Niederschrift, mehr Notiz als geformt, über teils nicht dokumentierte Fassungen für Reden und Vorträge bis zur finalen Druckfassung. „Vom Gehen“ erschien im Erstdruck posthum noch im Jahr seines Todes, von Freunden herausgegeben. Es gibt Einzelausgaben, es gibt mehrere deutsche Fassungen, wobei jeder, der heute nach ihnen in den Antiquariatsnetzwerken fahndet, kaum noch die Hälfte der Angebote von vor wenigen Tagen findet, das Jubiläum hat im Gebrauchtbuchhandel für Umsatz gesorgt.

Meine Ausgabe von „Walden“, 1999 im Kölner Könemann Verlag erschienen, basiert auf einer alten Übersetzung von Emma Emmerich aus dem Jahr 1897, meine Fassung von „On Walking“ steht in der DDR-Auswahl „Leben ohne Grundsätze“, 1986 in der Gustav Kiepenheuer Bücherei als deren Band 72 erschienen, Übertragung Peter Kleinhempel. In dieser Auswahl fehlt natürlich „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Auf welche Gedanken hätte allein solch ein Titel einen DDR-Leser bringen können! Selbst die natürlich Thoreau nicht ausklammernde Amerikanistik des kleineren deutschen Staates war sicher froh, den Titel, wo immer möglich, nur im Original nennen zu dürfen, wie es Philologen eben zusteht, die sich um Leser außerhalb des Fachs kaum kümmern müssen. Und so beginnt „Vom Gehen“: „Ich möchte ein Wort einlegen für die Natur, für absolute Freiheit und Wildheit, im Gegensatz zu einer nur zivilisierten Freiheit und Kultur – ich möchte den Menschen eher als einen Bewohner oder wesentlichen Bestandteil der Natur betrachten denn als Mitglied der Gesellschaft. Ich möchte radikal sein in meiner Aussage, um ihr dadurch Nachdruck zu verleihen, denn die Zivilisation hat Fürsprecher genug“. Es scheint klar, was kommen wird.

Thoreau setzt noch eins drauf: „Ich habe im Laufe meines Lebens nur ein oder zwei Menschen getroffen, die sich auf die Kunst des Gehens verstanden, das heißt, auf die Kunst Spaziergänge zu machen“. Sortieren wir, was man heute rasch steile Thesen zu nennen gewohnt ist: Radikalität einer Aussage dient ihrem Nachdruck, ist also weniger substantiell als wirkungsästhetisch vonnöten. Das ist nicht steil, jeder Personality Coach würde dies ziemlich weit oben auf seinen Flip Charts in Großbuchstaben aufschreiben. Braucht die Natur jemanden, der ein Wort für sie einlegt, wenn ja, bei wem? Wo liegt der Unterschied zwischen absoluter und nur zivilisierter Freiheit? Ist Kultur hier ebenfalls als „nur zivilisiert“ gemeint oder gar als Gegensatz zu Wildheit? Ist der Mensch als Mitglied der Gesellschaft ein anderer denn als Bewohner der Natur, ist er ein wesentlicher Bestandteil und wenn ja, in welchem Grade und in welchem Sinn? Denn die allerlängste Zeit ihrer Existenz war der Mensch nicht einmal unwesentlicher Bestandteil der Natur, es gab ihn schlicht und ergreifend noch nicht. Diese Fragen sollen nur eins anzeigen: schon in seinen Prämissen, bewusst oder unbewusst, ist Henry David Thoreau alles andere als ein begriffsklarer Denker.

Wenn also heute und in diesen Tagen jeder zweite Beitrag über ihn das Wort Bibel aufruft, um die Bedeutung vor allem seines Buches „Walden“ zu beschreiben, das nämlich sei die Bibel dieser oder jener Gruppe mit diesem oder jenem Bekenntnis, dann sagt das nebenbei eben auch: es geht um Glaubenssätze, nicht um Sätze mit logischer Wahrheitsrelation. Immerhin: eine These lautet, gelassen hingesprochen: Gehen ist eine Kunst, Spaziergänge zu machen ist eine Kunst. Und wir hätten schon wieder die leidige Logik am Hals: Man kann gehen und Spaziergänge machen schlechterdings nicht in eins setzen. Thoreau aber, als „Naturphilosoph“, der Kulturwissenschaftler Sandro Abbate behauptete in einer „Unten am Bach“ überschriebenen Darstellung in „der Freitag“ 2015 allen Ernstes, „Walden“ hätte im späten 19. Jahrhundert in nahezu jedem amerikanischen Arbeiterhaushalt gestanden, machte sich über solche Feinheiten einfach keine Gedanken. Was Philosophen, gleich welcher Denkart, immer tun sollten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass am Ende des 19. Jahrhunderts nicht einmal in jedem Arbeiterhaushalt überhaupt ein Buch stand, geschweige dann ausgerechnet „Walden“, dessen Kapitel „Lektüre“, dies herauszugreifen, sehr elitär wirkt.

Zum Beispiel steht da: „Man spricht davon, dass das Studium der Klassiker schließlich moderneren und praktischeren Lehrgegenständen weichen müsse; wer aber selbständig studiert, wird sich immer wieder dem Studium der Klassiker zu wenden, in welcher Sprache sie auch geschrieben und wie alt sie auch sein mögen. Denn was sind die Klassiker anders als die erhabensten uns berichteten menschlichen Gedanken?“ Das haben die Arbeiter der sozialistischen Länder von der Wiege bis zur Bahre gehört, nur waren eben mit den Klassikern Marx, Engels und Lenin gemeint, nach Zeit und Land verschieden ergänzt um Stalin und Mao sowie die aktuellen Generalsekretäre. Was hätte das in nordamerikanischen Arbeiterhaushalten bedeuten sollen, wo man bis heute gar keine als die eigene Sprache spricht, wo man alles Mögliche tut, nur nicht Klassiker in Fremdsprachen selbständig studieren? Was reitet einen jüngeren linken Kulturwissenschaftler des Jahrgangs 1979, solchen Unfug in die Welt zu setzen? Auch das stammt von ihm: „Hermann Hesse schrieb einmal: „Die amerikanische Literatur, so kühn und großartig sie ist, hat kein schöneres und tieferes Buch aufzuweisen.“ Das klingt toll und werbewirksam, unterschlägt aber Quelle und Rest des Satzes.

Denn keineswegs etwa hat der fleißige Leser und unermüdliche Bücher-Empfehler Hermann Hesse „Walden“ nachweislich gelesen und auch nur in wenigen Zeilen wie Unmengen andere Bücher besprochen oder annotiert. Hesse entsprach in seiner freundlichen Art, wir schreiben das Jahr 1927, einer Bitte des Eugen Diederich Verlages, etwas für dessen Eigenwerbung zu Papier zu bringen. Und da schrieb er exakt einen einzigen Satz, der nach „aufzuweisen“ eben keinen Punkt, sondern ein Komma hat und so endet: „... und die Weltliteratur bietet wohl Vollendeteres und Glänzenderes, aber nichts Innigeres und Reineres.“ Hätte Hesse an diesen seinen eigenen Superlativ geglaubt, hätte er ganz sicher Buch und Autor spätestens anschließend mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Tatsächlich aber suchen wir den Namen Thoreau in den Personenregistern der Briefbände ebenso vergeblich wie in den fünf Bänden „Die Welt im Buch“. Der Satz ist nicht mehr als eine pure Gefälligkeit, heute von Autor zu Autor vor allem in der Provinz der Normalfall, der ganze Journale füllt, im Rahmen ernst zu nehmender Rezeption Henry David Thoreaus aber hat Hermann Hesse einfach keinen Platz. Der leichtfertige Superlativ ist für ihn sogar eher rufschädigend.

Zurück zur Kunst des Spazierganges. „Wenn du bereit bist, Vater und Mutter und Bruder und Schwester und Frau und Kind und Freunde zu verlassen und sie nie mehr wiederzusehen – wenn du deine Schulden bezahlt und dein Testament gemacht und alle deine Angelegenheiten geregelt hast und ein freier Mann bist, dann bist du bereit zu einem Gang.“ Meint Thoreau diese Voraussetzungen ernst, dann ist niemand bereit zu einem Gang, auch wenn es hübsch klingt, was er sagt vom Spaziergänger: „Er ist eine Art vierter Stand außerhalb von Kirche, Staat und Volk.“ Und: „Ein direkter Dispens vom Himmel ist nötig, um ein Spaziergänger zu werden.“ Er bekennt sofort, selbst täglich mindestens vier Stunden und mehr für seine Gänge in den Wäldern zu brauchen. Möge sich jeder selbst Gedanken machen, wer sich das, weniger profan lässt sich das leider nicht sagen, leisten kann, wer nicht. Übrigens: Sein zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage andauerndes Eremitentum im Zwölf-Quadratmeter-Hüttchen am Walden Pond ist mit „in den Wäldern“ höchst euphemistisch beschrieben. Er sah von seiner Einsiedelei die Bahn, hörte den Verkehr auf der Straße, ging nahezu täglich nach Condord, wo er seine Wäsche nicht wusch, sondern in einer Wäscherei waschen ließ.

Dies muss man ihm nicht ankreiden, man muss sich im Gegenteil freuen, dass es so war, manch hübsche Formulierung in manchem Jubiläumsartikel wäre nicht auf uns gekommen. „Thoreau hat die Zivilisation nie verlassen. Eher war er so etwas wie ein Feierabend-Eremit.“ (Wieland Freund) „Gleichzeitig ist sein Einsamkeitsheroismus komisch, denn schließlich lebt er sozusagen in Condords Hinterhof, gerade zwei Meilen vom Flecken entfernt, den er im übrigen fast täglich besucht.“ (Matthias Matussek) Nur registriert sei: der eine Autor lässt Thoreau an einer Lungenentzündung sterben, „die er sich beim Vermessen von Baumstämmen im Winter zugezogen hatte“, der andere meldet den frühen Tod an Tuberkulose, was heftig unterschiedliche Todesgründe wären. Matussek weiß auch, dass Henry David und sein Bruder John sich erfolglos in dieselbe Frau verliebten und Henry David daraufhin das Interesse an allen Frauen verlor. Was keineswegs bedeuten muss, dass er schwul war, wofür es, wie ein Autor ausdrücklich betont, keinerlei Beweise gibt. Wir sind 2017 dank Gender Studies in der wunderbaren Lage, uns andere Zugehörigkeiten gleich im Dutzend denken zu können, wobei wir damit nichts gewonnen haben und nichts verloren.

Das Geheimnis der Kunst des Gehens, des Spaziergangs enthüllt uns Henry David Thoreau in „Vom Gehen“ nicht, wenn man nicht bereit ist, das Formulieren unerfüllbarer Voraussetzungen als solche Enthüllung zu verstehen. Stattdessen kommt der Essayist, nein, nicht vom Hundertsten ins Tausendste, das würde es nicht treffen, er lässt auch nicht seinen Gedanken freien Lauf, das wäre ja immerhin noch eine assoziative Schreib- und Denkweise, er kultiviert die Übergangslosigkeit, falls das denn überhaupt geht, zu Technik, er erfindet einen roten Faden der Sprunghaftigkeit, man könnte es geschriebenes Sprechen nennen. Das kulturtechnische Verfahren von der Notiz über die Rede zum Essay hat Ralph Waldo Emerson vorgebildet, der Thoreau nicht nur als Faktotum beschäftigte, sondern auch Eigentümer des Eremiten-Grundstücks war, auf dem die Eigenbau-Hütte ihren Bewohner aufnahm. „Was würde aus uns werden, ergingen wir uns nur in einem Garten oder auf einer Promenade?“ „Eine völlig neue Aussicht ist ein großes Glück, und das kann ich noch immer jeden Nachmittag haben.“ „Wenn ein Mensch älter wird, wächst seine Fähigkeit, stillzusitzen und Beschäftigungen im Haus nachzugehen. Er wird abendlich in seinen Gewohnheiten ...“.

Ich kann, zwanzig Jahre älter als Thoreau, als er starb, eine solche Behauptung nicht nur einfach nachvollziehen, ich kann sie schön finden. Ich kann leise schmunzeln, wenn ich lese, dass der „Fürst der Finsternis“ Landvermesser des habgierigen Menschen ist. Manch Haupt- und Nebenverdienst Thoreaus erwuchs ihm gerade als Landvermesser. „Wollte doch ein Volk damit beginnen, die Zäune zu verbrennen und den Wald stehenlassen!“ Wir ahnen, wem solche Sätze schon solider Bibel-Ersatz sein können, wobei stets offen bleibt, warum der Glaubende sich berufen muss. Weit weg vom Gehen oder doch nicht so weit: „Eine Sache ausschließlich genießen heißt für gewöhnlich sich von ihrem wahren Genuss ausschließen.“ Man ahnt: dies stand als Aphorismus im Tagebuch und musste irgendwann verarbeitet werden. Denn vom kollektiven Genuss als Voraussetzung für Genuss überhaupt stand bisher kein Wort im Essay. Dann entwickelt er die These, eine Theorie ist es beim besten Willen nicht, vom Fortschritt der Menschheit von Ost nach West. Die Sonne ist das Symbol: „Sie ist der Große Pionier des Westens, dem die Nationen folgen.“ Und übergangslos, vom Hebräisch-Studium, geht es plötzlich zu einem Panorama des Rheins.

„Der Westen, von dem ich spreche, ist nur eine andere Bezeichnung für die Wildnis; und worauf ich hinauswill, dass in der Wildheit die Rettung der Welt liegt.“ „Zum Leben gehört Wildheit. Das Lebendigste ist das Wildeste.“ „Meine Stimmung steigt unfehlbar mit der äußeren Öde. Gebt mir einen Ozean, die Wüste oder die Wildnis!“ Tatsächlich war, als Thoreau den zweithöchsten Berg Neuenglands bestieg, den die Indianer Ktaadn nannten, wirkliche Wildnis für ihn dann doch eine ganz andere Geschichte: „... seine Naturbegeisterung muss sich hier erstmals einer neuen Erfahrung stellen, nämlich der Unwirtlichkeit der wirklichen Urwälder.“ (Cord Riechelmann) Einmal beim Wilden, folgt wieder eine gewagte These: „In der Literatur ist es nur das Wilde, das uns anzieht.“ Er setzt den „Hamlet“ neben die „Ilias“ und schon ist er bei Definitionen für ein gutes Buch und das Genie. „Ein wirklich gutes Buch ist etwas so Natürliches und so unerwartet und so unerklärlich Schönes und Vollkommenes wie eine wilde Blume“. „Genie ist ein Licht, das die Dunkelheit erhellt wie ein Blitzstrahl, der vielleicht den Tempel des Wissens zerschmettert ...“. Henry David Thoreau ist mit solchen Sätzen weit weg von allem, was man Rationalismus, auch Pragmatismus nennt.

Er ist auch weit weg, das ist inbegriffen, dennoch eigens zu benennen, von Logik. Denn alle Natur ist, wie sie ist, vollkommen, eine wilde Blume wäre allenfalls von einer gezüchteten zu unterscheiden, in der Natur aber, sonst wäre sie es nicht, ist wilde Blume kein auszeichnendes Merkmal. Immerhin will Thoreau, Zeilen später wird es deutlich, eigentlich der englischen Literatur inklusive Shakespeare sagen, sie sei zahme und zivilisierte Literatur. Und geht nahtlos über zum Errichten neuer unüberwindbarer Hürden: „Der wäre ein Dichter, der die Winde und Ströme in seinen Dienst zwingen könnte, dass sie für ihn sprechen“. Das heißt: Es gibt gar keine Dichter, es gab sie nie und wird sie nie geben. Fragt sich, ob der Essayist das wirklich sagen wollte oder ob er nur der Konsequenz seines eigene Formulierens nicht gewachsen war. Müssen wir noch zitieren, was für ihn Mythologie ist, was Wahrheit? Immerhin: „Nicht jede Wahrheit empfiehlt sich dem gesunden Menschenverstand.“ Jene Autoren, die Thoreau als auch kompatibel für Übermenschen-Theorien, für Tea-Party-Anhänger sehen wollten, liegen kaum völlig daneben: „Das Unwissen eines Menschen ist manchmal nicht nur nützlich, sondern auch schön“. Nein, Unwissen ist nie schön.

Sie schützt nicht einmal vor Strafe. Der 200. Geburtstag, das ist nun wirklich schön, hat nicht nur die Edition bekannter und vergriffener Schriften des Jubilars nach sich gezogen. Der Verlag Matthes & Seitz ist bei Band 2 einer auf zwölf Bände veranschlagten Ausgabe der Tagebücher angelangt und es gibt schon heftige Kritik an den Editionsprinzipien, nicht am Übersetzer Rainer G. Schmidt. Die Beschreibung der Reise zum Ktaadn ist neu (Verlag Jung & Jung), neu ist ein Buch mit dem Titel „Wilde Früchte“ (Manesse Verlag), das freilich für den abenteuerlichen Preis von 99 Euro mit seinen sicher hübschen Informationen darüber, wie man welche Nüsse von welchen Bäumen schüttelt, kaum Aussichten auf rauschenden Absatz hat, ich warte geduldig auf Ankunft in der Zweitverwertungskette. „Ich bin der Ansicht“, finde ich in „Walden“ behauptet, „dass wir, nachdem wir die Buchstaben gelernt haben, nur das Beste lesen sollten, was in der Literatur vorhanden ist“. Dem lässt sich nur sehr schwer widersprechen. Ich verheimliche allerdings auch nicht Thoreaus nüchternen Blick: „Die besten Bücher werden noch nicht einmal von denen gelesen, welche man „gute Leser“ nennt.“ Vielleicht stachelt die indirekte Mahnung ja einige von diesen doch auf.


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