Wilhelm Weitling zum 150. Todestag

Heinrich Heine, mit ihm zu beginnen, kam in seinen im Winter 1854 zu Papier gebrachten „Geständnissen“ auch auf Wilhelm Weitling zu sprechen. Der Dachverband der Flickschuster würde heute den unvergleichlichen Heine indirekter Diskriminierung einer handwerkenden Berufsgruppe bezichtigen, wäre er in sozialen Medien auf entsprechende Passagen gestoßen. 1854 gab es zum Glück noch keine sozialen Medien, die Medien waren einfach solche und mehr nicht. Außerdem diskriminierte Heinrich Heine wenige Zeilen später auch Hegel, den übergroßen Georg Friedrich Wilhelm Hegel, den Heine zu Berlin noch selbst gehört hatte. „Ehrlich gesagt, selten verstand ich ihn, und erst durch späteres Nachdenken gelangte ich zum Verständnis seiner Worte. Ich glaube, er wollte gar nicht verstanden sein, und daher sein verklausulierter Vortrag, daher vielleicht auch seine Vorliebe für Personen, von denen er wusste, dass sie ihn nicht verstanden, und denen er umso bereitwilliger die Ehre seines näheren Umgangs gönnte.“ Als einer, der nicht nur im Studium der Philosophie mit Hegel, Hegelianern und Blochial-Adornoiden zu tun hatte, meine ich starrsinnig, Hegel wichtigstes Erbe sei es von Beginn an gewesen, nicht verstanden sein zu wollen. „Ich sah, wie Hegel mit seinem fast komisch ernsthaften Gesichte auf den fatalen Eiern saß und ich hörte sein Gackern.“ Ach, dieser Heine! Und Weitling „behielt die Mütze auf dem Kopf“, als er ihn traf!

Wir dürfen uns die Szene bei Heines Freund und Verleger Julius Campe (18. Februar 1792 – 14. November 1867) hilfsweise vorstellen wie jene berühmtere, als Heine selbst bei Goethe vorsprach, der ihn fragte, was er treibe: er arbeite einen „Faust“, antwortete der Jüngere dem Olympier. Dem es die Sprache verschlug. Hier nun trat der „berühmte Schneidergesell“ dem einst Jüngeren entgegen, der nun selbst Olympier war, wenn auch in anderem Sinn. Weitling stellte sich „als einen Kollegen“ vor, „der sich zu denselben revolutionären und atheistischen Doktrinen bekenne.“ Heine, so seine Erinnerung, war ebenfalls fassungslos: „Was meinen Stolz am meisten verletzte, war der gänzliche Mangel an Respekt, den der Bursche an den Tag legte, während er mit mir sprach. Er behielt die Mütze auf dem Kopf, und während ich vor ihm stand, saß er auf einen kleinen Holzbank“. Weitling rieb sich sein Bein oberhalb des Knöchels und bekannte auf Nachfrage Heines, dort schmerze ihn bisweilen die Gegend, wo ihn zu enge Fesseln im Gefängnis gehalten hatten. Dann aber auch drei positive Zeilen: „Dieser Weitling, der jetzt verschollen, war übrigens ein Mensch von Talent; es fehlte ihm nicht an Gedanken, und sein Buch, betitelt: „die Garantien der Gesellschaft“, war lange Zeit der Katechismus der deutschen Kommunisten.“ Als Heine-Gemeinde übersehen wir großzügig den falschen Titel: das Buch hieß natürlich „Garantien der Harmonie und Freiheit“, zuerst 1842.

Die DDR übrigens mit ihrem Marxismus-Leninismus, der das in einem Maß beanspruchte, was man heute Deutungshoheit nennt, und sie auch ausübte in einem Maß, von dem heutige Hoheiten des Deutens nur nachts unter der Bettdecke träumen können, stellte „Garantien der Harmonie und Freiheit“ in der Reihe „Philosophische Studientexte“ des Berliner Akademie-Verlages bereits 1955 vor. Der Grund dafür war, obwohl Marx und Engels durchaus heftig über Weitling hergezogen waren, ein einfacher: man sah sich selbst aus drei Quellen hervorgegangen: aus der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen Ökonomie und des vorwiegend französischen, aber auch deutschen utopischen Sozialismus. Weitling galt als „Quelle“, die auf dem Weg von der Utopie zur Wissenschaft schließlich in den „wissenschaftlichen Kommunismus“ mündete. In der uralten Bundesrepublik, freundlicher lässt es sich kaum sagen, kam „Garantien der Harmonie und Freiheit“ erst 1977 bei Reclam Stuttgart heraus, vorher bei Rowohlt 1971 „Das Evangelium des armen Sünders“ und „Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte“ in einem Band. Selbst da war die DDR mit dem „Evangelium“ schneller: 1967, Reclam Leipzig, Band 345. Kommunismus, auch als Utopie, war eben im „Westen“ tatsächlich ein Gespenst, das umging. Wer braucht einen Weitling, wenn er einen Habermas hat, von Hans Magnus Enzensberger nicht erst zu reden?

Noch einmal zurück zu Heinrich Heine, der zehn Jahre vor seinen „Geständnissen“ einen Brief an seinen Freund Marx schrieb, Nachsucher dürfen in den verschiedenen Ausgaben den 21. September 1844 ins Auge fassen. „Liebster Marx! Ich leide wieder an meinem fatalen Augenübel, und nur mit Mühe kritzle ich diese Zeilen. Indessen, was ich Ihnen Wichtiges zu sagen, kann ich Ihnen anfangs nächsten Monats mündlich sagen, denn ich bereite mich zur Abreise, beängstigt durch einen Wink von oben – ich habe nicht Lust, auf mich fahnden zu lassen, meine Beine haben kein Talent, eiserne Ringe zu tragen, wie Weitling sie trug. Er zeigte mir die Spuren.“ Weitling war in Hamburg, seinen unter dem Titel „Kerkerpoesien“ tatsächlich auch erschienenen Gedichten den Weg zu bereiten. Um eine dritte Auflage der „Garantien“, wie behauptet wurde, ging es da nicht. Franz Mehring war es übrigens, der den Brief zuerst veröffentlichte, das geschah im Oktober 1895 in „Die Neue Zeit“. Mehring bringt den Namen Weitlings auch im Zusammenhang mit Friedrich Hebbel, er zitiert aus dessen Epos „Mutter und Kind“: „Heute sage ich Dir: noch ehe die dummen Gesetze / Dich erreichen, wonach der Dieb den wahren Besitzer / Straft, sind alle getilgt. Das habe ich selber von Weitling, / Dem es Christus vertraute, denn er ist lange schon unten, / Und sie sehen sich oft und sind die besten Bekannten.“ Eine „ungemein geistreiche Schilderung des Sozialismus“ sei das.

Und noch mehr Zusammenhang mit Hebbel kannte Franz Mehring: „Den proletarischen Standpunkt in Sachen der „gefallenen Mädchen“ vertrat gleichzeitig mit Hebbel schon in den vierziger Jahren der zeitlich erste Theoretiker des deutschen Proletariats, der Schneidergeselle Weitling“. Aus einer nicht genannten Quelle zitiert er immerhin 14 poetisch-pathetische Druckzeilen aus dessen Werk, endend mit: „Dann lasset ausströmen die früher in euren Busen widerrechtlich verschlossene Glut, die in eurem Herzen nagt und eure Tatkraft lähmt, ehe sie eine der Harmonie der Gesellschaft und eurer Gesundheit schädliche Richtung nimmt. Dann liebe, wer zum Lieben fähig ist!“ Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Adolf Harnacks „Das Wesen des Christentum“, einer 16-teiligen Vorlesungsreihe im Wintersemester 1899/1900, kommt Mehring ein weiteres Mal auf Weitling zu sprechen: „Der alte Weitling wusste schon, dass sich aus den Evangelien alles machen lasse; er machte sein Evangelium der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft daraus, wie die offiziellen Theologen seiner Zeit ein Evangelium der Tyrannei, der Bedrückung und der Täuschung daraus machten.“ Wo immer aber von Wilhelm Weitling die Rede ist, fehlt ein Name nicht, selbst wenn er nur im Literaturverzeichnis auftaucht: Waltraud Seidel-Höppner. Sie publizierte 1961 im Dietz-Verlag Berlin „Wilhelm Weitling – der erste deutsche Theoretiker und Agitator des Kommunismus“.

Das 206 Seiten starke Buch fußte auf ihrer Doktorarbeit im Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. 47 Jahre später, die einst vom Zentralorgan „Neues Deutschland“ in der Reihe „Unser Porträt“ (14. März 1964) vorgestellte junge Wissenschaftlerin ist inzwischen 80 Jahre alt und der 200. Geburtstag von Wilhelm Weitling steht an, geschieht etwas in der gesamtdeutschen Medienlandschaft bis heute immer noch Ungewöhnliches: Waltraud Seidel-Höppner schreibt die Jubiläums-Artikel sowohl für die Hamburger „Zeit“ als auch für „Neues Deutschland“. Letzterer Beitrag enthält beinahe mehr zeitkritisch-spätklassenkämpferische Seitenhiebe als Aussagen über Weitling selbst, der andere Beitrag für die Wochenzeitung füllt eine ganze Seite und erweckt den Eindruck, die Geschichte von Marx, Engels und Lenin müsse ebenso neu geschrieben werden wie die der deutschen, der englischen und der amerikanischen Arbeiterbewegung. Am Ende beider Texte findet sich der dezente Werbehinweis auf ein im Jahr 2009 erscheinendes neues Buch von Seidel-Höppner: „Wilhelm Weitling – Freiheit für alle“, die zweibändige Monografie werde im Berliner Fides Verlag erscheinen. Zwei Bände erschienen tatsächlich, aber nicht 2009, sondern erst fünf Jahre später: 2014. Und nicht im genannten Verlag, sondern bei Peter Lang in Frankfurt/M. Allein das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst 260 Seiten, mehr als 1961 das ganze Buch.

Alfred Wesselmann (Jahrgang 1948), Gymnasiallehrer und Studiendirektor im Ruhestand, schrieb eine ausführliche und vor allem referierende Kritik zum zweibändigen Mammutwerk, man ist halbwegs informiert, was man auf 1900 Seiten Waltraud Seidel-Höppner finden kann, wenn man denn nach ihnen greifen sollte. Je nach Anbieter muss man derzeit zwischen 180 und 120 Euro auf den Tisch legen für beide Bände, die nunmehr „Wilhelm Weitling (1808 – 1871). Eine politische Biographie“ heißen, die „Freiheit für alle“ ist verschwunden. Eine politische Biographie sei es, so Wesselmann, weil „über die private Seite Weitlings nur wenig bekannt ist“. Gerade die aber, weiß jeder, der die Marktgesetze auch des Literaturbetriebs kennt, könnten ein wenigstens minimales Interesse für das Opus Magnum wecken über ein reines Fachpublikum hinaus, was so aber wohl der Wunschtraum von Autorin und Verlag bleiben wird. Hätte Weitling wenigstens versucht, mit der Gattin von Marx anzubändeln, müsste man hoffen: so aber: Bücher, Artikel, Zeitschriftenprojekte, Reden, Korrespondenzen, Debatten. „Klippen der Weitling-Forschung“, gern gestehe ich es, wäre vermutlich das einzige, was mich an allem interessieren würde, denn dieses einleitende Kapitel geht auch auf das eigene erste Weitling-Buch ein. Wesselmann, in Lengerich, wo er wohnt, wohl selten an die von dort aus gesehen seltsamen neuen Bundesländer denkend, hat eine Chance vergeben.

Es ist die Chance, Neugier zu wecken. „Ist Weitling so wichtig, dass eine neue Biographie erforderlich ist? Diese Frage ist mit einem unbedingten Ja zu beantworten.“ Schreibt der Kritiker und irrt gleich mehrfach. Denn das Erscheinen einer Biographie bedeutet keineswegs, dass sie erforderlich war. Im vorliegenden Falle wollte eine längst uralt gewordene Historikerin ihr Lebenswerk mit einem Monument krönen, was ihr formal gesehen gelungen ist. Umfang und Preis des Werkes es verhindern eine nennenswerte Rezeption, der Riesentext hätte nur eine Chance im Internet, wohin wissenschaftliche Texte bis heute leider eher selten gelangen, weil ihre Urheber die wahrscheinlich letzten Menschen sein werden, die an Printmedien hängen. Verlage, die von Druckkostenzuschüssen leben, gar solche, die ihren „Verlagsservice“ für fünfstellige Beträge bieten, haben kaum Interesse an nennenswerten Umsätzen, denn ihr Umsatz ist gelaufen, bevor das Buch selbst sich verkaufen soll. Hier aber hätten wenigstens DDR-Insider die Gelegenheit, einmal hinter die Kulissen der SED-Partei-Wissenschaften zu schauen, auf vermutlich lächerliche Hürden, die bisweilen zu überwinden waren, auf Parteilinien, die plötzlich keine mehr waren oder plötzlich zu solchen wurden. Einem Textvergleich hat sich der Kritiker Wesselmann nicht erkennbar unterzogen. Er musste das nicht, es wäre nur schön und gut gewesen. So folgt er nur den Gedanken der Autorin.

Die alles andere als uninteressant sind, natürlich. Die aber in fast allen wichtigen neuen Thesen gegenüber den alten der DDR-Weitling-Rezeption anfechtbar sind. Der Behauptung, Marx und Engels hätten dieses oder jenes nicht verstanden, wird kein vernünftiger Mensch widersprechen können, die beiden selbst hätten es auch nicht getan, die Behauptung aber, Marx und Engels hätten dies oder jenes im Vergleich zu Wilhelm Weitling nicht verstanden – genau dahin tendiert letztlich Waltraud Seidel-Höppner, ist barer Unfug. Bei Alfred Wesselmann liest sich die Essenz so: „Doch im gleichen Jahr 1846 „exkommunizierten“ Marx und Engels Weitling. Er wurde zur persona non grata der kommunistischen Bewegung gemacht.“ Sollte die Autorin das tatsächlich so geschrieben haben, müsste sie einem leid tun, denn vierzig und mehr Bände Marx und Engels sprechen eine andere Sprache. Natürlich stammt die Artikelfolge von Engels für „The New Moral World“ aus dem Jahr 1843, die zweite Folge in Nr. 21 vom 18. November 1843 trug den Zwischentitel „Deutschland und die Schweiz“, aber wie verblüffend gut ist er da über Weitling und seine Umstände in der Schweiz informiert? Man muss von Marx/Engels-Rezeption in der DDR gar keine Ahnung haben, um nicht zu wissen, dass mehr als 40 blaue Bände nahezu ausschließlich als Zitatenbergwerk benutzt wurden, man konnte mit Marx und Engels sowohl gegen als auch für Weitling sein, usw.

Mit einer gewissen Schadenfreude berichtete Engels seinen Lesern auch, dass der Prozess gegen Weitling in Zürich kaum nennenswerte Wirkung in den anderen Kantonen der Schweiz hatte und er entdeckte gewissermaßen ein fortlaufend offenes Geheimnis gleich mit: „Der Kommunismus war in Deutschland fast unbekannt, hierdurch aber wurde er zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit.“ Wir erinnern uns: Bis zur Ausbürgerung Biermanns kannte in der DDR ihn nur ein sehr kleiner Kreis, danach kannte ihn jeder und der Barde sang das auch: Das macht mich populär. Wilhelm Weitling aber war kein Sänger, viel eher ein Prediger mit Neigung zu Rhetorik und Pathetik. Man lese, wie er im „Aufruf an alle, die der deutschen Sprache angehören“ von 1841 rhetorische Abo-Werbung betrieb für die ab 1841 erscheinende Zeitschrift „Die neue Generation“. Nicht weniger als zehnmal beginnt ein Satz mit „Abonniert“. Sein Vorwort zu „Garantien der Harmonie und Freiheit“ endet: „Der Allmächtige ist unser Hort, die Freiheit unser Wort und die Veredlung und Vervollkommnung unserer Lehre das Zeichen, dass wir siegen.“ Vollkommen unreflektiert schreibt Weitling: „Die gesammelten materiellen und geistigen Kräfte meiner Brüder habe ich in diesem Werke vereinigt.“ Wo sind die Schwestern, fragen wir in Zeiten, wo selbst Nachrichtensprecher vor „-innen“ eine Pause machen und man gespannt auf „außen“ wartet.

1843, als Wilhelm Weitling in Zürich der Prozess gemacht wurde, als Johann Caspar Bluntschli das Buch erscheinen ließ: „Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren“, kam ein gewisser Gottfried Keller nach drei Jahren in München in seine Geburtsstadt Zürich zurück. Er begann etwas, was er vorher nie und nachher nie wieder getan hat: er schrieb Tagebuch. Ob der nur sechs Wochen nach Weitling geborene Bluntschli (7. März 1808 – 21. Oktober 1881) unfreiwilliger Namensgeber für eine Figur in George Bernard Shaws „Helden“ wurde, mögen unermüdliche Forscher herausfinden, falls sie es nicht längst schon herausgefunden haben. Gottfried Keller aber, der am 8. Juli 1843 sein Tagebuch sogleich mit einer ambitionierten Philosophie des Tagebuchs eröffnete, befasste sich am Folgetag ausführlich mit Julius Eduard Hitzigs Biographie von E. T. A. Hoffmann. Und dann, am 10. Juli 1843, es war ein verregneter Montag, trostlos fand ihn Keller, geht es plötzlich und unerwartet um den Kommunismus. Gottfried Keller und der Kommunismus – was für ein wundersames Thema! „Dazu kommt nach das geheime, unheildrohende Gären und Motten des Kommunismus und die kecken, öffentlichen Äußerungen desselben. Das Nachdenken über diese wichtige werdende Zeitfrage macht mich konfus.“ Dennoch ist sich Keller in einer Hinsicht ziemlich sicher, was diesen gefährlichen Kommunismus betrifft.

„So viel scheint mir gewiss, dass mehr Elend als je auf Erden ist, dass der Kommunismus viele Anhänger gewinnt und schon hat und dass es nur einer Hungersnot bedürfte, um demselben mit aller Macht auf die Beine zu helfen.“ Weitling selbst hat es sehr viel vager und allgemeiner formuliert: „Eine Katastrophe muss den Bruch des Guten mit dem Bösen herbeiführen. Sie wird nicht ausbleiben, wenn jeder nach Kräften dahin strebt, sie vorzubereiten.“ Wäre demnach kommunistisches Streben im Vorbereiten von Katastrophen zu sehen? Man behalte diese Frage im Hinterkopf, wenn man heutigen Wiederbelebungsversuchen des Kommunisten Wilhelm Weitling auf den Grund kommen möchte. „Ein Prediger desselben, der Schneidergeselle Weitling, welcher ein Buch „Garantien der Harmonie und Freiheit“, mit Geist und Feuer darüber geschrieben hat, ist hier arretiert worden. … Indessen könnte ich dem Kommunismus des Weitling und seiner Freunde keine gute Seite abgewinnen, da er einerseits in Hirngespinsten besteht, welche unmöglich auszuführen wären, ohne das Elend größer zu machen, weil sie die ganze gegenwärtige Ordnung der Dinge nicht nur außen, sondern bis in unser Innerstes hinein umstürzen würden … hauptsächlich aber scheint es mir ein kurzsichtiger und gieriger Neid dieser guten Leute gegen diese Welt zu sein.“ Schlicht ins Tollhaus oder einfach zum Teufel wünscht Keller diese Kommunisten.

Ohne den Namen Weitlings zu nennen, kommt der Tagebuchschreiber am 16. Juli 1843 noch einmal auf ihn und seine Anhänger zurück. „Diese Kommunisten sind wie besessen. Ich habe mich zwei Stunden mit einigen herumgezankt; es waren Schneidergesellen samt ihrem Meister, und ein etwas studiert scheinender Bursche mit guter Zunge. … Der Meister aber ist ein heftiger Demokrat und ehrlicher Republikaner, welcher vom Kommunismus endliche Besiegung aller Aristokratie und ihrer Sippschaft hofft und darum an ihn glaubt.“ In Gerhard Kaisers Keller-Biographie kann man nachlesen, wer dieser Meister war: Konrad Wuhrmann (1798 - 1858), Freund von Kellers Vater und zeitweise Arbeitgeber von Weitling. Wuhrmann wurde Vorbild des Schneidermeisters Hediger in Kellers Novelle „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, die Band 2 seiner „Züricher Novellen“ eröffnet. Keller-Biograph Emil Ermatinger kennt noch die Episode, wie geistesgegenwärtig die Schneider-Gattin verdächtige Schriften in den Ofen schiebt, als es im Zusammenhang mit dem Weitling-Prozess plötzlich eine Hausdurchsuchung gibt. Der „Vorwärts“ druckte am 10. August 1844 „Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen“ von Karl Marx. Dort heißt es: „Was den Bildungsstand oder die Bildungsfähigkeit der deutschen Arbeiter im allgemeinen betrifft, so erinnere ich an Weitlings geniale Schriften, die in theoretischer Hinsicht oft selbst über Proudhon hinausgehn, so sehr sie in der Ausführung nachstehen.“ Von „diesem maßlosen und brillanten Debut der deutschen Arbeiter“ schreibt Marx bezüglich der „Garantien der Harmonie und Freiheit“.

Es ist völlig unsinnig, die frühen Äußerungen von Marx und Engels gegen die spätere praktisch-politische Haltung der beiden zu Weitling auszuspielen, die ihre frühere Sicht damit ja nicht etwa zurücknahmen. Dass sie Proudhon mehr als nur heftig kritisierten, über den Weitling hinausging, wenn auch nicht in der Ausführung, darf man nicht unbeachtet lassen. Dass Weitling zu keinem Zeitpunkt saubere begriffliche Scheidungen bevorzugte, sondern eher wie ein Literat das Vokabular wechselte, spricht nicht gegen ihn, aber auch nicht gegen jene Theoretiker, denen es wichtig war, Klasse von Stand zu scheiden, die auch zu unterscheiden wussten zwischen frühkapitalistischen Phasen der ursprünglichen Akkumulation und entwickeltem Industrie-Kapitalismus (in England). In den Briefen aus den „Französischen Jahrbüchern“ etwa hielt Marx vollkommen eindeutig fest: der Kommunismus, wie ihn die Franzosen Cabet und Dezamy sowie der Deutsche Weitling lehrten, „ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums und Kommunismus sind daher keineswegs identisch“. In seinem „Anti-Dühring“ schrieb Friedrich Engels deutlich später: „Diese Anschauungsweise ist wesentlich die aller englischen und französischen und der ersten deutschen Sozialisten, Weitling einbegriffen. Der Sozialismus ist der Ausdruck der absoluten Wahrheit, und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigne Kraft die Welt zu erobern.“

Verglichen mit Eugen Dühring und seiner „Umwälzung der Wissenschaft“ gewinnt Wilhelm Weitling selbst nationalökonomisch: „Der Arbeitslohn für gleiche Arbeitszeit soll gleich sein! Da hatten die alten französischen Arbeiterkommunisten und Weitling doch weit bessere Gründe für ihre Lohngleichheit.“ Ex-Kommunikation liest sich definitiv anders. Marx und Engels haben, das ist ein wissenschaftlich völlig normales Vorgehen, alle Theorien, die sie studierten, benutzten, nicht selten überwanden, historisch einzuordnen versucht. Sie haben also auch Wilhelm Weitling an den Platz in der kommunistischen Theoriegeschichte gestellt, an dem sie ihn stehen sahen. Dem muss man keineswegs blind folgen, man sollte allerdings auch nicht so tun, als könne man „Neubewertung“ Weitlings dadurch gewinnen, dass man von Marx, Engels, Lenin vielleicht ohnehin, einfach absieht. Ungefähr das aber macht Waltraud Seidel-Höppner, wenn sie ahnungslosen „Zeit“-Lesern suggeriert, Weitlings 1838 verfasstes Programm-Papier „Die Menschheit wie sie und wie sie sein sollte“ ginge „in einigen Punkten schon weit über jenes berühmte Manifest hinaus“, welches Marx und Engels als Verfasser hat und, was gern vergessen wird, Nachfolger eines „Kommunistischen Glaubensbekenntnisses“ war. Die Autorin kann dergleichen nur behaupten, wenn sie davon ausgeht, niemand vergleiche die Texte. Dabei enthält noch Weitlings Hauptwerk puren historischen Unfug.

Man lese nur das allererste Kapitel von „Garantien der Harmonie und Freiheit“: was für eine aberwitzige Verklärung einer menschlichen Frühzeit, die es so nie gegeben hat, dort ausgebreitet wird. „Hatte jemand ein reichliches Mahl bereitet, so setzte sich der Nachbar uneingeladen dazu“. „Glücklich ist nur der Zufriedene, und zufrieden kann nur der sein, der alles haben kann, was jeder andere hat.“ „Wenn sie die Menge unserer Arzneimittel nicht kannten: so kannten sie auch die Menge unserer Krankheit und Gebrechen nicht.“ Sie hatten im Schnitt nicht einmal die Chance, diese Gebrechen überhaupt kennenzulernen, denn bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 18 Jahren in der Steinzeit kam man gar nicht bis zu jener Gicht, die aus einseitiger Fleischnahrung sich herleitet oder zu jenen Darmverschlüssen, die schwerstverdauliche Körner verursachen. „Wenn aber alle Menschen des Erdbodens im Zustand der Gemeinschaft lebten und darin erzogen worden wären: so würden sie alle mitsammen freier und zufriedener Leben als die Bevorrechteten im heutigen Zustande der Ungleichheit, und wenn sie die Woche nur einmal Fleisch essen und nur einmal Wein zu trinken hätten.“ Mit dem Wein in der Urzeit hatte es seine eigene Bewandtnis: es gab ihn gar nicht als Getränk. „Es ist eine heilige Pflicht, seinen Mitmenschen den Weg zu bezeichnen, der zum Ziele führt, und vor Irrwegen sie zu warnen.“

Das steht so in der angeblich weit über das Manifest von Marx und Engels hinausführenden Programmschrift, ebenfalls dies: „Aber es bedarf auch Apostel der neuen Lehre, welche die Massen über den wahren Zustand der Gütergemeinschaft aufklären“. Apostel? Allen Ernstes forderte Weitling später in den USA, wo er die letzten 17 Jahre seines Lebens verbrachte, gleichen Lohn für alle Staatsbeamten, gleichen Lohn wie alle Staatsbeamten für alle, die arbeiten, egal, was sie arbeiten und auch für „alle Alten, Kranken, Krüppel und Kinder, und überhaupt Alle, die nicht arbeiten können und Erhaltung verlangen, so anständig wie seine Beamten.“ Dagegen sind heutige Forderungen von Post-Kommunisten und einigen anderen Politikern nach einem bedingungslosen Grundeinkommen neoliberaler Hardcore-Kapitalismus. Das nicht nachgewiesene Zitat ist einer Schrift entnommen, die auch zum 150. Todestag von Weitling noch Erwähnung verdient. Hans-Arthur Marsiske (Jahrgang 1955) schrieb für das Magazin der „Sozialistischen Zeitung“ Köln (SoZ) einen Beitrag mit dem Titel „Der erste deutsche Kommunist. Wilhelm Weitling (1808 – 1871) – der vergessene Pionier der Arbeiterbewegung“. 14 Jahre später feierte das Blatt sein 25-jähriges Bestehen, Weihnachten 1997 war es also noch sehr neu und jung. Ob auch frisch, ist fraglich. Denn es war Organ einer Partei, die sich aus einer maoistischen und einer trotzkistischen vereint hatte.

Dass zum Jubelfeste auch ein Vertreter der „Jungen Welt“ aus Berlin anreiste, versteht sich fast von selbst. Ebenso, dass ein ehemaliger jw-Redakteur Erwähnung fand, der von linken Kleinstmedien forderte, mehr journalistisch zu werden, „statt umstandslos bei jedem Thema in den Analyse-Modus zu verfallen.“ Ja, der Leser möchte wirklich nicht bei jeder neuen Protestgruppe, die sich rote Nasen umschnallt oder das linke Ohrläppchen grün färbt, oder sich eine getrocknete Nordseekrabbe ins Haar bindet, den Zusammenhang mit der Weltrevolution, Georg Fülberth oder dem Fieberkurven-Verlag erläutert bekommen. Marsiske aber entdeckte 1997 in Wilhelm Weitling vor allem einen in dieser Hinsicht bis dato völlig verkannten Frühkritiker der Theorie vom Sozialismus in einem Lande und im Gefolge dessen dann gar dies: „Mit dieser Prognose dürfte Weitling der erste Kommunist gewesen sein, der den Bau der Berliner Mauer und die damit verbundenen Probleme vorhergesehen hat.“ Es hilft zu wissen, dass die vierte, die trotzkistische Internationale den Stalin-Gegner Trotzki unter anderem deshalb fast kultisch verehrte, weil er eben gegen die These vom möglichen Sozialismus in einem Lande (und etliche andere) opponierte. Dass ein gewisser Lenin von der Pseudo-Weiterentwicklung der Theorie durch Stalin auch schon nichts wissen wollte, stimmt zwar, passt aber nicht ins Weltbild der Sektierer der Vereinigten Sozialistischen Partei.

„Mit Weitling trennte sich die kommunistische Bewegung von einem ihrer klügsten Köpfe und begabtesten Führer. Die entstandenen Lücke konnte später nie wirklich gefüllt werden.“ Die Lücke, die die westdeutschen K-Gruppen hinterlassen haben, ersetzt sie dagegen vollkommen. Wann Wilhelm Weitling sich sein Wissen wie aneignete, scheint auch auf 1900 Seiten neuer Riesen-Biographie von Waltraud Seidel-Höppner ungeklärt geblieben: die Nachwelt darf es bewundern, muss es sich aber nicht vorzustellen versuchen. Wenn es stimmt, was Alfred Wesselmann konstatierte: „Auch alle weiteren oben erwähnten Vorwürfe kann Seidel-Höppner überzeugend widerlegen“, dann sollte auch das stimmen, was er weiterhin glaubt: Marx und Engels „haben kein Verständnis für die vorindustrielle Arbeiterbewegung.“ Gerade weil sie dieses Verständnis hatten, setzten sie nicht auf den Handwerkerkommunismus. Wesselmann hat natürlich auch Einwände: Mormonen-Siedlungen und die DDR erscheinen ihm bei der DDR-Historikern in zu mildem Licht. „Wichtiger ist vielleicht der Einwand, dass die Herrschaft der Wissenschaft, der Experten, der Platonische Staat der Philosophen, von dem Weitling so oft voll Überzeugung schreibt, von der Autorin kritischer hätte gewürdigt werden können.“ Weitling kam aus Magdeburg, war aber deshalb keineswegs frühester kommunistischer „Ossi“. Auch wenn er, angeblich, die Mauer voraussah.


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