Kurt Tucholsky: Der alte Fontane

„Der alte Fontane“ ist eine stehende Wendung bei Tucholsky und sie ist nicht halb so nervend wie der ewige „Dichterfürst“ oder „Geheimrat“ als Klebeetikett für Goethe. Außerdem hat Tucholsky  zwei Texte hinterlassen, die direkt den Titel „Der alte Fontane“ tragen, man darf sich also bei ihm bedienen. In den „Q-Tagebücher“ genannten Hinterlassenschaften, geschrieben für Nuuna, Frau Dr. Hedwig Müller in Zürich, findet sich der Hinweis auf ein Bild Fontanes im Zimmer Tucholskys. Es dürfte sich um jenes Bild gehandelt haben, auf dem der alte Fontane an seinem Schreibtisch, den Kachelofen im Hintergrund, zu sehen ist. Tucholsky hätte als Knabe den alten Fontane noch flanieren sehen können, wenn der seine Standardrunden im Tiergarten drehte und vielleicht hat er ihn ja sogar gesehen, ohne dass es ihm bewusst wurde. Das aber ist vollkommen spekulativ und deshalb eine nette Vorstellung. Jedenfalls hat Kurt Tucholsky kurz vorm 100. Geburtstag Fontanes anno 1919 die Behauptung aufgestellt, der Alte sei nicht am 20. September 1898 gestorben, sondern am 1. August 1914. Ein Literaturhistoriker hätte dergleichen nie zu Papier bringen dürfen, weshalb er deutlich seltener gelesen wird als Kurt Tucholsky. Und das ist in der Regel auch ehrlich verdient.
 
„Verspielt, wie ich bin, liebe ich an diesem Buch am meisten die zart ausgepinselten kleinen Bilderchen.“ Das schreibt Tucholsky über den Theaterkritiker Fontane, dessen Sohn unter dem Titel „Causerien über Theater“ eine erste Sammlung dieser Arbeiten seines Vaters veröffentlicht hatte. Tucholsky war hingerissen und er war, wen überrascht das, weil er eben selbst ein Meister der ausgepinselten kleinen Bilderchen war, von solchen mehr als von anderen Sachen des Alten angetan. Man kann, alles zusammen genommen, was der eine über den anderen zu Papier brachte, sagen: mit den Romanen hatte er es am wenigsten. Seine Favoriten waren und blieben, seit er sie kannte, die Theaterkritiken, er lobte in hohen Tönen die späten Gedichte Fontanes und, in Bausch und Bogen, die Briefe. Als 1919 „Das Fontane-Buch“ erschien, ein Gedenkbuch anlässlich des 100. Geburtstages, nahm Tucholsky die Gelegenheit wahr, Thomas Manns Essay „Der alte Fontane“ zu würdigen: „…in einem wunderschönen Aufsatz (da ist Seelenverwandtschaft) zeigt er den Spießer auf, der gar keiner war, und den Künstler, der jene unstillbare Sehnsucht nach dem Philistertum, nein, nach den Menschen hatte.“ Dass Thomas Mann seinen Aufsatz schon 1910 in Maximilian Hardens Zeitschrift „Die Zukunft“ hatte drucken lassen, war für Tucholsky 1919 ohne Interesse.
 
Sein erstes „Der alte Fontane“ ist ein Gedicht, gesungen würde man es womöglich sogar Couplet nennen. Es stand zuerst im seinerzeit berühmten „Berliner Tageblatt“. Und zwar am 1. September 1918, da war der Krieg noch nicht zu Ende. Das Gedicht spielt den Fall durch, dass der alte Vater Odin den alten toten Fontane noch einmal aus dem Himmel auf die Erde zurückkehren lässt mit der Pointe, dass Fontane diese ihm fremde Erde fluchtartig und so rasch als nur irgend möglich wieder gen Himmel verlassen will. Fontane fand diese seine eigene Idee so gut, dass er sie verwandelt noch einmal wieder aufgriff: ein Jahr später: als der 100. Geburtstag am 30. Dezember 1919 unmittelbar bevorstand. „Und der Alte schüttelt schweigend den Kopf, / freiwillig kürzt er den Urlaub ab, / in wilde Karriere fällt sein Rückzugstrab. / Sein Rückmarsch ist ein verzweifeltes Fliehn. / „Wie war es?“ fragt teilnahmsvoll Odin. / Und der alte Fontane stottert beklommen: / “Gott, ist die Gegend runtergekommen!“ So endet das Gedicht. In „Fontane und seine Zeit“ heißt es dann: „Nichts dokumentiert den Abstand dieser beiden Weltalter so sehr wie die Vorstellung, der Alte wandele heute noch unter uns.“ Das lasen die Leser des „Berliner Tageblatts“ am 27. Dezember 1919.
 
Die Leser der „Weltbühne“ fanden in der Ausgabe Nummer 19 vom 12. Mai 1925 einen Beitrag, der „Auslandsberichte“ überschrieben war. Darin stand, unter anderem: „Fontane erzählt aus seiner Kreuzzeitungszeit, wie oft die englischen Berichte zu Hause geschrieben wurden, und er macht sich ein bisschen darüber lustig. Aber nur ein bisschen. Die Schreiber waren und machten keine Wippchen. Es waren kenntnisreiche Männer, die die englische Presse genau kannten und Wirkung und Ausmaß jeder Nachricht durchaus abzuschätzen verstanden. Das kann man auch in Berlin, und dazu braucht man niemand nach London zu schicken.“ Statt sich darüber zu echauffieren, dass die weithin als reaktionär verschriene „Kreuzzeitung“ ihren „englischen Artikel“ (für den Fontane zuständig war) oder ihren „französischen Artikel“ (den George Hesekiel verantwortete) aus den Zeitungen der jeweiligen Hauptstädte kommentierend destillieren ließ, derart entstanden die so genannten „unechten Korrespondenzen“, die im Falle Fontanes inzwischen sogar selbständig gesammelt und neu gedruckt vorliegen, könnte man heute überlegen, ob uns tatsächlich geholfen ist, wenn der in Neuseeland stehende ARD-Korrespondent vom Vulkanausbruch in Nauru berichtet.
 
Der Erz-Journalist Kurt Tucholsky hatte, darf man folgern, ein gewisses Verständnis für gewisse Praktiken. Doch zu den Romanen Fontanes, von denen Tucholsky keinen einzigen auch nur mit seinem Titel erwähnte: „Wir wollen uns nichts vormachen: sie sind ein wenig verblasst und verstaubt – diese umständlich sorgsame Art, Dinge zu erzählen, die uns nicht halbwegs so wichtig erscheinen wie einstmals ihm, diese rührend einfach verschlungenen Probleme, die wir nicht etwa überwunden haben (das gibt es gar nicht), sondern die er nicht so tief, so menschlich erschütternd empfunden hat, dass sie uns heute noch fest packen. Seine Tragik ist nicht die unsere“. Immerhin: eine umständlich sorgsame Art, rührend einfach verschlungene Probleme muss man erst einmal so und als solche benennen. Tucholsky behält mit seinen Formulierungen sogar dann recht, wenn man sein generelles Urteil über die Romane (und/oder Novellen, Erzählungen) nicht teilen mag und zwar vielleicht gerade wegen der speziellen Verschlungenheiten. Liebe zu Staub kann, für Allergiker natürlich nicht, auch Protest sein, Protest gegen Lack, Glanz, Oberfläche, Zeitgeist, je nachdem. In „Fontane und seine Zeit“ hat Tucholsky seine diesbezügliche Grundaussage noch einmal variiert.
 
„Dieser märkische Goethe wirkt auf uns so lange nach – nicht als Künstler: denn leicht angestaubt scheinen heute schon seine Romane in der Technik, in altbacknen Stellen, die unsere Zähne nicht mehr recht beißen wollen, in der Linienführung und schließlich auch in der Anschauung von Gut und Böse. Wir denken anders, wir werten anders, wir fühlen anders, und wir urteilen anders. Und ein solcher Riesenkerl, dass er uns das vergessen machen könnte, war Fontane nicht. Der Romanschreiber Fontane schwindet mit seiner Zeit. Anders stehts schon mit den Gedichten, besonders mit denen aus den letzten Jahren des Alterns. Das sind Töne, die so bald nicht vergehen; da ist Herzschlag und eine weise Resignation, die niemals tränenselig ist.“ Wobei der Leser selbst zu entscheiden hat, welche Gedichte Tucholsky denn näherhin meint. „Durch die Jahre, durch die Jahrzehnte war der alte Fontane ein Wappenschild, so, wie der alte Raabe eins war oder Wilhelm Busch oder vielleicht noch Keller. Einem Induktionsstrom gleich glitt durch unsere Herzen derselbe Takt des Blutes, wenn wir ihn lasen – die scheinbar improvisierten Verse der Alterszeit und die Briefe, die vollen, satten, tiefen Briefe.“ Auch das kann nur Tucholsky: Wilhelm Busch in eine Reihe stellen mit Raabe, Keller und Fontane. Doch man lese dazu die Altersgedichte von Busch!
 
Als es den 50. Geburtstag von Alfred Polgar zu feiern galt, reihte sich auch Tucholsky unter die Gratulanten: „Sie haben die Millesimalwaage der Kritik erfunden. Mit Ausnahme des alten Fontane weiß ich keinen Theaterkritiker deutscher Sprache, der so aufs Augenhärchen genau sagen kann, was er sagen will.“ Sechs Jahre vorher standen Fontane und Polgar schon einmal nebeneinander: „Und lasst mich schwärmen. Diese Feinfingrigkeit in Fontanes Arbeiten ist, wenn ich mich unter den Heutigen Umsehe, am ehesten mit Alfred Polgars Grazie zu vergleichen. … Auch dies verbindet Polgar mit Fontane, dass beide in der Ablehnung fast noch besser sind als in der Anerkennung und dass es aus ihrem Tadel, besonders aus dem ironischen Tadel, unendlich viel zu lernen gibt. Und blieb Fontane nicht ewig jung? Seine Haltung in Sachen Naturalismus, der den ganz anders empfindenden und erzogenen Mann in die Herzgrube stoßen musste, soll ihm unvergessen bleiben. Es ist eine gute Gabe Gottes, noch aus Wildenbruch das Letzte herauszuholen und vor Ibsen nicht zu versagen. Ganz und gar nicht zu versagen.“ Lässt sich sehr viel mehr auf weniger Platz sagen: Feinfingrigkeit, aufs Augenhärchen genau, Tucholsky meint sich selbst mit.
 
Und er hat natürlich recht: Man kann Fontanes Theaterkritiken lesen, auch wenn man weder die Stücke noch die Darsteller kennt, auch nur je von ihren Namen gehört hat. Deshalb ist es ein Unfug, wie bei Fontane mehrfach geschehen (und anderen Kritiker-Sammlungen oft genug auch), die vermeintlich zeitgebundenen Namen und Fakten zu streichen oder allenfalls durch drei Punkte zu ersetzen. Mit Blick auf seinen Freund und Kollegen Siegfried Jacobsohn, der alles wusste und kannte, schrieb Tucholsky: „… Aber was ist das alles gegen den Ton, den Hauch, den Takt, der diese Aufsätze zu einem der schönsten deutschen Sprachgüter macht! … Nein, dies ist Anmut, und alle Gesetze der Schwere sind aufgehoben. … ich kenne nicht einmal ihre Namen. Aber ich sehe sie vor mir! Ich sehe sie alle, alle: die Zimprigen und die mit der großen Schleppe und die auf „edel“ Frisierten und die Polterer und die Bartträger und die Dämonischen. Ich sehe die kleinen Götter und die Gastspiellöwen und die Heroinen – Herr Gott, wie groß ich dein Tierpark! Er ist unerschöpflich in Vergleichen. Er holt, um einen Eindruck den Sinnen des Lesers nahezubringen … die unmöglichsten Dinge heran, die scheinbar ganz fern liegen – und wupp! ist der Eindruck da.“
 
So muss man es sagen können“ „…und wupp! ist der Eindruck da.“ Hat irgendein im Lichte seines ellenlangen Publikationsverzeichnisses ergrauter Ordinarius je prägnanter formulieren können, worum es geht? Wupp ist ein Zauberwort. Kein Parallelstellen-Schnuffi, kein Quellen-Rutengänger kann es unterbieten in Kürze, kann es übertreffen in Substanz, ohne uferlos und leserfeindlich zu werden. „Dieser Gedenktag bietet noch einmal Anlass, sich liebevoll in die Einzelheiten dieses kargen und reichen Lebens zu versenken, … vielleicht entwickelt sich einmal aus dem neuen etwas Ersprießliches, vielleicht geht ein neuer alter Fontane in hundert Jahren durch diese graue Stadt“. Noch aber leben wir in Zeiten, da den Tonangebenden das Neue von sich aus identisch ist mit dem Ersprießlichen, in Zeiten, da Romane sogar die Theater fluten und zu ersäufen drohen und die Kritiker, falls sie nicht mit des Kaisers neuen Kleidern vollständig zufrieden sind, eher über die Strukturen der Nacktheit nachdenken als einfach mit dem spitzen Finger auf das frei baumelnde Gemächt des Kaisers zu zeigen. Der Tucholsky-Biograph Michael Hepp schrieb: „Tucholsky beneidete den Fontane und den alten Goethe, weil sie in Ruhe lesen und arbeiten konnten, ohne Geldsorgen und Verpflichtungen.“ Vom geldsorgenfreien Fontane fand ich bei Tucholsky nichts.
 
Eins aber will ich nicht unter den Tisch kehren. Fontane schrieb am 1. April 1895, dem achtzigsten Geburtstag von Bismarck, an seine Tochter Martha, genannt Mete: „Bankier Neumann, uns gegenüber, hat auch nicht geflaggt, und Arm in Arm mit Neumann fordere ich mein Jahrhundert in die Schranken.“ So jedenfalls zitiert Kurt Tucholsky den Brief. Nimmt man aber das Original zur Hand, um nach dem Zusammenhang zu schauen, in dem das steht, liest man erstaunt statt „Bankier“  Neumann „Jude“ Neumann. Hatte Tucholsky einen retuschierten Briefwechsel in der Hand? Wer aber hätte den zu Zeiten retuschieren sollen, als der vermeintliche oder tatsächliche Antisemitismus Fontanes noch von niemandem thematisiert worden war? Hat der DDR-Herausgeber Roland Links in aller Stille das eine durch das andere Wort ersetzt? Man kann ihn nicht mehr fragen. Versöhnlich sei das Ende: In „Der Bär tanzt“, Weltbühne vom 28. April 1928, schreibt Tucholsky zitierend: „Den Schauspieler möchte ich sehen“, hat der alte Fontane einmal gesagt, „der den Hamlet mit einem weißen Bändchen spielen kann, das ihm aus der Hose heraushängt!“ Als Theatergänger bin ich beim alten Fontane. Und natürlich bei alten Tucholsky, der immer beim alten Fontane war, wenn sich eine günstige Gelegenheit dafür ergab. Einige sind hier benannt. Vollständigkeit war kein Ziel.


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