Irmtraud Morgners Kleinigkeiten

Wäre ich eine Katze, dann könnte mir Irmtraud Morgner der heiße Brei gewesen sein, um den ich schlich. Eine erste frühe Kostprobe nahm ich nicht ihretwegen. Ich las „Vexierbild“, weil das Günter Kunert gewidmet war. Das Buch hieß „Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller“. Schon auf „Bootskauf“ im selben Buch verzichtete ich, denn das ging um Ludwig Turek. „Ein Prolet erzählt“ war einfach kein Buchtitel für mich. Und wenn ich nunmehr nachschaue, dann werde ich den Eindruck nicht los, Morgner habe ohne ein einziges misstrauisches Wort gegen Turek ihr ganzes Misstrauen gegen ihn und seine proletarische Großsprecherei zu Papier gebracht. Vielleicht täusche ich mich auch. Vielleicht sind die geradezu himmelschreienden Abenteuer ja die wirklich erlebten. Dann wäre Turek tatsächlich von Moskau an die Riviera gesegelt mit einem Böötchen in erweiterter Einbaumgröße.

Kunert aber, den musste mir Morgner nicht erst sympathisch machen: „Günter Kunert ist eine erzpoetische Erscheinung. Die läßt sich nicht porträtieren. Man kann sich kein Bild von ihr machen, höchstens Bilder.“ Seltsam, dass sie sich dennoch vor allem an die allerfrühesten Sachen von Kunert hielt, um ihrer Liebeserklärung Fleisch auf die Rippen zu schreiben. Ansonsten mochte sie es gern so, was ich seinerzeit noch nicht für typisch halten konnte mangels Vergleich: „Nur ein politischer Dichter kann sich in Berlin zu Hause fühlen. Die Stadt ist unerbittlich: Sie erzwingt prinzipielle Entscheidungen. ... Kunert ist im unüblichen Sinn ein schamhafter Dichter. Ein Liebhaber von Pornographie im üblichen Sinn.“ Und so vor allem: „Männern steht von je ein von Frauen getragenes System an Organisation bereit für den Fall, da der Geist sich meldet....“ In ihrer Wortmeldung während des Schriftstellerkongresses 1973 fand sie das schöne und schlaue Wort „Frauenhalterordnung“.

Die begeisterten Sätze von Kurt Tucholsky über Irmgard Keun und ihren Humor ließen sich ziemlich problemlos auf den Humor von Irmtraud Morgner wenden. Auf den man sich einlassen muss. Beispiel: „Wenn ich bei Hunger nicht sofort aß, fiel ich um. Ich konnte zehn Kartoffeln essen. Eine Zeitlang erhielt jeder Schüler Schulspeisung in Form eines Brötchens. Wer einen Regenwurm fraß, gewann die Klassenration. Ich gewann zweimal einundvierzig Brötchen.“ Das muss nicht Autobiographie sein, wäre es das, wäre es dreifach reizvoll, also fast unerträglich. Es ist einem Vorabdruck aus „Hochzeit in Konstantinopel“ entnommen, dort nicht auf Wortgleichheit überprüft. Morgner hat, das fällt auf, wenn es um Zulieferung für Almanache oder Anthologien ging, auffallend oft Bruchstücke drucken lassen. Vielleicht wollte sie keine Originalbeiträge liefern, vielleicht hatte sie keine. Vielleicht aber wollte sie auch zeigen, dass ihren Großwerken eine gewisse Happenhaftigkeit eignet wie einem großen Salat der gesunden Küche. Dem das einzelne Crouton nichts nimmt oder hinzufügt. Der Putenbruststreifen auch nicht.

In den „Liebeserklärungen“ gibt es auch eine von Paul Wiens für Irmtraud Morgner. Mit dem war sie in zweiter Ehe ein Weilchen verheiratet. Drei Bände Personalakte (961 Blatt) und fünf Bände Berichtsakte (1723 Blatt) sind in jenem Ministerium von ihm erhalten geblieben, das seinen Sitz in der Berliner Normannenstraße hatte. Wiens konnte sogar an den KGB ausgeliehen werden, so toll war er als IM, als IMB. Laut Joachim Walther. Auch über Irmtraud Morgner hat er berichtet. Und Privatbriefe an sie bei Treffs an seinen Führungsoffizier übergeben, gleich im ersten und zweiten Ehejahr. Wie waren solche Ehen? Ihre erste führte sie mit Joachim Schreck, den die berühmte Anthologie „Saison für Lyrik“ 1969 seinen Job als Lektor kostete. Bei Brigitte Reimann kommt Morgner nur ein einziges Mal vor. Als Gegenstand bösen Neides: „Den 1. Preis für Erzählungen hat die Morgner, Gattin des Schreck (Schreckens-Lektor im Aufbau), für eine Geschichte, die wenigstens drei Stufen unter dem Niveau meines „Geständnis“ liegt.“ Notiert am 12. Februar 1960 zu Hoyerswerda.

Den Preis des Ministeriums für Kultur gab es für „Das Signal steht auf rot“, ein Buch, das 1959 erschien und von dem sich Irmtraud Morgner später öffentlich und nachlesbar distanzierte. Eine Erzählung mit dem Titel „Weißes Ostern“ dagegen, auch der „Hochzeit in Konstantinopel“ entnommen, hat es gar in mehrere Sammlungen geschafft, gefiel ihrer Autorin also. Dort wird ihr Humor grenzwertig, wenn sie die Erzählerin einen Geburtsvorgang schildern lässt, was freilich selbst einfühlsamen Männern so gar nicht gelingen kann. Das Kind, als es da ist: „An den Oberarmen warf die Haut ebenfalls Falten und fiel auch sonst überwiegend leger wie bei Welpen.“ Dagegen ist der Dialog der Gebärenden mit der Reinemachefrau, die noch keine Facility Managerin war seinerzeit, von höchstem Genusswert. Die Geschichte endet, ich weiß nicht, ob natürlich, mit: „Ich mühte mich zu begreifen, daß ich einen Sohn hatte.“ Als Annemarie Auer nach längerem gesundheitsbedingtem Schweigen ihren verbalen Endlos-Lobgesang auf Irmtraud Morgner in „Sinn und Form“ V/1976 veröffentlichte (der Luchterhand-Verlag brachte im April 1990 eine interessant gekürzte Variante davon), widmete sie eben der Geburtsgeschichte betonte Aufmerksamkeit.

1978 trat Irmtraud Morgner als Diskussionrednerin während des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR auf. Es war der Kongress nach Biermann und vor dem 79er Verbandsausschluss im Berliner Bezirksverband. In einer Atmosphäre innerhalb des Kleinstaats, da normale Sätze, gesprochen oder geschrieben, mutig genannt werden mussten. Auf den ersten Blick scheint Morgners Rede fast rasant mutig. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sie eine Ventilfunktion bediente innerhalb einer Veranstaltung, auf der Ruth Werner Stephan Hermlin Ohrfeigen anbot für eine Äußerung, die weder in der Verbandszeitschrift NDL noch im buchförmigen Protokoll für DDR-Leser dokumentiert, wohl aber mit drei Punkten gekennzeichnet wurde. (Der bekennende Kommunist Hermlin nannte sich selbst einen „spätbürgerlichen“ Schriftsteller.) Wie es auch war: Irmtraud Morgner hatte mit ihrer Rede etwas wie eine kleine Sternstunde. Sie zog einen kühnen Bogen vom Stuck im Schweriner Schloss über Jakob Böhme, den Schuster-Philosophen, zu Maxie Wander und ihren Protokollen „Guten Morgen, Du Schöne!“ Das wog Bände auf, das wirkte nach dem schwer erträglichen Geschwafel von Joachim Nowotny und Benito Wogatzki unmittelbar davor befreiend und durchaus sogar Hoffnung vermittelnd.

Sie wagte es, wenn es denn als Wagnis gelten durfte, den DDR-Philosophen das Bearbeiten von ausschließlich oder vorzüglich solchen Themen vorzuwerfen, die bereits von „den Klassikern“ so gut wie beantwortet waren. Sie sagte: „Es wäre schön, wenn zum Beispiel unsere Presseorgane neben Aufträgen für Reportagen von Schauplätzen der materiellen Produktion auch Aufträge für Reportagen über die geistige Produktion der herrschenden Klasse unseres Staates erteilte, statt den Schriftstellern eifrig mit Vorwürfen wegen zu sporadischer Gestaltung „des Arbeiters“ in den Ohren zu liegen.“ Und dabei ist es doch fast schon wieder kurios, wie selbstverständlich sie Zeitungen Organe nennt. Ich lasse noch zwei Zitate folgen, weil sie in höchster Verdichtung zum Kern des falschen Bewusstseins vorstoßen, das in der DDR herrschen zu dürfen meinte. „Man kann nichts erkunden, wenn vor Arbeitsbeginn festliegt, was man finden will.“ „Und wenn ein echtes Dokument unangenehm ist, muß nicht das Dokument, sondern die Realität, über die es berichtet, geändert werden. Von den Blicken unserer Gegner sollten wir uns bei der Erkundungsarbeit nicht stören lassen.“ Ähnliche Verfahren andernorts und zu anderer Zeit mildern den Befund eben nicht.

Unter die schönen Kleinigkeiten der Morgner rechne ich „Die Heiratsschwindlerin“, herausgelöst aus „Amanda“ für „Sinn und Form“, später in eine „Jetzt“ betitelte Alltagsgeschichten-Sammlung des Leipziger Reclam-Verlages geraten. Ich rechne darunter „Drei Variationen über meine Großmutter“, „Prunus Spinosa“ und natürlich die „Flaschenpostlegende“, beide aus der „Trobadora Beatriz“ entnommen. Das Bruchstück „Dunkles Domkapitel“ endet mit den Worten einer Anna: „Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können.“ Das Textstück „Himmelbett“ erzählt von nächtlichen Ausfahrten einer Patientin der urologischen Klinik im Krankenhausbett. Es geht bis zur Weidendammer Brücke und zurück. Tucholskystraße, Ziegelstraße, ja das kenne ich gut. Nur den Fernsehturm sah ich erst, als er fertig war.

Irmtraud Morgner wäre heute 80 Jahre alt geworden. Sie war die jüngste der drei großen Frauen des 33er DDR-Jahrgangs, die der Krebs vorzeitig aus dem Leben riss. Auch wenn ihr deutlich länger   blieb als Brigitte Reimann, als Maxie Wander, es blieb ihr zu wenig. Vielleicht kommt ja die Zeit, da ich mich von meiner Neugier auf die Zusammenhänge doch noch verleiten lasse, aus denen Irmtraud Morgners Kleinigkeiten jeweils gerissen sind. Auf Überraschungen bleibe ich gefasst.


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