Tee bei Johanna Schopenhauer

Kein Satz, den Johanna Schopenhauer in ihrem 71 Jahre währenden Leben je geschrieben hat, und sie hat sehr viele Sätze zu Papier gebracht, ist so berühmt geworden, wie jener, den sie am 24. Oktober 1806 an ihren Sohn Arthur schickte: „Ich empfing sie, als ob ich nicht wüsste, wer sie vorher gewesen wäre, ich denke wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben.“ Die Rede ist, wen überrascht das im ständig nach mehr Allgemeinbildung und historischem Wissen lechzenden Volk der Dichter und Denker mit seiner ans Wundersame grenzenden allgegenwärtigen Lesekompetenz, von Christiane Vulpius, der geächteten und verächtlich gemachten Lebensgefährtin Goethes. Johanna Schopenhauer war es, die die Mutter Augusts, die „dicke Hälfte“, den „Bettschatz“ letztlich und spät gesellschaftsfähig machte.

Kaum ein biographisches Goethebuch verzichtet auf das genannte Zitat, es ist so bekannt, dass auch Autoren mit dem Minimalwissensschatz für Notabiturienten, wenn sie losgelassen werden, von der Tasse Tee reden, die Johanna der Christiane reichte, als wäre letztere die Dürstende in der Wüste gewesen, die zu laben war mit dem Schwämmchen auf den Lippen. Tatsache ist, dass der Geheimrat Goethe, der vom beherzten Auftreten Christianes, als die plündernden Horden der bei Jena siegreichen napoleonischen Armee auch dem Frauenplan zu Leibe rücken wollten, wohl mehr beschämt war, als er je würde ausdrücklich zugeben können, der Gastgeberin Johanna Schopenhauer über das übliche Maß von Höflichkeit hinaus dankbar war. Die am 9. Juli 1766 Geborene, die sich erst im September 1806 in Weimar angesiedelt hatte mit ihrer Tochter Adele, begründete mit ihren Teegesellschaften den ersten geselligen Mittelpunkt der Stadt, der nicht an die Hofgesellschaft gebunden war.

Nicht aufwändige Bewirtung zog in erster Linie die zahlreichen und honorablen Gäste an, da gab es Butterbrote und Punsch, keineswegs nur Tee, es war die Atmosphäre, die offensichtlich adligen wie bürgerlichen Teilnehmern beiderlei Geschlechts unwiderstehlich erschien. Fast acht Jahre, bis 1814, gehörte Goethe dazu. Ihm bereitete die Gastgeberin besondere Annehmlichkeiten. Er konnte, wenn ihm so war, den Gesprächskreis unauffällig verlassen und ein wenig zeichnen, wenn er mochte, ein eigens dafür installierter Tisch stand parat. Und Johanna, was immer man ihr nachsagen mag, wenn man seine Sympathien eher und dennoch keineswegs notwendig gleichsinnig auf die Kinder Arthur und Adele fokussiert statt auf die aus Danzig stammende Mutter, war gebildet, schlagfertig wohl auch und sie konnte mit feinem Humor formulieren.

Als vor ein paar Jahren in kurzer Folge gleich zwei biographische Bücher zu Johanna Schopenhauer auf den Buchmarkt drängten, gab es über das Faktum als solches Wohlwollen, die Bücher selbst und ihre Autorinnen mussten sich eher mit kritischen Stimmen auseinandersetzen. Im inzwischen selig, wenn auch kaum freiwillig entschlafenen Leipziger Reclam-Verlag erschien 2002 „Johanna Schopenhauer. Lebe und sei glücklich als du kannst“ von Ulrike Bergmann. Ludger Lütkehaus hielt sich in der Deutschlandradiosendung vom 17. Juni 2002 zum Buch kurioserweise nicht lange bei Bergmann auf, sondern widmete sich deutlich ausführlicher Gabriele Büch und ihrem „Alles Leben ist Traum. Adele Schopenhauer. Eine Biographie“ (Aufbau-Taschenbuch Nr. 1797, Berlin 2002). Zu Ulrike Bergmann heißt es, sie lege „eine wohlinformierte, aus den primären Quellen gearbeitete Biographie vor, die Einfühlung mit kritischer Distanz verbindet. Der kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Hintergrund ist vorzüglich präsent.“

Mechthilde Vahsen dagegen ist zunächst wichtig, was Lütkehaus gar nicht erwähnt, nämlich, dass es sich um eine Romanbiographie handelt. Sie nennt auch die eigentliche Profession der Autorin schon einleitend, die Lütkehaus ebenfalls ausklammert. Bergmann ist Juristin und nicht etwa Literaturhistorikerin. Gründliche Recherche erkennt auch Vahsen, sie sieht jedoch Schwächen in der zweiten Hälfte des Buches. Ihr fehlen eben die literarhistorischen Zusammenhänge, sie bemängelt die Durchmischung von Biographie und Fiktion. Das freilich haben Romanbiographien so an sich, sonst wären sie nämlich keine. Noch heftigeres Missfallen äußert Annette Seemann zu Carola Sterns „Alles, was ich in der Welt verlange. Das Leben der Johanna Schopenhauer“ (Kiepenheuer & Witsch Köln 2003). Der Hinweis auf die Startauflagenhöhe von 100.000 Exemplaren, mit dem Seemann ihre Besprechung einleitet, lässt freilich ahnen, aus welcher Grundstimmung womöglich ihre dezidierte Ablehnung dieser Biographie erwuchs (Deutschlandradio, 18. November 2003).

Der prosperierende Biographienmarkt, auf dem sich eine überschaubare Zahl von schreibenden Branchenführern und -führerinnen fest etabliert hat, weckt verständlichen, bisweilen zutiefst verständlichen Neid. Und solange Rezensenten, die aus Zeitnot oder weil sie dergleichen für Bildungsprotzerei aus der spießbürgerlichen Epoche vor 1968 halten, keinerlei Umfeld und noch weniger Vorfeld mehr in ihre Betrachtungen einbeziehen, so lange können die Biographienfließbänder ebenso schwache wie überflüssige Produkte en masse ausstoßen. Unangenehm nachdrücklich vermittelte mir zuletzt solches Empfinden Dagmar von Gersdorffs „Goethes erste große Liebe Lili Schönemann“ (Insel-Bücherei 1229). Nichts, aber auch gar nichts in diesem für sich genommen keineswegs schwachen Buch hat auch nur den geringsten Neuigkeitswert, alles ist oft und immer wieder erzählt worden. Wer je mit Lili sich intensiver zu befassen hatte, konnte sämtliche Zitate auch in der Reihenfolge schon mitsprechen.

Zurück zur Dame mit dem Tee. Nicht weniger als 24 Bände umfasst eine Werkausgabe, die 1830/1831 erschien, als Goethe noch lebte. Der hatte sich zuvor schon lobend über den 1819 zuerst erschienenen dreibändigen Roman „Gabriele“ geäußert, dem weitere Romane, Novellen, Erzählungen und Reisebeschreibungen folgten. Auch die aktualisierte Fassung des WIKIPEDIA-Artikels zu Johanna Schopenhauer ist nicht hinreichend informiert, was aktuelle Ausgaben betrifft. Sie nennt lediglich die „Reise nach England“, 1973 im Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening erschienen, und eine Stuttgarter Neuauflage von „Ausflucht an den Rhein und dessen nächste Umgebung“ aus dem Jahr 1988. Doch gibt es seit einigen Jahren schon den von Goethe besprochenen Roman neu bei dtv München, es gibt die Erzählung „Der Schnee“, die in der alten Werkausgabe in Band 23 mit „Claire“ gedruckt worden war. Seit nunmehr 35 Jahren liegt eine 540 Seiten starke Sammlung von Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen vor, Titel „Ihr glücklichen Augen“ (Verlag der Nation Berlin 1978), der Wiener Promedia-Verlag hat „Promenaden unter südlicher Sonne. Die Reise durch Frankreich 1804“ neu aufgelegt, im Duisburger Mercator-Verlag kam 1987 „An Rhein und Maas“ heraus. Genügend Angebote, auch jenseits der Biographie-Texte die Autorin selbst kennenzulernen.

Wer sich in den Antiquariatsnetzwerken umschaut, wird finden, dass selbst Originalausgaben aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts bisweilen zu moderaten Preisen zu bekommen sind. Hier soll nur kurz der „Reise nach England“ gedacht werden, die mein altes Hollandfahrer-Herz schon auf den ersten Seiten höher schlagen ließ. Was natürlich subjektiv ist. Der Humor aber, mit dem sie erzählt, spricht wohl auch die an, die nicht schon selbst durch Deventer spaziert sind oder durch  Almelo (sie nennt es Allmela). Sie nennt Holland das „gelobte Land der Anstreicher“, als sie die schönen Häuser sieht in frischen Farben, frisch geweißt. Sie erklärt sich das ständige Rauchen sämtlicher Holländer und Holländerinnen ebenso wie den Genuss des Wacholderschnapses (Genever heißt der, es gibt wunderbare Sorten davon) mit der feuchten bösen Luft an den Grachten. Wenn Johanna Schopenhauer die Überfahrt von Calais nach Dover schildert, die Nöte der Windstille, die Raffgier der Kapitäne, dann ist das reine Genuss-Lektüre.

Wer je verstehen will, welches Problem der antike König Agamemnon auf Aulis zu lösen hatte, als einfach kein Wind kommen wollte, bis er bereit war, die eigene Tochter Iphigenie im Tausch gegen Segelwetter zu opfern, der lese einführend die wenigen Seiten, in denen sich der Satz findet: „Von allen Kontraritäten, die unser armes Leben verbittern, ist konträrer Wind bei einer bevorstehenden Seereise eine der ärgsten.“ Mir steht sofort wieder das riesige Luftkissenschiff Hovercraft vor Augen, dessen allerletzte Ausfahrt gen Dover ich 2001 von Calais aus winkend beobachtete. Iphigenie hatte einfach das falsche Jahrtausend erwischt. Freilich rotten sich heute zehn Könige  nicht mehr zusammen einer einzigen Helena wegen, heute muss unter Helenas Füßen schon ein solides Erdölvorkommen sich verbergen, welches die Menschenrechtslage der schönen Dame dann allerdings extrem prekär macht, mit friedlichen Mitteln kaum zu entspannen.

Natürlich habe ich mit Wonne gelesen, wie Johanna Schopenhauer die Londoner Sauberkeit registriert und dann über die Geschäfte staunt: „... wieder andere haben in ihren Läden Brieftaschen, nichts als Brieftaschen.“ Ach, Johanna, ich stand zu London vor einem mehrstöckigen Umbrella-Laden, Schirme, nichts als Schirme. Dass der bärbeißige Arthur Schopenhauer, der, wundersam genug, bei der Pleite des Danziger Bankhauses Muhl 1819 sein Vermögen rettete, während seine Mutter alles und seine Schwester Adele fast alles verloren, seiner Mutter im Witwenstand nicht einmal einen Hausfreund gönnt, macht ihn nicht eben sympathischer. Immerhin, zu den Weimarer Teegesellschaften ging er auch, freilich nur, wenn Goethe da war. Und Tochter/Schwester Adele nannte den Alten zeitlebens „Vater“. Wird berichtet.

1829 siedelten Johanna und Adele Schopenhauer an den Rhein um, um 1837 erneut nach Thüringen zu kommen. Der Großherzog Karl Friedrich hatte der Bitte der einstigen Teegesellschafterin entsprochen und ihr eine Ehrenpension gewährt. Wohnsitz sollte sie aber nicht erneut in Weimar, sondern nun in Jena nehmen. Ihrem schon im Reisebuch formulierten Prinzip: „Doch wir ergaben uns, weil wir mußten.“ folgt sie ein letztes Mal. Sie stirbt am 16. April 1838, auch wenn mindestens eine Quelle den 17. April vermeldet. Tochter Adele überlebt die Mutter um elf Jahre, Arthur, der Sohn, stirbt noch weitere elf Jahre später am 21. September 1860. (vgl. ARTHUR SCHOPENHAUER 225 in dieser Rubrik vom 22. Februar 2013).


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