Zum Klassentreffen 2019 in Gehren. Eine kleine Rede

Wäre ich ein Politiker, hätte ich es heute leicht. Ich müsste mir keine Gedanken darüber machen, ob ich das schon einmal gesagt habe, was ich Euch heute, sowohl gebeten als aus freien Stücken, vortragen möchte. Glücklicherweise bin ich kein Politiker, ich muss mir also etwas einfallen lassen. Ich beginne anständigerweise mit der Begrüßung. Also: seid alle, die Ihr da seid, herzlich willkommen hier im „Steinbruch“. Der Grund warum wir heute hier sind: am 1. September 1959 sind wir alle zusammen in Schule gekommen. Weil das am Sonntag in einer Woche genau 60 Jahre her ist, feiern wir ein bisschen. Alle, die noch so weit gesund sind und Lust darauf haben. Allen, die gekommen wären, wenn es ihre Gesundheit erlaubt hätte, wünschen wir von hier aus baldige Genesung. Aber es gibt auch eine inzwischen stattlich gewordene Reihe, die nie mehr irgendwohin gehen können, weil sie nicht mehr unter uns sind. Vielleicht machen wir es so: Ich sage die 19 Namen und wir stehen dann für ein kurzes Gedenken auf. Wir denken an: Reiner Bendig, Horst Domhardt, Werner Dreßel, Sigrid Erdmann, Reinhard Escher, Edeltraut Gawenat, Margit Hertwig, Günther Lattermann, Jürgen Minner, Joachim Möller, Jutta Möller, Frank Müller, Heinz Scheffler, Karla Schmiedeknecht, Bärbel Schreuer, Helmut Stößel, Reinhard Struppert, Ursula Stubenrauch, Rainer Wölfel.

Danke. Ich darf sagen, dass gestern, am Donnerstag, an allen bekannten und noch vorhandenen Gräbern, soweit sie von Gehren aus gut erreichbar waren, in unser aller Namen Blumen niedergelegt wurden. Ich denke, wir können dafür danken, dass das stellvertretend für uns getan wurde. Ich bitte schon jetzt um Entschuldigung, wenn meine Aufzählung nicht vollständig war, wir haben erst in der vorigen Woche zusammen gesessen und nach bestem Wissen und Gewissen die Namen gesammelt, die ich in alphabetischer Folge eben nannte. Nun aber zu uns. Ist es nicht ein ganz kleines bisschen schrecklich, dass dieses Jahr 1959 für uns nun 60 Jahre her ist? Ich war, als ich noch bei der Zeitung war, wie man bei uns so schön sagt, einmal zu einem Treffen geladen an der Goetheschule: Anlass 50 Jahre Abitur. Der Witz dabei, einer der „Goldenen Abiturienten“ war mein Klassenlehrer, mein Mathe-, Physik- und Chemielehrer. Sein Neffe Wolfgang Morgenroth aus Möhrenbach gehört zu denen, die mit uns 1967 hier „aus der Schule kamen“, auch wenn sie noch länger drin blieben. 2021 feiere ich, Regina Hille mit, selbst 50 Jahre Abitur, und es ist mir nicht nur eine reine Freude, daran zu denken. Und das nicht etwa, weil ich dort auch wieder reden werde.

Es ist, warum darum herumreden, das Älterwerden. Ich kann mich noch sehr gut an Zeiten erinnern, da wir ans Jahr 2000 dachten. Was haben wir uns als Kinder nicht für unsinnige Vorstellungen gemacht, was da sein wird. Vor allem aber dachte ich: dann bin ich 47 Jahre alt. Und das schien mir unfassbar alt. Als das Jahr 2000 dann schließlich da war, Ihr erinnert Euch, redeten alle von der Jahrtausendwende. Die es aber erst in der Nacht vom 31. Dezember 2000 auf 1. Januar 2001 gab. Es schien, als würden das damals nur Mathematiklehrer, sonst normale Menschen aber nicht begreifen. Obwohl es eigentlich ganz leicht ist. Nun sind seit dem Jahr 2000 schon wieder etliche Jahre ins Land gezogen und ich bin mir keineswegs sicher, ob ich noch einmal 47 Jahre alt sein möchte. Ich habe, vom Bauch her, das sogar im wörtlichen Sinn, kein Problem mit meinem Alter. Nur beim Nachdenken, dann schon. Denn selbst wenn wir optimistisch das Alter meiner Mutter, das Alter von Reinhardt Frankes Vater oder gar von Regina Hilles Vater als Maßstab nehmen: zwei Drittel und mehr sind weg. Mit dem, was ich heute nur ungern Rest nenne, wollen wir doch alle sorgsamst umgehen, öfter als früher alles tun, was uns Spaß macht, soweit wir es noch können.

Ehe uns aber die Melancholie feuchte Augen macht, ein kurzer Blick zurück: 1959. Im Westen, den wir mangels Mauer damals theoretisch sogar noch besuchen durften, war zwei Monate lang ein Lied an der Spitze der Hitparade, das selbst mir noch im Ohr klingt: „Am Tag als der Regen kam“ stand vom 1. August bis zum 30. September ganz vorn und schaffte es in der Jahres-Hitparade immerhin noch auf Platz 2. Hinter „Die Gitarre und das Meer“. Wer kennt die Interpreten noch? Richtig: Dalida und Freddy Quinn. Die Französin Dalida starb schon 1987 und liegt auf dem Pariser Friedhof Montmartre, ich habe 2003 ihr Grab gesehen. Freddy Quinn lebt noch und wird Ende September 88 Jahre alt. 1959 kam Fidel Castro zur Macht in Kuba und wir in der DDR hatten noch einen Präsidenten, nämlich Wilhelm Pieck, und einen Ministerpräsidenten, nämlich Otto Grotewohl. Der Mann auf Millionen DDR-Briefmarken, der mit Kinnbart, war damals nur Parteichef. Mehr brauchte er allerdings auch nicht zu sein, wie wir wissen, und nahm sich später doch noch mehr. Bis ihm sein Nachfolger alles nahm. So wäre es weitergegangen, wenn es weiter gegangen wäre. Doch wir wissen es, weil wir damit gerade 2019 nicht in Ruhe gelassen werden, und auch sonst: 1989 war das obere Ende der sozialistischen Fahnenstange erreicht. Paris kam nahe auch für Nicht-Rentner.

Für mich war 1959, noch vor dem ersten Schultag, Umzugsjahr. Wir zogen aus der Friedensstraße, wo wir zwei Zimmer, kein Bad, das Klo eine halbe Treppe weiter unten hatten und eine winzige Küche, in die Talstraße, wo ich ein eigenes Kinderzimmer bekam, bis 1979 mein Hauptwohnsitz. Seither bin ich Ilmenauer und Ihr seid, vor zwei Jahren sprach ich noch von der Zukunft Gehrens in dieser Hinsicht, nun auch mehrheitlich Ilmenauer. Ich kann das nicht schlimm finden, ich hoffe, dass Gehren gedeiht, wie Ilmenau gediehen ist in all den Jahren. An die neuen Straßennamen gewöhnen wir uns alle. Die Schule, in die wir am 1. September 1959 erstmals gegangen sind, steht noch, das wisst Ihr ja alle selbst. Ich habe das Klassenzimmer in Richtung Denkmal noch ganz gut vor Augen, auch das spätere, aus dessen Fenstern wir in Richtung Kindergarten schauen konnten. Ich habe die Turnhalle vor Augen mit ihren Kletterstangen und Medizinbällen, beides liebte ich nicht, wohl aber, wenn wir drinnen Völkerball spielten. Das dürfte man heute vermutlich nicht mehr so nennen. Ich erinnere mich an den Fahnenmast in der Mitte vor dem Beginn des grünen Schulhofteiles, wo es Appelle gab mit Halstuch, rechts und links nach hinten große Kastanien.

Wie Ihr alle, Reinhard Franke wird es uns ja vorführen, habe auch ich nach alten Fotos gesucht. Da war eins von einer Altstoffsammlung, da war die Zuckertüte. Alles, bei mir zumindest, so im Gedächtnis nicht mehr gespeichert. Noch keine drei Wochen ist es her, dass mein älterer Enkel in Berlin, frisch in die zweite Klasse gekommen, im Programm für die neuen ersten Klassen auftrat. Auch das war ein kleiner Zeitschreck: War nicht eben noch seine Schuleinführung? Jetzt schon ein Jahr um seither? Wahnsinn. Mein Enkel liest besser als ich am Ende der ersten Klasse und ich war kein schlechter Leser. Er hat schon mehr Kinderbücher gelesen als ich nach zwei, drei Jahren, er liest sogar seinem kleinen Bruder ganze Bücher vor und der hört zu. Jeder von Euch, der Enkel hat, kann nachempfinden, dass man da viel Freude frei Haus bekommt. Gibt es unter uns nicht sogar schon Urgroßeltern? Wie auch immer, dass 1959 die erste sowjetische Mondsonde auf dem Mond zerschellte, sie hieß Lunik 2, musste ich nachschlagen. Dass Nikita Chrustschow, der Mann, der in der UNO mit seinem Schuh aufs Rednerpult hämmerte, erstmals in die USA reiste, das interessierte uns damals nicht, die Wurst am Stängel kam später, da hieß unser Klassenlehrer schon Tesch.

Da ich in Euren Erinnerungen schlecht kramen kann, muss ich es in meinen tun. Ihr verzeiht mir das, wie ich weiß. Manchmal ist die Erinnerung nur eine Frage: war ich eigentlich gleich im Hort oder später? Später war meine Mutter Hortnerin, ihre letzte Klasse als Lehrerin hatte sie mit denen, die zwei Jahre vor uns in diese Schule kamen, 1957. Lange bewahrte ich eine Bestecktasche auf, die aus graugrünem Aida-Stoff bestand, hieß das so? den wir mit Kreuzstich bestickten. Das Fach hieß Nadelarbeit und hatte den Vorteil, dass ich als Soldat im Grundwehrdienst ab 1971 nie ein Problem hatte, einen Knopf anzunähen oder, selten genug tat ich es, einen Strumpf zu stopfen. Heute wirft man Strümpfe weg, haben sie ein Loch, ein Zehnerpack neue ist billig. Taugt aber auch nichts. Im Keller liegt bei mir eine Plastiktüte mit uralten Schulheften, die seit 30 und mehr Jahren Staub ansetzt, drin sollen sogar die allerersten sein aus der ersten Klasse. Die Schreibhefte mit den sehr großen Zeilen. Meine Lieblingszeile aus dem Lesebuch der ersten Klasse, der Fibel, lautet bis heute: „Susi, sei leise, alle lesen.“ Sanfte Pädagogik, könnte man heute denken. Heute lesen tatsächlich alle: nur halt auf ihrem Smartphone, Bücher sind eher aus der Mode gekommen.

Dieser Tage hörte ich im Radio eine Erklärung, was I-Dötze sind. Im Rheinland nennt man das so, was wir ABC-Schützen nennen. Weil man dort in der Schule mit dem I begann. Wir haben mit dem A begonnen und dem M. Deshalb hatte unser Lesebuch Sätze mit MAMA AM und einem Bildchen dazu. Ich glaube, wir hatten auch das O zeitig, wegen der OMA. Und zu Weihnachten 1959 waren wir mit dem Alphabet noch keineswegs fertig. Wir erlebten mitten im ersten Schuljahr, ich rede von der Klasse A, einen Klassenlehrerwechsel, es kam eine junge Frau, die erst Schmerbitz hieß und dann Dutschke. Sie löste den Mann aber, dessen Name mir nicht mehr einfällt, er war 1945 schon einmal aus dem Schuldienst entlassen worden, später reaktiviert, dann endgültig entlassen.Ich kann meinen Vater nicht mehr fragen, ob es tatsächlichen wegen Schlägen auf Finger geschah, wie später gemunkelt wurde. Und nach Frau Dutschke, die unsere ersten Zeugnisse unterschrieb, kam Fräulein Rossek. An ihrer Grabplatte stand ich dieser Tage erst. Als Schüler gehörte ich nicht zu ihrem Fan-Block. Später fand ich sie nett, weil sie überall in meiner Gegenwart nur gut über mich sprach.

Nun höre ich auf. Ich wünsche uns allen, natürlich auch dem einzigen Lehrer unter uns, Herrn Oßmann, einen Abend, den wir nicht gleich wieder vergessen.
Meine Rede wird wieder auf meiner Internet-Seite zu lesen sein, ab morgen, auch die alten von 2015 und 2017 sind dort nach wie vor zu lesen. Danke Euch allen für Eure Geduld beim Zuhören.


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