Vor 70 Jahren starb Ferenc Molnár

Es war einmal ein Schlummermärchen. Das hieß sogar ganz schlicht nur „Schlummermärchen“, ohne jeden Artikel, und aufgeschrieben hat es ein Mann, dem manche, also eigentlich sehr viele, gar nicht den Titel eines Dichters zuerkennen mochten (und es bis heute nicht mögen). Weshalb sein Märchen in Büchern, die Titel haben wie „Märchen der Dichter“, einfach nicht vorkommt. Aber auch Bücher, die „Die Traumflöte“ heißen oder „Die blaue Blume“, kennen dieses Märchen nicht. Etwas nicht kennen ist viel verbreiteter als etwas kennen, wir sollten also die Kirche im Dorf lassen, falls eine dort steht, es könnte ja auch sein, dass der Mann, der das Schlummermärchen schrieb, gar nicht so richtig wusste, was denn ein Märchen sei. Dann hätte er das nur Märchen genannt, was er schrieb, und es war dennoch einfach keins. Immerhin beginnt dieses Märchen statt mit „Es war einmal“ mit einer Art Gebrauchsanweisung. Und die geht so: „Mit diesem Märchen können Witwen ihre kleinen Kinder oder gute Kinder ihre alten und müden Eltern einschläfern. Das Märchen muss leise, aber flüssig erzählt werden, anfangs lebhaft, als sei es wahr, dem Ende zu jedoch langsamer und sanfter, damit am Schluss derjenige, dem es erzählt wurde, eingeschlafen ist.“

Halten wir also fest: Dieses Schlummermärchen enthält den Warnhinweis: Für verheiratete Mütter ungeeignet. Auch für schlechte Kinder wäre es wenig brauchbar, falls sie ihre Eltern einschläfern wollen. Solche Kinder greifen eher zur Flasche mit dem roten Schlummertrunk und prosten ihren Eltern scheinheilig zu. Schließlich ist von alten und müden Eltern die Rede, was junge und muntere Eltern nach heutigem Denkgebrauch diskriminieren würde. Obwohl heute wiederum die alten Eltern eher der Regelfall sind, ausgestattet mit trainierter Munterkeit. Richtig los geht das Märchen dann so: „Im Stadtwäldchen lebte in einer der Buden ein sonderbarer Mensch. Man nannte ihn Závoczki. Dieser Závoczki war ein großer Gauner, er kränkte einen jeden, prügelte viele durch, versetzte einigen auch Messerstiche, er stahl, betrog, raubte und war doch ein guter Kerl, den seine Frau sehr liebte.“ Ich mag niemanden verunsichern, aber: Ein Satz wie „Man nannte ihn Závoczki.“ ist verdächtig. Weil er bedeutet: Man wusste nicht wirklich, wer das war und ob der Name auch in seiner Geburtsurkunde gestanden hatte. Vor vielen, vielen Jahren sah ich einen Film mit dem Titel „Man nannte ihn Hombre“, der Film war von Martin Ritt, von dem ich sehr viele Filme sah, und seither weiß ich: man nannte ihn ist nicht gleich: er hieß oder war. Das lässt sich merken, oder?

Noch immer fehlt der Name des Mannes, der das Schlummermärchen schrieb. Er lautet Ferenc Molnár. Und weil einer, der in Ungarn Ferenc heißt, in Deutschland ein Franz ist, ist er bei uns eher unter dem Namen Franz Molnár weithin vergessen. Dieser Ferenc, geboren am 12. Januar 1878 in Budapest, war einst so unfassbar berühmt und verdiente mit dem, was er schrieb, vor allem, was er für Bühnen schrieb, so viel Geld, dass er gar nicht anders konnte, als Ziel allgemeinen Neides zu sein. Man könnte Zitatensammlungen füllen mit Sätzen, die diesen Ferenc (sprich Färräntz) Molnár (sprich Mollnaar) zu diskreditieren suchen. Sich seriös dünkende Theaterhistoriker schleichen an ihm auf klappernd leisen Sohlen vorbei, Lustspielhistoriker verstecken sich auffällig hinter einer vorgeschobenen Ablehnung von Vollständigkeit, um ihn ignorieren zu können und so weiter und so weiter. Komisch nur, dass unter den Molnár-Begeisterten solche sind, die an Geist die Neidischen und deshalb Maulenden ungefähr so sehr überragen wie Kalifornische Korkeichen den gemeinen Maulbeerbaum. Wie auch immer, die sechs Eingeweihten unter den acht Milliarden Ahnungslosen haben es längst erraten: das „Schlummermärchen“ ist doch die Keimform des „Liliom“. Und jetzt entspannen sich Gesichter der ältesten unter uns: „Komm auf die Schaukel, Luise!“ summen sie.

Auch wenn andere als Hans Albers, Max Pallenberg zum Beispiel oder Gustav Knuth oder später Helmut Lohner, diesen Liliom spielten: Albers ist so etwas wie der Inbegriff des Liliom geworden. Dabei war die Fassung, in der er spielte, eine auf deutsche, nicht mehr auf ungarische Verhältnisse zugeschnittene. Die welterfolgreiche deutsche Fassung stammt von Alfred Polgar, den man deshalb in all seinen Aussagen zu Molnár als befangen ansehen kann. Wenn man einen Mann denn als befangen ansehen möchte, weil man sein Meinen nicht teilt. Friedrich Torberg, geboren, als Molnár schon 30 Jahre alt war, hat fast gar nichts beigetragen zum Welterfolg Molnárs und gehört trotzdem in die Gruppe der Begeisterten. Seine überlieferten Kritiken (ich kenne neun) schlagen immer auch tapfer drauf auf die Blinden und die unter ihnen sich breit machenden einäugigen Könige. Man sollte ihm zuhören, was ein eigenes Thema ergäbe. Zu den Randbemerkungen am Tag seines Todes vor 70 Jahren dagegen sollte gehören, dass die hingeschiedene DDR mehr für das Andenken Molnárs getan hat als die hingeschiedene alte Bundesrepublik. Deutschsprachige Neuausgaben (oder Erstausgaben) nach 1945: in Österreich lange vor dem 100. Geburtstag eine 1972, in der DDR insgesamt drei, nördlich und südlich des Weißwurstäquators mit gutem Willen eine einzige.

Das spricht natürlich weder für die DDR noch für Österreich, denn die eine war die zweite deutsche Diktatur in Folge, das andere lieferte uns den Führer, es spricht allerdings auch nicht gegen Molnár, der tatsächlich immer wieder einmal gespielt wird. In der Regel kramen die Spielplan-Bastler den „Liliom“ heraus und wenn sie mal „Delila“ ausgraben, dann geschieht das in Rudolstadt. Da ich dies dort erlebte, verweise ich unbescheiden auf http://www.eckhard-ullrich.de/theatergaenge/2128-molnar-delila-oder-der-liebestest-theater-rudolstadt. Carl Zuckmayer behauptet in seinen Lebens-Erinnerungen, man könne mit Anekdoten über Molnár ganze Bände füllen. Das würde ich sofort begrüßen, wenngleich Bände im Plural vielleicht doch zu heftig den ruhigen Buchmarkt mit seiner Fixierung auf Romane stören würden. Ein Bändchen mit Molnár-Anekdoten wie es zum Beispiel Bändchen zu George Bernard Shaw gibt, das wäre schon nahe des hohen C. Als Ferenc Molnár 1952 in New York starb, die einen meinen, es war am 1. April, die anderen meinen, es war am 2. April, war er einer mehr, der aus dem Exil nicht nach Europa oder gar in seine Heimat Ungarn zurückgekehrt war. Alfred Polgar veröffentlichte einen Nachruf im New Yorker „Aufbau“, Friedrich Torberg sprach in Wien zu einer Gedenkfeier und arbeitete diesen Nachruf später mehrfach um.

1928, als der 50. Geburtstag Molnárs zu feiern war, gab es in Budapest eine zwanzigbändige Werkausgabe. Der ist bis heute nichts nachgefolgt. Nichts, was einfach die Jahre bis zu den letzten Publikationen 1950 ergänzt, geschweige denn etwas in neuer Ordnung. In eigener Zählung hat Ferenc Molnár 41 Bühnenstücke verfasst, hinzu kommen Romane, Erzählungen, Journalistisches, „Die Jungen von der Paulstraße“ aus dem Jahr 1910 wird hie und da als bleibendes Buch gesehen. Die „Memoiren eines Kriegsberichterstatters“ (1916) möchte man heute vielleicht wieder einmal in die Hand nehmen, um zu sehen, wie wenig sich ändert unter der Sonne, wenn es gilt, Wunschbilder von Kriegen zu erzeugen oder Schreckbilder. 2007 ergingen sich die deutschen Feuilletons zu Molnár anhand zweier Inszenierungen des „Liliom“ des langen und des breiten. Karin Henkel, damals noch in Stuttgart und nicht auffällig als Theaterkritik-Hasserin, und Christine Eder am Münchner Volkstheater lieferten den Stoff für Doppel-Rezensionen, die das Herz jedes Archivars höher schlagen lassen. Mein Archiv weist einen signifikant hohen Frauenanteil darunter aus, also Rezensentinnen, und bis zum Jahr 2018 dauerte es, bis das neue Lieblingswort „toxisch“ auch in die Molnár-Besprechungspraxis schwappte: ein Hoch der überbordenden Originalität diesbezüglich.

War Liliom, könnte eine Frage von Beckmesser 2.0 lauten, schon immer toxisch, also 100 Jahre lang, und niemand merkte es, oder wurde eine völlig neue Seite an ihm entdeckt, der Frau und Tochter schlug und beide fanden es weder schmerzhaft noch als Grund zum Umzug ins kommunale Frauenhaus? Vera Thies, Übersetzerin aus dem Ungarischen, Vor- und Nachwort-Autorin zu Molnár, schrieb 1980: „Heute jedoch hält die ungarische Literaturgeschichtsschreibung seine Prosa für den wertvolleren Teil seines Schaffens.“ Das lässt vermuten, dass es im 40 Jahre späteren Heute abermals anders gesehen wird, falls es im Orbán-Ungarn überhaupt gesehen wird. Es selbst nachzuprüfen, wird deutschsprachigen Lesern schwer gemacht, denn Stückausgaben gibt es außer der des Leipziger Reclam-Verlages mit nur drei Werken gar keine, man müsste sich mühsam (und teuer) uralte und vermutlich nicht immer kongenial übersetzte Einzel-Ausgaben der Jahre ab 1907 beschaffen, hätte dann aber immer noch keinen Vergleich mit der Prosa, die, wenn sie so wertvoll wäre, umso schmerzhafter als vermisst zu melden bliebe. Als Závoczki, im Schlummermärchen, soeben seine kleine Frau bedroht hat, heißt der nächste Satz: „Damit ging er hinaus, schlug die Tür zu, versteckte sich im Hof und weinte die ganze Nacht bitterlich.“ Mehr Märchen geht kaum.

Der ungarische Regisseur Geza von Cziffra, einst mit Joseph Roth befreundet und deshalb auch Autor eines schönen Buches mit dem nicht unschönen Titel „Der heilige Trinker“, erzählt ein einem eher lieblos produzierten Büchlein „Im Wartesaal des Ruhms“ davon, wie ihn einst Molnár bat, ihm einen Sachsen zu besorgen, weil er in einem Dialog neben Berliner auch sächsische Mundart nutzen wollte. Man kam, die Details seien hier ausgeklammert, auf einen damals noch eher unbekannten, heute höchst bekannten Sachsen namens Erich Kästner. Der lehnte, angeblich, empört ab, es sei eines Molnár nicht würdig, mit Dialekt-Späßen zu arbeiten. Einmal abgesehen davon, dass das bis heute niemanden stört, besonders wenn es um das Sächsische geht, während all die Bayern und Schwaben, deren mündliche Äußerungen im Fernsehen nur mit Untertiteln zu ertragen sind, nur als urige Urtypen genommen werden, es kam leider zu keiner Zusammenarbeit. Dafür hat sich der Sachse Kästner zu Molnár (und keineswegs nur zu ihm) als Theaterkritiker für die „Neue Leipziger Zeitung“ geäußert. Es sind keine Texte, die im Theaterkritiker-Himmel als Faksimilé an den Wänden aus Wolkenwatte kleben werden für damals und immerdar. Die erste glänzt außerdem mit einer wirklich ärgerlichen Neigung zu Verallgemeinerungen, es lässt sich nicht verheimlichen.

„Diese Ungarn sind Illusionisten. Sie spiegeln etwas vor, was nicht ist. Sie sind keine Künstler, sondern Tausendkünstler. Sie haben in der linken Hand nichts, in der rechten nichts, im Ärmel auch nichts – und trotzdem wird etwas draus, wenn sie tüchtig mischen.“ Ein einziger Name noch hätte die Leser rund um den Leipziger Hauptbahnhof im Dezember 1928 in der Illusion gelassen, Kästner kenne sich aus mit diesen Ungarn und noch mehr mit den ungarischen Bühnenautoren, doch Pustekuchen. Immerhin zieht er zu „Olympia“ dies Fazit: „Solche Stücke muss es geben. Sie sind nicht langweilig. Sie belasten das Gehirn nicht.“ Den Einakter „Eins, zwei, drei“ nennt Kästner 1930 dann einen Sketch, was bei 60 Druckseiten (in der Leipziger Reclam-Ausgabe) dann doch eine eher mutige Aussage ist, wichtiger aber ist: „Ein theatralischer Hochgenuss ungewöhnlicher Art“. Das ist mal eine Mischung: Hochgenuss und auch noch ungewöhnlich! Vermutlich sind 97 Prozent aller Theatergänger schon ungewöhnlich zufrieden, wenn sie einen gewöhnlichen Hochgenuss erleben dürfen, egal wer ihn verursachte: die Darsteller sämtlicher Geschlechter, die Inszenierenden (die während das Stück läuft, ja gar keine mehr sind oder schon beim nächsten Stück), oder der ungewöhnliche Fall: die Feder, aus der das Werk tropfte oder floss.

Als ich vor mehr als vierzig Jahren das „Schlummermärchen“ erstmals las, hieß es gar nicht „Schlummermärchen“, sondern „Wiegenmärchen“. Die Übersetzerin hieß auch nicht Vera Thies, sondern Dorothea Koriath. Der Verlag Volk und Welt hatte diese Neuübersetzung offenbar in Auftrag gegeben, obwohl die von Vera Thies schon einige Jahre gedruckt vorlag. So konnten DDR-Leser eben zwei Übertragungen zur Kenntnis nehmen, falls ihr Interesse für Ferenc Molnár groß genug war. Mir scheint aus großem Abstand und mit meinen vernachlässigbaren Kenntnissen der ungarischen Sprache der Titel „Wiegenmärchen“ eher unpassend. Denn welche Mutter, Großmutter, verheiratet, geschieden oder verwitwet, erzählt Kindern, die noch in der Wiege liegen, überhaupt Märchen. Da wird wohl eher gesungen als flüssig los erzählt wegen der größeren Glaubhaftigkeit. Wie auch immer, am Ende meiner Notizen vom 12. August 1981 steht dies: „Das ist weit eher ein Märchen zum Muntermachen denn zum Einschlafen. Vielleicht wollte Molnár gerade das.“ Dreieinhalb Wochen früher, 18. Juli 1981, füllte ich drei handschriftliche Seiten zu „Kohlendiebe“. Diese bei marxistisch-leninistischen Lesern besonders beliebte Geschichte (ihrer vermeintlich sehr deutlichen Gesellschaftskritik wegen) fand ich in der Anthologie „Der Kuss der Anna Szegi“, auch herausgegeben von Vera Thies und als Fortsetzung zu sehen von „Rokoska bläst Trompete“.

Sie stehen mit ihren rot-weiß-grünen Schutzumschlägen in der stattlichen Reihe meiner ungarischen Anthologien und wenn ich heute meine alten Überlegungen zu eben diesen „Kohlendieben“ lese, dann glaube ich, ohne die Erzählung selbst noch einmal hergenommen zu haben, dass die damalige Offizial-Lesart sehr gewollt und wenig treffend war. Molnár war kein Klassenkämpfer, auch wenn er ein solidarischer Mensch sein konnte. Als der spätere ungarische Marxist Georg Lukacs, ein paar Jahre jünger als Molnár, 1911 dem „Liliom“ gerade seine Bühnenqualitäten absprach, war das 40 Jahre danach, da eben dieser Lukacs die gewissermaßen letzte Instanz in Sachen Literatur, Ästhetik, Philosophie-Geschichte darstellte in der jungen DDR, wenn auch nur bis zu seiner Verwandlung in eine Persona non grata nach 1956, womöglich folgenreicher als heute zu ahnen ist. Doch Prosa in der Qualität der „Kohlendiebe“, das scheint mir sicher, hätte Molnár kaum einen Platz in der ungarischen und europäischen Literaturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesichert, wie auch immer schließlich dieser Platz näher zu definieren wäre. Ich schließe mit einem Zitat von Alfred Polgar: „Er war ein viel zu guter Menschenkenner, um ein rechter Menschenfreund zu sein. Aber sein Herz schloss nicht fugendicht.“ Das ist ein tröstlicher Satz von einem Menschenkenner.


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