Winfried Georg Sebald porträtiert Gottfried Keller

Hätte ich nicht dieser Tage den großen Beitrag eines einstigen Doktoranden anlässlich des bevorstehenden 75. Geburtstages von W. G. Sebald in meinen zuständigen Archivordner versenkt und bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass sich dort kein einziger pur biographischer Beitrag findet, wohl aber eine mehr als ansehnliche Menge von Artikeln über seine Bücher, 1992 beginnend, dann wäre ich wohl nicht so schnell auf ihn gekommen, von dem ich freilich nur bescheidene vier Bücher besitze. In einem, es trägt den Titel „Logis in einem Landhaus“, fand ich ein vorsorgliches Lesezeichen auf Seite 95. Dort beginnt „Her kommt der Tod die Zeit geht hin“ mit dem Untertitel „Anmerkungen zu Gottfried Keller“. Ohne mich dazu näher zu erklären, bekenne ich heftige Sympathie zu solcherart Untertiteln: sie transportieren eine spezielle Bescheidenheit, die sich unabsichtlich oder absichtlich distanziert von letztinstanzlichem Tun und Schreiben. So werden auch diese Zeilen Anmerkungen sein, mehr nicht. Weniger allerdings auch nicht. Allein die mehr als auffällige Tatsache, dass die deutsche Öffentlichkeit sich beinahe überschlägt im Vorfeld des 200. Geburtstags von Theodor Fontane am Jahresende, zum 200. Geburtstag von Gottfried Keller aber fast schweigemönchisch agiert, motiviert meinen Griff zu dieser und keiner anderen Arbeit Sebalds.

Klares Fazit nach Lektüre der dreißig großzügig gedruckten und auch noch illustrierten Seiten: hier steht einer wohltuend in seinem Stoff. Er langweilt nicht mit Faktenfluten, Literaturverweisen, Fußnotenkriegen. Hier hat einer aber auch ein feines Gespür für tragende Stellen. In der Hauptsache sind es Stellen aus „Der grüne Heinrich“. Und es sind natürlich Stellen, die eigene Weltsichten des Porträtisten Sebald bestätigen. Dies in Zweifel zu ziehen oder gar versuchsweise in Misskredit zu bringen, wäre eine verlogene Masche. Selbst was ein Autor für sich naiv als Entdeckung empfindet, ist höchstwahrscheinlich mit nur wenigen Ausnahmen nicht mehr als eine plötzlich gefundene prägnante, sogar paradigmatische Formulierung eigener Gedanken und Überlegungen. Wer anderes behauptet, lügt. Als das Buch erschienen war, übernahm Ernst Osterkamp für die FAZ die Aufgabe, es zu besprechen. Die Kritik findet sich in der Beilage zur Frankfurter Buchmesse vom 6. Oktober 1998, es war das Messejahr, in dem der Portugiese José Saramago den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die Kritik ist eine süffisante Vernichtung, sie suggeriert, es sei ein unverzeihlicher Frevel für einen Autor, über andere Autoren zu schreiben, ohne sich von ihnen zu distanzieren. Dies wäre nach dieser Logik dann meinerseits das genau Richtige: ich distanziere mich von Ernst Osterkamp.

Dass er seit Oktober 2017 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist, würde meiner Distanzierung eine provokante Weihe verleihen, wenn ich aktuell ein Buch zu promoten hätte und interessierten Medien Stoff für eine handliche Schlagzeile zu liefern hätte. Dass einer aus der Thüringer Provinz aber einen aus den Hochsphären des Literaturbetriebs angeht wegen einer zwanzig Jahre alten und in dieser Zeit nicht besser gewordenen Buchkritik, kann nur der Ausdruck wäldlerischen Neides sein und damit keines Blicks zu würdigen. Wie auch immer: „Sebald sucht die Nähe der Dichter, über die er schreibt“, lautet der professorale Vorwurf. Die Nähe Gottfried Kellers hat er, will mir scheinen, auf jeden Fall gefunden. „Der Leser dieser Texte wird deshalb enttäuschend wenig über die Werke der von Sebald verehrten Autoren lernen.“ Ich lerne aus dieser Kritik, dass es Professoren gab (und gibt), die DEN Leser kennen und sogar wissen, was er lernt oder nicht. Ich habe an der Humboldt-Universität einst manches gelernt, was mir erst sehr viel später bewusst wurde. Ich gehöre allerdings auch zu jener Sorte von Lesern, die sich freuen, wenn sie einen eigenen Gedanken in anderen Köpfen finden und vielleicht sogar so gut formuliert, dass ich mir sage: so hätte ich es auch gern geschrieben. Warum dann nach Paraphrasen gründeln?

Wenn ich in der kommenden Woche dennoch an Ernst Osterkamp denken werde, dann weil sein Geburtstag mit dem Geburtstag einer mir sehr nahe stehenden Person zusammen fällt , die freilich nicht wie ich an der Humboldt-Universität zu Berlin, sondern an der Universität der Künste zu Berlin studiert hat. Letztes Zitat: „In diesem Buch fällt kein neues Licht auf die großen Texte, die Sebald zitiert; seine wesentlichsten Einsichten über sie stammen, wie er offen eingesteht, aus zweiter Hand.“ Das ist aus Professoren-Sicht eine wirkliche Schweinerei, aus Sicht sterblicher Leser – und für genau die werden in aller Regel Bücher geschrieben und gedruckt – ist es irrelevant, weil sie sonst immer erst alles über alle Gegenstände aller Bücher wissen müssten, um zu erkennen, dass sie nichts Neues in den Händen halten. Bücher, die ausschließlich für Professoren und ihre Zulieferer aus dem akademischen Mittelstand geschrieben werden, sind fürs wirkliche Leben in aller Regel überflüssig. Wenn aber jemand, der Fall ist freilich unwahrscheinlich, wenngleich nicht, weil das Buch so schwach wäre, nach Lektüre des Sebald-Bandes Lust verspürt, bei Keller oder Mörike, bei Robert Walser eigenaugig nachzuschauen, dann wäre das ein wünschenswerter Effekt. Dass Sätze über „Der grüne Heinrich“ bei Osterkamp vermintes Gelände betreten, ist erklärbar.

Hat er doch seinen Beitrag für die Artikel-Serie der FAZ mit dem Titel „Mein Lieblingsbuch“ eben diesem Keller-Roman gewidmet, er stand am 10. August 2004 im Blatt und fand später auch Eingang in das von Hubert Spiegel im Insel-Verlag herausgegebene Büchlein gleichen Titels. „Wohl jeder“, heißt es dort, „der den „Grünen Heinrich“ sein Lieblingsbuch nennt, tut dies mit dem Gefühl, dabei viel von sich preiszugeben. Kein andres Buch weiß so viel von mir wie dieses, aus keinem anderen lerne ich bei jeder neuen Lektüre so viel über mich wie aus dem „Grünen Heinrich“, natürlich der ersten Fassung, derjenigen mit dem „zypressendunklen Schluss.“ Das hätte nun auch W. G. Sebald so behaupten können, er hätte vielleicht nur keine Behauptung über JEDEN aufgestellt, den kannte er nämlich nicht, den kennt vermutlich nur Osterkamp so gut, dass er sogar dessen Gefühle öffentlich machen kann. Klar ist: Sebald hat Hoheitsgewässer verletzt, um dort zu fischen: aus solchen Gründen treten heute ganze Länder aus der EU aus. Dass einer wie Hermann Hesse, der die von Keller untersagte Neuveröffentlichung der Ur-Fassung von „Der grüne Heinrich“ ausdrücklich mehrfach begrüßte, dennoch die Fassung letzter Hand bevorzugte, sei erwähnt, wissen muss man es natürlich keineswegs, um der Größe Gottfried Kellers leise näher treten zu können.

Sebald beginnt seinen Aufsatz über Keller so: „In keinem literarischen Werk des 19. Jahrhunderts treten die Entwicklungslinien, die bis auf die heutige Zeit unser Leben bestimmen, so deutlich zutage wie in dem Gottfried Kellers.“ Zwei Seiten weiter schreibt er: „Unter den herausragenden Schriftstellern des deutschen 19. Jahrhunderts ist Keller, neben dem jungen Büchner, vielleicht der einzige gewesen, der von politischen Idealen und politischer Pragmatik etwas verstand ...“. Statt nun aber des langen und breiten selbst über Entwicklungslinien zu dozieren, zitiert W. G. Sebald aus der vermutlich bekanntesten Keller-Novelle „Kleider machen Leute“. Die Hausnamen allein, die der Schneider Wenzel Strapinski an den Gebäuden sieht, sprechen alles aus, was gesagt werden muss. Alles darüber hinaus wäre Zeigefinger, wäre Plattliteratur. Aus „Martin Salander“, dem vielfach missverstandenen, dem unterschätzten späten Keller-Roman, fischt sich Sebald diese eine prägnante Stelle heraus: „Das sind ja wahre Lumpen, die sich selber das Klima verhunzen.“ Vor 20 Jahren, als noch kein Kinderkreuzzug gegen den Klimawandel die Medien beschäftigte, vor 130 Jahren, als in der Schweiz die Gletscher noch bis in die Täler reichten. Der Professor winkt ab, der sterbliche Leser freut sich erstaunt: schon damals? Gottfried Keller ist doch nicht von vorgestern?

Der Professor weiß das, weiß es aber auch derjenige, den der bedrohliche Deutschlehrer an den Schneider Strapinski zwang, gefälligst Erkenntnisse zu gewinnen? Wenn es etwas gibt, wo Deutschland längst nahtlos zusammengewachsen ist, dann in der gepflegten Grundüberzeugung, dass Literaturunterricht Literaturliebe verhindert, mindestens aber erheblich erschwert hat. Wen man in der Schule lesen musste, liest man nicht wieder. Einen wie Keller aber sollte man lesen und wenn man die beiden, mehr sind es ja nicht, voluminösen Romane meiden möchte, gibt es ja noch die Novellen. Denen widmet W. G. Sebald in der Tat nicht viel Aufmerksamkeit, neben „Kleider machen Leute“ erwähnt er den „Landvogt von Greifensee“, „Die drei gerechten Kammacher“ und Personen aus „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Das sind nur drei der zehn Novellen aus dem Zyklus „Die Leute von Seldwyla“ und eine der fünf „Züricher Novellen“, vom „Sinngedicht“ gar kein Wort. Zählt das als Defizit? „Die Errettung Wenzel Strapinskis aus dem schon sicheren Tod, von der Keller in der Folge berichtet, geschieht ganz gegen die erotischen Gepflogenheiten der bürgerlichen Natur.“ Sebald nennt Heinrich von Kleist und Arthur Schnitzler für die genannten Gepflogenheiten. Und beschreibt, was in der Novelle dem halb erfrorenen Schneider geschieht.

„Zahlreich sind die Passagen in Kellers Werk, die ihn als barocken Poeten der Vergänglichkeit ausweisen könnten.“ Dass hier das „Tödlein“ aus dem „Landvogt von Greifensee“ an zweiter Stelle erwähnt wird, bringt Kenner natürlich nicht zum Staunen, führt aber weiter zum Verweis auf die Sammlerleidenschaft des Dichters und deren Spiegelungen in fast allen Geschichten Kellers. Ich, tut mir leid, lasse mich gern auf dergleichen hinweisen. Auch dies las ich gern: „Für Keller selbst hat die Münchner und Berliner Zeit gereicht, um ihn ihn die Bitterkeit der Verbannung zu lehren. Zu gleichem Maß von Schönheit und Angst erfüllt sind darum die ein ganzes Kapitel und mehr ausmachenden Heimatträume des grünen Heinrich.“ Dass Keller in München und Berlin nicht als Verbannter war, weiß jeder, der mit der Biografie halbwegs vertraut ist. Einmal gab es sogar ein großzügiges Stipendium seiner Heimatstadt Zürich. Und doch frappiert die Beleuchtung der eigenen Erfahrung im Werk durch ihr gar nicht so wundersames Eigenleben. „Das Exil, wie Keller es beschreibt, ist ein Purgatorium ein Stück außerhalb dieser Welt. Wer einmal dort war, dem wird der Ort seiner Herkunft für immer fremd.“ Natürlich spricht hier der aus Wertach im Allgäu gebürtige Sebald pro domo. Welcher Dichter aber, der von anderen Dichtern handelt, tut das denn nicht?

Bei W. G. Sebald fällt auf, dass er im deutschsprachigen Literaturgarten eher die Beete mit den Österreichern und Schweizern umkreist, zwei ganze Bücher betreffen ausschließlich Autoren aus Österreich: hier keine bewusste Distanz zu vermuten, wäre reichlich naiv. Vielleicht kommt daher, was der SPIEGEL in seinem bekannten Nachruf-Lakonismus so beschrieb: „In Deutschland blieb Sebald ein mal hoch gelobter, mal manieristisch gescholtener Außenseiter der Literatur.“ Und just den schätzen die Engländer, wie der Schotte John Burnside (Jahrgang 1955) 2011 anlässlich des zehnten Todestages ebenfalls in der FAZ schrieb, als den bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Da schluckt man natürlich in den Böll-Grass-Walser-Fanclubs und in den Arno-Schmidt-Kellern grassiert Schüttelfrost, wir reden nicht von Kohorten an Geheimtipp-Adepten und ein Frauenname ist hier noch gar nicht gefallen. Wenn also ausgerechnet in dieser Woche Uwe Schütte (Jahrgang 1967) wortreich den in Deutschland meistgelittenen Titel Sebalds, den Roman „Austerlitz“ mit leider etwas dünnbrüstiger Verve vom Sockel zu zerren versucht und als Quasi-Ersatz „Die Ringe des Saturn“ anbietet, dann riecht das wieder heftig nach Geheim-Wissen, das freilich beim Sebald-Experten Schütte alles andere als geheim ist. Es ruft nur nach Insider-Beifall.

Ein Punkt in Sebalds Keller-Arbeit wäre auf jeden Fall zu erwähnen in diesem Jahr, da der Preuße Theodor Fontane und der Zürcher Gottfried Keller anlässlich ihres 200. Geburtstages Surplus-Aufmerksamkeit erfahren und zwar unabhängig von allem, was sonst anmerkenswert ist oder sein könnte. Es beginnt bei Sebald so: „Es ist im übrigen ein besonders schöner Zug Kellers, dass er den Juden, denen das Ressentiment der Christen Jahrhunderte hindurch die Erfindung des Geldhandels zum Vorwurf gemacht hat, in der als Erinnerung an die vorkapitalistische Zeit konzipierten Geschichte einen Ehrenplatz einräumt.“ Es wäre hier nur auf das 1998 erschienene Buch von Michael Fleischer zu verweisen, Titel „Kommen Sie, Cohn“. Es hat das Thema „Antisemitismus bei Fontane“ über die aufmerksamkeitsökonomische Wahrnehmungsschwelle gehoben, es gibt längst hunderte an Seiten mehr zur Sache. Und Keller, der zeitgleiche im Süden? Erzählt von einer Trödelhalle und ihrer Herrscherin, die nachts jüdischen Hausierern Quartier gibt, auch diesen Juden werden Vorhaltungen gemacht, aber: „... so hören die Juden diese Schreckgeschichten sich an, lächeln darüber gutmütig und fein und lassen sich nicht aus der Laune bringen.“ So weit, so gut. Nun aber kommt jener W. G. Sebald, der angeblich nichts Neues zu sagen hat, mit seiner Pointe.

Und die geht so, ich erlaube mir ein längeres Zitat: „In diesem von Keller für uns bewahrten Lächeln der Juden über die Leichtgläubigkeit und Dummheit des unerleuchteten Christenvolks ist die wahre Toleranz beschlossen, die Toleranz der bedrängten, mit knapper Not nur geduldeten Minderheit gegen diejenigen, die die Wendungen ihres Schicksals bestimmen. Die Idee der Toleranz, die im Gefolge der Aufklärung propagiert, in der Praxis jedoch immer verwässert wurde, ist nur ein schwacher Schemen verglichen mit der wissenden Nachsichtigkeit der Juden. Auch mit dem Unwesen des Kapitals haben die Juden bei Keller nichts zu schaffen.“ Wie böse müsste man sein, um zu behaupten, genau deshalb findet im großen Jubiläumsjahr der eine viel, der andere wenig, jedenfalls bedeutend weniger Aufmerksamkeit? „Das wahre Gold ist bei Keller stets das, welches mit vieler Mühe aus fast gar nichts gesponnen wird oder als Abglanz über der Landschaft liegt.“ Andrea Köhler schrieb 2008 in der NZZ: „Es ist der Triumph des Findens, der den Leser von Sebalds komplexen Texturen beglückt.“ Sie bezog sich auf die von Sven Meyer im Verlag Carl Hanser herausgegebenen Gedichte der Jahre 1964 bis 2001, Titel „Über das Land und das Wasser“. Triumphe des Findens gibt es auch in W. G. Sebalds Essayistik. Zu Gottfried Keller zum Beispiel.


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