Willi Bredels Goethe

Ganz ohne Pathos ging es bei Goethe offenbar selten und Willi Bredel vermittelt in seiner Festrede auf der Goethefeier des mecklenburgischen Landtages im Staatstheater Schwerin am 28. August 1949 gleich eingangs eine uns heute seltsam anmutende Vorstellung, wie es zuging in der sowjetischen Besatzungszone, wenn große Klassiker-Ehrung angesetzt war. „Tausend Aktivisten, die Leistungsbesten beim demokratischen Aufbau unserer Heimat, waren eine volle Woche Gäste der Goethestadt Weimar.“ Die Erklärung ist höchst einfach: „Bei uns ist die Wahrung und Pflege der Kultur nicht mehr Vorrecht einiger weniger, sondern Angelegenheit und Aufgabe aller.“ Es muss nicht betont werden, dass das von Beginn an frommer Wunsch war und blieb. Dennoch wäre es falsch zu unterstellen, der fromme Wunsch sei nicht ehrlich gemeint gewesen. Bredel führte seinen Zuhörern vor, von wem sich das „bei uns“ energisch abgrenzen sollte. Zunächst sprach er nur von einem „meschuggenen Frauenzimmer“, später nannte er dann doch noch ihren Namen: Mathilde Ludendorff, Generalsgattin und Autorin einer der krudesten Verschwörungstheorien der jüngeren Literaturgeschichte. Sie hatte, verkürzt gesagt, Goethe zum Mörder Schillers gemacht.

„Der ungesühnte Frevel an Luther, Lessing, Mozart, Schiller“ hieß das Werk, 1931 in Ludendorffs Volkswarte-Verlag schon in zweiter erweiterter Auflage erschienen, Autorin Dr. Mathilde von Kemnitz-Ludendorff, offenbar im Hauptberuf nicht ausgelastete zweite Gattin jenes Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff, der nach dem ersten Weltkrieg seine zweite Karriere „völkisch“ ausrichtete und 1923 am Hitler-Putsch in München führend teilnahm. Mathilde Friederike Karoline Ludendorff, zwölf Jahre jünger als der Generalquartiermeister und Hindenburg-Stellvertreter, lebte bis 1966, ehe sie mit fast neunzig Jahren starb. Ihre unsäglichen Konstruktionen, als „Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte“ deklariert, fanden schon 1936 einen engagierten Widersacher in dem Jenaer Arzt und Professor Wolfgang H. Veil (1884 bis 1946), dessen Darstellung von Schillers Krankheit und Tod freilich kurz nach ihrem Erscheinen bei Johann Ambrosius Barth in Leipzig 1936 verboten wurde. Der Jenaer Universitätsverlag hat 1992 überaus verdienstvoll einen kommentierten Reprint der Veil-Arbeit ediert, in dem sich auch Auszüge aus dem Machwerk der Generalsgattin nachlesen lassen. Willi Bredel verzichtete in seiner Rede auf jegliches Detail. Wie auch sonst auf Quellenangaben, die wenigstens der Druckfassung durchaus zu Gesicht gestanden hätten.

So erfuhren seine Hörer nicht, welche Berliner Tageszeitung 1933 die glorreiche Idee hatte zu schreiben: „Wir sind nicht und wollen nicht sein das Land von Goethe und Einstein. Eben gerade das nicht!“  Dass Bredel dagegen setzte, versteht sich von selbst: „Stolz wollen wir bekennen: Wir sind und wollen sein das Land von Goethe. Eben gerade das!“ Warum er Einstein wegließ, bleibt sein Geheimnis. Dafür warf er einen summarischen Blick über die Zeit, in der Goethe lebte, auf die Zeitgenossen, die er hatte, um, vom Redeschwung hingerissen, arg vollmundig zu verkünden: „Nicht nur erlebt hat Goethe alle diese Zeitgeschehnisse, er hat sie mitgestaltet, hat ihnen durch sein Genie unvergängliche Male eingezeichnet.“ Mit dem weiteren Redetext korrigierte Bredel dann dezent seine eigenen allzu forschen Thesen, zu denen auch die noch gehörte, Goethe habe „zu den kompromißlos dem Neuen, Jungen, Zukunftsträchtigen aufgeschlossensten Geistern seiner Zeit“ gehört. Das weiß jeder besser, der die Goethe-Biographie auch nur ein wenig kennt, der Redner wusste es selbst, wie er wenig später selbst demonstrierte. Festreden haben, scheint es, system- und zeitunabhängige Eigenheiten, die man hinzunehmen hat, wenn man sie nicht zum allzu billigen Gegenstand von Spott und Satire machen möchte.

Sehr wohl aber soll herausgehoben werden, was 1949 vielleicht sogar ein wenig unterging als unmissverständliches Bekenntnis eines prominenten Schriftstellers mit exponierter Position in der werdenden DDR. Versuche, „Goethe in ein heute bestehendes weltanschauliches System zu zwängen“, weist Bredel zurück. Wohl nennt er kein solches System beim Namen, dennoch ist das Urteil eindeutig: „Nichts ist verfehlter als solches Unterfangen. Goethe diese Art Gewalt anzutun, heißt ihn mißverstehen und mißbrauchen.“ Um es noch deutlicher zu sagen, heißt er Goethe „den man zu Unrecht in seinen letzten Schöpfungen einen Realisten genannt hat“. Zuordnungen solcher Art, heute gern etwas einfallslos holzschnittartig genannt, haben zum Goethebild nie mehr als Etiketten beigetragen, nach denen offenbar ein unausrottbarer Bedarf besteht, weil die Reaktion immer Gegen-Etiketten sind, selten nur der völlige Verzicht auf sie. Verglichen mit späteren Reden ist auch herauszuheben, dass Willi Bredel der Klassiker-Zitier-Manie noch nicht verfallen war. Zwar fallen die Namen von Friedrich Engels und auch Franz Mehring, aber noch ohne die unterschwellige Drohgebärde späterer Praxis, die andere Sicht allein durch Namensnennungen ausschloss.

„Wir heutigen Deutschen verehren in Goethe den allen Neuerungen aufgeschlossenen, rastlos forschenden und vorwärtsstrebenden, den Forderungen des Tages verpflichteten, selbstwußten, modernen Menschen.“ „Wir heutigen Deutschen aber verehren in Goethe den großen Humanisten, den echten Patrioten und den vorbildlichen Friedensfreund.“ „Wir heutigen Deutschen verehren in Goethe den besten Deutschen seiner Zeit, der mit seinem literarischen Werk die geistige und kulturelle Einheit unseres Volkes herstellte und damit einer der erfolgreichsten Vorkämpfer für die tatsächliche Einheit der Nation geworden ist.“ Dreimal hat auf diese Weise Willi Bredel am 28. August 1949 die Tonart eines Glaubensbekenntnisses angeschlagen, die wohl nicht erst heute ein wenig unangenehm berührt. Dennoch wäre es falsch, der Tonart wegen zu überhören, was da gesagt wurde. Ein zu DDR-Zeiten verbreiteter polnischer Aphorismus besagte, eine Phrase sei eine zu Tode gerittene Wahrheit und es war üblich, den Akzent auf „zu Tode geritten“ zu setzen, wobei eben verdrängt wurde, dass immer noch von einer, freilich nicht von der Wahrheit die Rede war. Auch wenn heute selbst beschwingte Sonntagsredner zum Tag der deutschen Einheit auf solche Bredel-Sätze sicher umstandslos verzichten würden, sie haben ihre Substanz.

Beim Humanismus wäre ein Zwischenhalt einzulegen. Denn Willi Bredel stellte die doch einigermaßen erstaunliche These auf, dass (1949, der siebzigste Geburtstag Stalins rückte näher, der geradezu Orgien des verbalen Personenkultes auch in der DDR auslöste!!), die Menschen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in vielem sehr weit über Goethe hinausgekommen seien, „doch in einem ist er uns immer noch voraus und auch heute noch ein frischer Born, bereit uns zu erquicken – in seinem Humanismus.“ Leider führt er diesen vielleicht interessantesten Gedanken der gesamten Rede nicht weiter aus, kommt nur noch auf Maxim Gorki zu sprechen und dessen: „Mensch, wie stolz das klingt!“ Wenn Goethe im Humanismus voraus war, hieß das im Umkehrschluss, man selbst sei im schon so gesehenen besseren Deutschland zurück. Kommunistische Blindheit, Bredel vielleicht zu unterstellen, sieht anders aus. Wohl auch deshalb zitiert er resignative Töne des alten Goethe über die Deutschen aus dessen Nachlass: „Hätten sie alles gelten lassen und wären weitergegangen, hätten sie mit meinem Erwerb gewuchert, so wären sie weiter, wie sie sind.“ Das soll nun, klarer Wunsch Bredels, anders und besser werden.

Zu den weniger glücklichen Passagen der Rede gehört, was Bredel zu Goethe und dem alten Fritz, zu Goethe und Berlin im gleichen Zusammenhang sagt. „Er war so voll der Verachtung für die Affen, Papageien, Hunde und Untertanen, die er da sah, daß er aus Protest schwieg. Er schwieg auf der ganzen Reise und besuchte keinen der dort lebenden Schriftsteller.“ Solche Art von Protest sollte man auch dem bisweilen sehr eigenen Goethe nicht unterstellen, wie umgekehrt die bekannten Sottisen des Königs über Shakespeare und den „Götz von Berlichingen“, die Bredel zitiert, nicht über Gebühr betont werden sollten. Friedrich der Zweite war, wie er war und ihn auf die eine Wagschale zu setzen, wenn Goethe auf der anderen plaziert wurde, ist kein sehr sauberes Verfahren. „Sein Lebenswerk galt vor allem der Bildung der Deutschen zur Nation.“ So Bredel, der nur wenig vorher Goethes Aussage über die Rolle von Chausseen und Eisenbahnen bei der Herausbildung deutscher Einheit zitierte. Ob Goethe damit tiefes Verständnis für die gesellschaftsbildende Kraft der Produktivkräfte unter Beweis stellte oder einfach nur als einstiger Weimarer Minister und Verantwortlicher für den Wegebau im Herzogtum wusste, was Infrastruktur ist, soll hier nicht weiter erörtert werden.

Im Goetheheft der literarischen Zeitschrift „Heute und Morgen“ (August 1949), deren Chefredakteur Willi Bredel war, konnte man den Aufsatz „Von Valmy bis Erfurt“ nachlesen. Bredel hätte sicher die Möglichkeit gehabt, den von ihm bewegten Stoff gründlicher zu durchdringen, doch  scheint sein Ehrgeiz nicht in diese Richtung gegangen zu sein. Es fällt auf, dass er seine Quellen nicht einmal ansatzweise kritisch betrachtet. So entsteht der Eindruck, als seien die „Kampagne in Frankreich“ und die „Belagerung von Mainz“ in jeder Hinsicht zuverlässige und glaubwürdige  Darstellungen des von Goethe tatsächlich Erlebten, was allein schon durch den sehr späten Zeitpunkt der Niederschrift zweifelhaft ist. Bredel verfährt selektiv in der Auswahl seiner Zitate, was für sich genommen nicht ehrenrührig ist. Wenn es aber bezüglich der berühmten „Kanonade von Valmy“ tatsächlich nur darauf hinaus läuft, jenen immer wieder zitierten Satz zum Beleg zu nehmen für Goethes tiefe Einsicht in den Charakter der Epoche, für seine letztlich doch die Revolution bejahende Erkenntnis, dann ist das eben anhand des Textes nicht ohne Mutwillen aufrecht zu erhalten. Selbst wenn Goethe diesen Satz tatsächlich gesagt haben sollte, passt er eher zu dessen gesamtbiographischem Anliegen der späten Jahre als in die Umstände des Lagerfeuers, an dem Goethe sonst, wie er ja selbst bekennt, eher den Pausenclown, den Spaßvogel spielte.

Goethe hat sich, anders als Bredel glauben machen will, durchaus mutwillig in Gefahr begegen, es ist nachlesbar und er hat tatsächlich als sehender Kopf Mechanismen des Militärlebens beobachtet, die zeitunabhängig sind und heut immer noch gelten: „... man gewöhnt sich an Phrasen, mitten in den verzweifeltsten Zuständen Hoffnung zu erregen und zu beleben...“. Zu fragen wäre, warum Bredel diese sehr eindeutige Aussage nicht auf Goethes Selbststilisierung wenigstens probehalber bezieht, ihr Zutreffen könnte er immer noch leugnen. „Goethes Verhalten zur Revolution in Frankreich ist die eines universellen Geistes, dem nur eines fehlt: politisches Einschätzungsvermögen.“ Das aber soll ihm ausgerechnet an jenem Lagerfeuer plötzlich zugewachsen und in den Satz gemündet sein: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Man ersetze probeweise das „ihr“ durch „ich“ und ist vermutlich viel näher am tiefsten Sinn, als Goethe sich vielleicht selbst wähnte. Doch Willi Bredel, eben noch ziemlich klarsichtig, behauptet nun allen Ernstes: „Dies Wort war eine geschichtliche Tat.“ Für wen denn, da es doch buchstäblich Jahrzehnte unbekannt blieb?

Goethe habe die prophetische Erkenntnis gehabt, „daß es sich hier um keinen Zufallssieg der Revolutionäre handelt, sondern um den Anfangssieg einer unaufhaltsam vordringenden revolutionären Weltanschauung.“ Von kämpfenden Weltanschauungen ist bei Goethe weder so noch so die Rede, man darf hinter solcher Interpretation eher die sowjetische Deutung des Sieges über den deutschen Faschismus vermuten, die ja auch lieber den Sieg ihrer Ideologie feierte und ihrer Moral, als etwas den unsäglich mörderischen Verschleiß an Menschen und Material, der den Sieg mit einer fast dreifachen Opferzahl erkaufte als auf Seiten der Unterlegenen zu beklagen war. Militärhistorische Details jener Kampagne klammert Bredel ohnehin aus, sie sollen auch hier keine Rolle spielen. Immerhin klammert er die Seltsamkeiten der Goetheschen Weltsicht nicht aus, er zitiert die Verse: „Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, // Der Enge zu, die uns allein beglücke.“ Und aus der „Belagerung von Mainz“: „Es liegt nun einmal in meiner Natur: ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen.“ Solches Ordo-Denken ist natürlich rein konservativ und mit nichts schönzureden. Wobei anzumerken bliebe, dass schon ein Versuch solcher Schönrednerei ausgesprochen albern wäre, weil die eine oder andere Etikettierung den Klassiker aus Weimar ohnehin nur verkleinern würde.

Was Willi Bredel jedoch ritt, das Zusammentreffen von Goethe und Napoleon in Erfurt, das zweite Treffen in Weimar verschweigt er völlig, in einen vollkommen falsch dargestellten Zusammenhang zu bringen, ist unerklärlich. Denn es handelte sich ja keineswegs nur um einen „Empfang“, den Napoleon „vor seiner Abreise nach dem spanischen Kriegsschauplatz seinen deutschen Vasallen“ gab, der Fürstentag in Erfurt hatte ganz andere, weiter reichende Bedeutung, unabhängig davon, wie weit Absichten und Ergebnis schließlich differierten. Die zweihundertste Wiederkehr der Ereignisse von September/Oktober 1808 vor nun auch schon wieder sechs Jahren brachte eine Vielzahl von Publikationen mit sich, die zweifellos beste, detailreichste, am lesbarsten geschriebene und auch umfänglichste Darstellung stammt von Gustav Seibt („Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung“, C.H. Beck, später auch dtv München). Ein kleiner Beitrag kam damals auch von mir, nachzulesen als WERTHER IN DER FELDBIBLIOTHEK in meiner Rubrik MEIN GOETHE, Erstdruck in der Erfurter Zeitschrift „Brücke“. Wir wissen anders als offenbar Bredel, dass Goethe schon einmal am Vortag seiner Audienz im Vorzimmer wartete, sein Quartier lag im so genannten Geleithaus nebenan, das der Weimarer Herrschaft gehörte. Auch kannte er den Raum, indem er Napoleon frühstücken sah und mit ihm reden durfte, aus früheren Zeiten sehr gut.

In der heutigen Thüringer Staatskanzlei sind die Räumlichkeiten erhalten, damit auch einigermaßen präzise rekonstruierbar, was geschah, man kann fast auf den Punkt genau sagen, wo Napoleon saß und stand, wo Goethe, wo die anderen, die zugegen waren. Schwieriger ist es bis heute mit dem Inhalt des Gespräches, das Bredel in seinem Aufsatz durch einfaches Zitieren der Goetheschen sehr viel späteren Niederschrift, abermals ohne die geringste Quellenkritik, vorführt. Bredel ließ sich vom Geheimnis jener Stelle im „Werther“, die von Napoleon mit Goethes Zustimmung kritisiert wurde, nicht zu Spekulationen verleiten, auch wenn er den Deutungsvorschlag Arthur Henkels (1915 bis 2005) noch nicht kennen konnte, den Gustav Seibt aus Henkels 1982 erschienenem Sammelband „Goethe-Efahrungen“ zitiert. Bredel setzt auf die Wahrheit der Goethe-Erinnerung, liegt darin, wie wir wissen, keineswegs falsch, bindet jedoch an den berühmten Napoleon-Satz „Die Politik ist das Schicksal.“ wiederum eine Genialitätsbehauptung über Goethe. Doch ging es in der mehrfach unterbrochenen Unterredung zwischen Napoleon und Goethe (Napoleon redete mehr, Goethe hörte mehr zu, so verliefen auch die Dialoge von Napoleon und Wieland in Erfurt und Weimar) eben nicht um die Rolle der Politik, sondern um Kunst, Literatur, vor allem Bühnenkunst.

Bredel braucht den Napoleon-Satz aus der angeblich genialen Goethe-Überlieferung jedoch zum Lob der Gegenwart in der werdenden DDR: „Wir mußten nach Goethes Tod erst mehr als hundert Jahre verpfuschten Daseins ertragen. ... Noch viel zu viele sind traurige Kirchturmspolitiker, die die Welt von ihren kleinlichen Gesichtspunkten aus beurteilen...“. Dieser Gegenwart galt auch ein anderer Bredel-Vortrag aus dem Jahr 1949, ebenfalls im Schweriner Staatstheater gehalten und dem Thema „Puschkin und Goethe“ gewidmet. Bredel, der viele seiner Exiljahre in der Sowjetunion verbracht hatte und dem deshalb eine gute Kenntnis Puschkins in der Originalsprache unterstellt werden darf, ging es an jenem 6. Juni mehr um die Popularisierung des Klassikers der russischen Literatur als um dessen Verhältnis zu Goethe. Vor allem deshalb wirken die Vergleichsaussagen bisweilen etwas angestrengt. Teilt er eben noch mit, dass Puschkin über Freunde aus dem Dekabristen-Umfeld (er nennt es nicht so) Klopstock, Wieland und Kant kennen lernte, heißt es wenige Zeilen später: „Indes Puschkins Leidenschaft und Begeisterung für Goethe und Schiller erlosch nicht.“ Von dieser Leidenschaft und deren Herkunft hatte er aber noch kein Wort verraten. Im Sinne von Gustav Seibt oute ich mich mit diesem Hinweis als Dilettant, denn diese zeichnen sich seinem Diktum zufolge durch die Neigung aus, „sich bei logischen Unstimmigkeiten aufzuhalten“. Wohl jedem Kritiker-Vollblut, das, wie Seibt auf der folgenden Seite von sich sagen kann: „Wir aber können hier ein Motiv erkennen...“. Mein Dilettantismus reicht mitunter so tief, dass ich mir den Pluralis Majestatis zugunsten eines eitlen Ich verkneife.

Warum spricht einer von Küchelbecker, Shukowski,  Kawerin, Lomonossow, Annenkow, Bodenstedt, Dante, Milton, Shakespeare, Byron, nennt aber Alexander Herzen mit Vornamen? „Bekannt ist, daß Goethe einem nach Petersburg reisenden Russen für den jungen Dichter Puschkin einen Gruß und als Zeichen seiner besonderen Zuneigung in einem prunkvollen Etui seine Schreibfeder mitsandte, die heute noch erhalten ist.“ Der ins Auge fallende Kontrast zwischen dieser Goethe-Freundlichkeit und seiner gleichzeitigen großen Distanz zu jungen deutschen Dichtern zwingt Bredel zu der Aussage: „Im Westen Byron, im Osten Puschkin, das waren Dichter, denen Goethe sich art- und wesensverwandt fühlte.“ Vor allem waren es Dichter, die Goethe uneingeschränkte Bewunderung entgegen brachten, was die jungen Deutschen dann doch eher vermissen ließen. Die Verse, die Goethe für Puschkin schrieb, verschweigt Bredel kurioserweise, sie lauten: „Was ich mich auch sonst erkühnt, // Jeder würde froh mich lieben, // Hätt' ich treu und frei geschrieben // All das Lob, das du verdient.“

Immerhin nutzt Willi Bredel seine Rede, um mit einem Nebensatz gegen plattes Verständnis von Volkstümlichkeit zu polemisieren, wie es damals sehr weit verbreitet war. Wie um seine gefühlte Kühnheit sogleich schlechten Gewissens wieder ins rechte Licht zu rücken, lässt er dann aber Puschkin nicht nur zum Zeugen echter Volkstümlichkeit werden, sondern auch zum Zeugen für eine 1949 und 1950 von der Sowjetunion her kommend geführte Debatte: „Formalistische Spielereien sind billiger Zeitvertreib und durchaus keine Kühnheit.“ Schließlich dient Puschkin als Kontrastfigur zu Goethe: „Zornsprühende Anklagen gegen die Niedrigkeit und Gemeinheit seiner Zeit wie diese finden wir bei Goethe nicht...“. Goethe habe, „als Ahnherr der deutschen Literatur, den Dichtern unseres Volkes vor allem seine betonte Zurückgezogenheit von gesellschaftlichen Problemen und Auseinandersetzungen“ hinterlassen. Inwieweit Willi Bredel hier in gleich mehreren Fällen von einer offiziell-offizösen Linie des geförderten Goethe-Bildes abwich, müsste im Detail erwiesen werden, dass  es so war, scheint auf der Hand zu liegen.


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